Seit Jahrtausenden sind Geschichten das Bindeglied zwischen Orten und Menschen. Besiedelt mit Geistern und Göttern, erhält die Eroberung eines Stück Erde einen Sinn, der an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Auch wenn die Gebiete längst ihren Besitzer gewechselt haben, halten Erzählungen die ursprünglichen Orte und ihre Bewohner lebendig. Eine Ausstellung in der Temporary Gallery Köln greift diesen Gedanken der Grenzen und Zeit überbrückenden Kraft von Geschichten auf, indem sie verschiedene Arten von Erzählungen als Mittel für Rückforderungen von Gemeinschaft und Territorien betrachtet. Im Zentrum von ,,A Sequence of Events in the Lives of the Dormant“ steht die Überzeugung, dass verlorene, unterdrückte oder verborgene Erzählungen wieder zusammengesetzt, nach- oder neu erzählt werden können. Eingebunden in die Reaktivierung des Strebens nach Wiederauferstehung formulieren diese Geschichten politische Impulse – unbesehen von ihrer realen oder fiktionalen Natur. In den künstlerischen Erkundungen wird sagenhaften, schamanistischen und mythischen Überlieferungen genauso nachgegangen wie psychologischen, biografischen und aktionspolitischen Narrativen. Dabei bewahren die Positionen immer eine Aura des Geheimnisvollen, welche den/die Betrachter*in in eine Welt entführt, die auf der Suche nach ihrem angestammten Ort in ihrer eigenen Zeit existieren zu scheint.
Anhand von raumgreifenden Videoinstallationen, Videopoesie, malerischen Zeichnungen und mit Talismanen arrangierten Audiarbeiten ruft Jumana Emil Abboud einen ganzen Kosmos palästinensischer Volkslegenden wach. Stets scheint die Künstlerin in den über mystische Bilder kommunizierenden Arbeiten auch ihre eigene Beziehung zu diesem kulturellem, in großen Teilen verschüttetem und durch politische und kriegerische Auseinandersetzung versprengtem kulturellem Erbe zu erforschen. Zu diesen Reisen durch eine imaginäre und trotzdem für ihre Gemeinschaft tiefe Verbundenheit signifizierende Welt nimmt sie den Betrachter*in mit, indem sie etwa ausgestrahlt auf dünnen, den Raum teilenden Leinwänden, Orte erforscht, die in den überlieferten Märchen angedeutet werden, und in deren Schönheit und Friedlichkeit der Natur eine Art ursprüngliche Magie weiterlebt (,,Maskouneh“ (inhabited), 2017/2020). In dem Video-Gedicht ,,I feel Nothing“ (2013) geht die Künstlerin einer Idee des Tatsinns nach, den sie, inspiriert von einem palästinensischen Märchen, von der Erfahrung von Gefühllosigkeit vom eigenen Körper aus auf das Erleben von Beziehungslosigkeit zu Land, Identität und Erinnerung erweitert. Begleitet von einer poetisch-metaphorischen Erzählung erscheinen mystische und rätselhafte Bilder zusammengesetzt aus alten, symbolischen und anatomischen Illustrationen und schwarz-weiß Filmaufnahmen, die auf alltägliche Umgebungsansichten und neu gefilmte Szenen stoßen. Besonders einprägend darunter ist etwa eine Kamerafahrt durch einen Raum mit antiken Statuen, welche die steinernen Körper betastende personenlose Händen verfolgt.
Die aus dem Schatz der palästinensischen Volkslegenden schöpfenden Zeichnungen der Serie ,,The upper spring and the lower spring“ kommen unter allen Werken Abbouds dieser rätselhaften Welt zwischen Wachsein und Traum, Mensch und Wesen, Phantasie und Überlieferung am nächsten. Menschen, Tiere und Fabelwesen scheinen gemeinsam in einer vage verschwommenen Welt ihren ineinander verknüpften Wegen und Schicksalen nachzugehen. Begleitet von einer Audio-Geschichte, fließt in die Zeichenserie die Erkundung des materiellen Ortes mit ein und deutet zentrale Begriffe der Erinnerung wie Rückkehr, Wiederholung oder Verklärung immer wieder neu. Abbouds Auffassung nach materialisieren sich Geschichten an Orten oder in Dingen, eine Überzeugung, die sie anhand einer Präsentation einer Reihe von natürlichen und hergestellten Objekten, Talismanen in Form von Knochen und bemalten Steinen und Märchenfiguren wie Löwenwesen mit Menschenkopf illustriert (,,Taleteller, Talisman, Tree and Stone“ (Abkürzung), 2016/2020) . Über diese Objekte erhalten die Erzählungen, welche man sich in Zusammenhang mit den Objekten anhören kann und in ein fernes und doch klar konturiertes Grenzgebiet zwischen eine Palästina als imaginierten und realen Ort führen, eine materielle Präsenz im Ausstellungsraum.
