Expect the Unexpected - Aktuelle Konzepte für Fotografie —Kunstmuseum Bonn

„Digitale Fotografie hat auch etwas Unheimliches“. Wie lässt sich diese Aussage des Künstlers und Professors für Fotografie Michael Reisch mit der glitzernden Welt zusammenbringen, die uns digitale Bildtechnologien heute in Kunst und Alltag eröffnen? Unendliche Knippserei mit dem Handy, die Überflutung von Internet und Social Media mit Bilddateien und Möglichkeiten der Bildbearbeitung, gegenüber denen Photoshop alt aussieht – doch das ist eben nur die Oberfläche. In der Ausstellung Expect the Unexpected. Aktuelle Konzepte für Fotografie, die im Moment im Kunstmuseum Bonn zu sehen ist, möchten die Kurator*innen Michael Reisch und Barbara Scheuermann, Kuratorin für Gegenwartskunst und Sammlungsleiterin Grafik und Medienkunst, hinter diese Ebene der Erscheinung schauen und die Betrachter*innen einladen, ein Stück in die Matrix digitaler Bildwelten einzutauchen.

Anhand einer sorgfältig selektierten Auswahl von neunzehn Künstler*innen, die sich in der Herstellung ihrer fotografiebasierten Werke verschiedener digitaler Tools und Programme bedienen, versuchen die Kurator*innen eine differenzierte Perspektive auf das zu eröffnen, was geläufig unter digitalen Bildverfahren im Kunstbereich bekannt ist. Auf ästhetischer Ebene bietet Expect the Unexpected dabei viele Überraschungsmomente, die immer wieder darüber nachdenken lassen, wie weit und wohin wir in diesem scheinbar unbegrenzten Feld eigentlich gehen wollen.

Entgegen der Erwartung, die man mit KI- oder datenbasierter Kunst potentiell verbindet, wirken die Werke der Ausstellung nicht künstlich. Vielmehr verbinden sich High-End Technologie und menschengesteuerte künstlerische Prozesse auf eine Weise, die den Positionen eine flirrende und glänzende, häufig aber auch unstete und irritierende Anmutung verleihen. Was in diesen Momenten von Anfang an in den Fokus gestellt wird, ist jedoch nicht der vielzitierte Gegensatz Mensch vs. Maschine. Eher betrachten die Kurator*innen, in welchen graduellen Verhältnissen die Künstler*innen in der Herstellung ihrer fotografiebasierten Arbeiten mit computergesteuerten Programmen zusammenarbeiten. Von diesem Punkt an steigt die Spannungskurve der Ausstellung.

In Expect the Unexpected interagieren Künstler*innen mit digitalen, computergestützten Verfahren der Bildgenerierung auf eine beinahe symbiotische Weise, in der kein Bild ohne den Beitrag der anderen Partei entsteht. Indem den Prozessen entweder fotografisches Material zu Grunde liegt oder sie sich an fotografischen Prinzipien orientieren, kommen zudem auch die ausgefeiltesten Strategien nicht ohne den Bezugsraum aus, welche die analoge Fotografie ihnen einst eröffnet hat. Wie Luftblasen vom Grund eines Ozeans steigen feine weiße Striche in den tiefschwarzen Tintenstrahldrucken von Susan Morris an die Oberfläche empor. Die weißen Linien, die den stark fotografisch wirkenden Drucken ihre ephemeren Atmosphäre verleihen, wurden mit einer Actiwatch aufgezeichnet, einem Vorläufer von Fitness Tracking Devices, der die Bewegungen der Künstlerin vor einer Leinwand in ihrem Studio registriert hat. Mit ihrem Verfahren, das Daten 1:1 in ein Abbild überführt, kommt Susan Morris damit auf die Idee der Indexikalität zurück, der exakten und eindeutigen Wiedergabe der Realität im fotografischen Prozess; ein Begriff, der üblicherweise nicht mehr mit der digitalen Fotografie in Verbindung gebracht wird.

In den Skulpturen aus Karbonfaser von Spiros Hadjidjanos, in denen sich hellgraue pflanzenartige Strukturen aus dem dunklen Hintergrund hervorschälen, spielt die analoge Fotografie ebenfalls eine große Rolle. Denn die 3D-gedruckten Objekte basieren auf fotografischen Vorlagen aus Karl Blossfeldts Werk Urformen der Kunst (1928), deren Bildmerkmale er in Datenpunkte übersetzt, aus denen ein Programm dann die Modelle für den 3D-Drucker liest. In ihrer Gestalt beziehen sich die Fabrikate auf genau die analogen Bildwerte, die das fotografische Grundmaterial ihnen vorgibt. Die Begriffe der Übersetzung und der Transformation werden somit für eine ganze Reihe von Künstler*innen zu zentralen Ankerpunkten ihrer Anwendung von Programmen der Bildbearbeitung- und Generierung. In Expect the Unexpected wird anhand dieser Positionen sowohl die geläufige Idee eines antagonistischen Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine als auch die gänzliche Verdrängung der analogen Fotografie in Frage gestellt.

Weil sie die abstrahierende Qualität dieser Tools schätzt, füttert auch Victoria Pidust verschiedene Computerpogramme, die Bilder scannen und in 3D-Modelle umwandeln, mit von ihr angefertigtem und ausgewähltem digitalem Bildmaterial. Mit Hilfe der Software erstellt die Künstlerin malerische und farbintensive Installationen, in denen die ursprünglichen Bilder ihre Referenz zur Realität weitgehend verloren haben und an deren Stelle nun ein völlig neuer ästhetischer Kosmos entsteht.  Simon Lehner zieht private Fotos aus dem Familienalbum heran, die er anhand mehrerer digitaler Werkzeuge zu einer alternativen Geschichte seiner Kindheit variiert und verzerrt. Ein von einem 3D-Drucker transformiertes Bild von einer jungen Frau mit einem Neugeborenen auf der Brust in Form eines Reliefs aus unzähligen spitzen Acrylzacken konkretisiert oder löst sich je nach Blickwinkel auf. In seiner Arbeit hebt Simon Lehnert diesen Verfremdungseffekt digitaler Tools jedoch gar nicht so sehr hervor. Vielmehr sieht er fruchtbare Parallelen zwischen den endlosen Kreationsoptionen des digitalen Raums und der unendlichen Schaffenskraft des menschlichen Gedächtnisses, denn in beiden Fällen kann Erinnerung immer neu erschaffen werden.

Zusammen mit Victoria Pidust und Simon Lehnert streben viele der Künstler*innen nicht nach Perfektion oder nach der Übergabe sämtlicher Prozesse an Algorithmen. Was sie interessiert, sind die Fehler, welche die Programme regelmäßig in Form sogenannter „Glitches“ oder „Memory Gaps“ produzieren. An dieser Stelle wird deutlich, dass die digitalen Tools eben nicht von sich aus Neues hervorbringen, sondern immer von der Fütterung mit Material abhängig sind, das sie häufig nur bis zu einer bestimmten Grenze korrekt erfassen und wiedergeben können. Auf Grundlage von Ansichten auf Google Earth hat Achim Mohné per Photogrammetrie ein materielles und virtuelles 3D-Modell des Kunstmuseums Bonn und seiner Umgebung erstellt, das auf eine faszinierende Weise völlig verschwommen und fehlerhaft ist. Die immersive Reise beinhaltet teils bekannte