Yasmine Eid-Sabbaghs Foto- und Videoinstallation ,,Possible and Imaginary Lives“ (2012-2016) entwirft in einer Fusion von historischem Bildmaterial und Interviewausschnitten auf der einen Seite mit fiktionalen Elementen und Bildmontage andererseits die Methode der biografischen Erzählung neu. Der Mythos, weniger die Aufzählung tatsächlicher Ereignisse soll im Zentrum der Verfolgung des Lebens und Schicksals von vier irgendwann in den 1950ern oder 1960ern geborenen, wie es die Ästhetik der archivarischen schwarz-weiß Bilder verrät, palästinensisch-libanesischen Schwestern stehen. In der Geschichte, die dem/der Betrachter*in zunächst in nostalgischer Form einer Wand dutzender kleiner eingerahmten Fotomaterials von den Schwerstern als junge Mädchen und nicht klar lokalisierbarer Bilder aus ihrem Lebensumfeld und später anhand einer mit einer Tonspur kombinierten Diaprojektion präsentiert wird, lassen sich fiktive Elemente und reale Ereignisse nicht unterscheiden. Bei der Wiedergabe von Archivmaterial anhand von Jahrzehnte zurückliegenden Fotografien von Frauen aus dem mittleren Osten in einer recht modern, westlich erscheinenden Aufmachung und Milieu, ist nicht einmal eindeutig, ob es sich bei diesen vier Frauen und ihren Lebenswegen nicht selbst um eine Fiktion handelt. Die Tonspur aus Stimmen eines Gespräches älterer Frauen, die sich über die an die gezeigten Fotos geknüpften Erinnerungen unterhalten und manche dieser Bilder als ,,Montage“, den echten Moment nicht wiedergebend entlarven, wirkt nur potentiell als Aufzeichnung eines Interviews mit den ,,tatsächlichen“ Schwestern. Mögliche Eingriffe der Künstlerin erkennt man nur an einer Stelle: in den Aufnahmen mehrerer Personen verschwimmen die Silhouetten mancher Fotografierten geisterhaft, so als ob diese Personen möglicherweise nie in den Bildern existiert haben.
Ähnlich wie in Abbouds Ansatz spielt die Objekten inhärenten Geschichten und das subversive Potential von ausgesprochenen Überlieferungen auch in den Werken von Kristiina Koskentola eine entscheidende Rolle. Die Künstlerin setzt sich mit unterschiedlichen Modi der Wissensproduktion, der Subjektivität und des co-auktoriellen Handels durch spirituelle oder verdrängte Ökologien auseinander. In der Ausstellung ist sie mit einem Film über die territoriale Intersektion von Schamanismus und Umweltverschmutzung in der Inneren Mongolei und Mandschurei sowie einer Reihe von sakral arrangierten Objekten präsent. In dem Film ,,FLESH AND METAL, LIGHT AND OIL“ (2020) wechseln sich in einer von Distanz zu Intimität wechselnder Perspektive starre Bilder trister und öder, auf Grund des Eingriff des Menschen durch die Schwerindustrie und den Bergbau zerstörter und verfremdeter Landschaften mit Aufnahmen von Ritualen der schamanischen Religion der Mongolei ab. Untermalt mal durch Trommeln und Gesang, mal durch elektronische Klangbilder und wissenschaftlichen Unterrichtungen über den Rohstoffreichtum der Region, verfolgt Koskentola die Erde, Geister und die Menschen gleichermaßen mit einschließenden Heilungsrituale der Schamanin Liu aus äußerster Nähe. Die filmische Begleitung, während derer sich die Künstlerin einem eigenen Heilungsprozess unterzog, ist auch der Versuch der Aufzeichnung eines alternativen Wissens, welches jenseits der menschlichen Rationalität innerhalb all der Umweltzerstörung und des Landraubs einen sichtbaren wie unsichtbaren Dialog zum verletzten Boden und seiner ursprünglichen Geschichten unmittelbar aufrechterhält. Eine potentielle narrative Aura von Heiligkeit und spiritueller Besetzung tragen auch die Objekte von ,,About Rationality I-V“ (2016), unter denen sich neben im Kreis sich gegenseitig zugewandte arrangierte Betonabgüsse von Schädeln auch Steine, Asphalt, Kristallkugeln und -stücke sowie Federn und Abgüsse von Schafwirbeln befinden. Durch die Präsentation mit einem eine Prise gesegneten Sandes aus der Inneren Mongolei beinhaltenden Glaskästchens formulieren die Objekte einen geistigen Bezug zu der Filmarbeit, gleichzeitig strahlen sie auch eine machtvolle Ortspräsenz auf, deren Wirkung man sich nicht entziehen kann.
An innere, seelische Orte und die in ihnen verborgenen Geschichten begibt sich Danie Meyer mit ihrer Exploration der Narrative Exposure Therapie (NET), einem Verfahren, welches erzählerische Methoden nutzt um an Traumata vorzustoßen, aber genauso in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen oder der Verbindung von Gemeinschaften verwendet wird. Grundlage der Therapie ist der ,,Lifeline“-Ansatz, der biografische Ereignisse in ihrer Wirkung und Besetzung identifiziert und in eine chronologische Reihenfolge bringt, die unter enger therapeutischer Führung erneut durchlebt wird. Trotzt des wissenschaftlichen Ansatzes der vielfach praktizierten NET, mit dem sich der/die Betrachter*in anhand auf einem Tisch auslegender Grundlagenlektüre und einem von Meyer inszenierten Videoseminar über die Therapiemethode eingeladen ist auseinanderzusetzen, scheint die Methode mit ihrem Insistieren auf die Exploration des Verborgenen sich im Kern eines nicht weniger imaginär-beschwörenden Potentials zu bedienen, als die mystischen, teilfiktiven oder schamanistischen Erzählungen aus den Werken von Abboud, Eid-Sabbagh und Koskentola. Mit einem festen therapeutisch definierten Repertoire aus auslegenden Gegenständen wie einem Seil, Blumen, Holzstücken und Kerzen die Erlebnisse je nach ihrer positiven oder negativen Besetzung markierend, zeigt Meyer, wie die NET zur Anleitung, seine persönliche seelische Überlieferung zu konstruieren, ihren eigenen symbolischen Kosmos schafft.
Diese Macht von Erzählungen, im Berichten zu erfinden und durch Erfindung zu berichten, nutzt auch die sich in verschiedenen Medien von bildender Kunst, Musik und politischem Aktionismus bewegende, oft in Kooperation in zeit- und ortsspezifischen Projekten arbeitende Künstlerin Melissa E. Logan. Anlehnend an die subversive Kraft der Musik und des Tanzes und historisch inspiriert durch das sogenannte amerikanische Cabaret-Gesetz, im Jahr 1926 unter dem Vorwand der Sittenlosigkeit dazu erlassen, damals als Schauplatz ungewünschter rassenüberquerender Durchmischung geltende Tanzclubs zu schließen, ist ,,Dance Party“ ein Aufruf zu sozialem Ungehorsam durch kreative Songproduktion und Tanz. Unter dem Slogan ,,Das Beste an der Zeit jetzt?“ wird dem/der Besucher*in die Möglichkeit gegeben, auf energisch rote Papierseiten die eigenen Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, welche Logan anschließend in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Orkun Turk zu Liedtexten zusammenstellt und als Songs in mehreren Sprachen auf Soundcloud hochlädt. Popsongs mit ihrem Potential, ein großes Spektrum von Erzählungen aufzunehmen – individuell, intim, banal, kollektiv, autobiografisch, fiktiv- erhalten in Logan’s Koproduktion mit den Besucher*innen die Funktion eines Fensters zum Innenleben, das sich in diesen Zeiten viel zu sehr im Verschlossenen abspielt.
Da Erzählung und Schriftform nun mal eng zusammenhängen, ist es eine konsequente Entscheidung der Ausstellungsmacher*innen, auch Schriftwerke mit in die Ausstellung hineinzunehmen. Und natürlich haben diese Publikationen einen aktionistischen Ansatz, indem diese offene, die Leser mit einbeziehende Narrative eigens dafür entwerfen, um Formen von Gemeinschaft zu (re)aktivieren. Die frei zum Mitnehmen auslegende Publikation ,,It Tastes Like Ashes – Gratis Kritik“, ein ausfaltbares Heft mit Rezensionen über die Kölner Gastro-, Kunst und Partyszene, verdeutlicht erneut, dass Narrative nicht hoch angesetzt oder vom einem komplexen erzählerischen Erbe ausgehen müssen, um ihre gemeinschaftsstiftenden Potentiale zu entfalten. Einfache, intuitive und mit einer deutlichen Prise von Humor und Ironie verfasste Bewertungen die häufig skurrile oder markante persönliche Erfahrungen von Restaurant- und Imbissabstechern sowie Galeriebesuchen wiedergeben, erschaffen in der Reihe der ,,Gratis-Kritik“ so etwas wie einen geteilten erzählerischen Erlebnisraum. Das ,,In-Köln-Leben“ von Mitgliedern aus der Kreativ-Szene wird in eine narrative Struktur eingefasst, welches Teilhabe, Nachahmung, Zustimmung oder auch Kritik erlaubt und so aus der fragmentierten Erfahrung Einzelner in eine manifeste und tradierbare Form übersetzt, welche ähnlich wie in Logan’s ,,Dance Party“ Projekt Grenzen zwischen Innen- und Außenstehenden, Produzenten und Rezipienten, auflöst.
Als Entwerferinnen einer interaktiven und multidisziplinären Matrix aus Ansätzen der Quantentheorie und afrokultureller spiritueller Vorstellungen, welche konkrete Tools für das Ausbrechen aus linearer autoritärer Zeitlichkeit bereitstellt, bewegen sich die Afroamerikanerinnen Camae Ayewa und Rasheedah Phillips mit ihrer Platform des Black Quantum Futurism innerhalb einer ähnlichen Kreuzung aus Erzählung, gemeinschaftlicher Praxen und Gruppenbewusstsein. In der Temporary Gallery vertreten durch eine Reihe von Publikationen, bildet das künstlerische und recherchebasierte Mittel aus Schrift, Musik, Film, bildender und sozial engagierter Kunst synthetisierende Künstler*/Aktivistinnen Kollektiv eine über mehrere Kanäle wie Workshops, Musikprojekte, Kurzfilme und eine interaktiv gestaltete Website zugängliche Aktionsbühne. Kennzeichnend für die Arbeits- und Wirkungsweise des Black Quantum Futurism ist eine afro-galaktisch anmutende ästhetische Erzählform, die in einer Mischung aus ethno-traditionell besetzten bildlich-narrativen Strängen einerseits und um Marker der afroamerikanischen Populärkultur erweiterten, physikalisch-astrologischer Symbolik andererseits, emanzipatorischen Initiativen trägt.
Die Videoarbeit ,,Day in the Life“ des Karrabing Film Collective (2020), einer Grassroots-Mediengruppe in den Northern Territories Australiens, welche das Filmemachen als Mittel zur Selbstbehauptung und Reflektion nutzt, knüpft im Prinzip an dieses narrative Mittel der entkoppelten, in ein neues Netz von Sinnbezügen eingespeisten Zeitlichkeit an. Hier schaffen sich indigene, in Reservat-ähnlichen isolierten Communities lebende Jugendliche aus Quellen der Mythen ihrer Vorfahren und dem Musikstil des Rap und Hiphop eine eigene, Kulturen und Zeiten überbrückende Story zur Bewältigung der Gleichgültigkeit, die ihrer Existenz von vielen Seiten her entgegenkommt. Archivaufnahmen von der ,,westlichen“ Zwangserziehung von Aborigines-Kindern und dazu geschnittenes Audiomaterial aus den Medien zeigen gemeinsam mit eindringlichen Milieustudien des ärmlichen und einsamen Lebensumfeldes der Community, dass die Gemeinschaft sich seit der Politik der Wegnahme von Kindern weiterhin in einer Auslöschung befindet. Spürbar durch ein in den Aufnahmen schwelendes Gefühl des Verlassenseins, erscheinen Perspektivlosigkeit und ungesunden Lebensumstände wie schleichende natürliche Vernichtungsmittel. Diese Ohnmacht scheint an den über ihre ständig gezückten Smartphones mit dem Außerhalb des Ghettos und seiner populär-kulturellen Welt vernetzten Jugendlichen abzuprallen. Als Clique stehen sie loyal zueinander, zu sich selbst und der Gegenwart, der sie angehören, aber auch zu ihren Ahnen, für die sie in die Wildnis aufbrechen und sich mit ihrem Geist zu verbünden in ihrem Kampf gegen die Nichtigkeit, über die sie sich selbst längst hinweg bewegt haben.
In ihrem Bestreben, erzählerische Mittel zur Wiedereroberung territorialer, ideeller, äußerer oder innerer Gebiete zu finden, durchkreuzt ,,A Sequence of Events in the Lives of the Dormant“ innerhalb eines Spektrums globaler, von postkolonial bis gesellschafts-aktionistischen Ansätzen reichender Positionen stetig die Grenzen zwischen Fiktionalem, Überliefertem und Biographischem, Psychologischem, Geologischem und Politischem. Eine Gewichtung zwischen den verschiedenen Formen von Narrativen gibt es nicht, in der Methode der Erzählung erscheint alles gleichermaßen wahr und berechtigt. Macht das die Ausstellung banal? Von dem Besuch von ,,A Sequence of Events in the Lives of the Dormant“ bleibt vor allem dieses eine entscheidende Schlüsselmoment im Gedächtnis: Die Realität kann man untersuchen, akzeptieren, versuchen zu verstehen. Doch man kann nicht an sie glauben – an Geschichten schon. Denn Träumenden vertraut man.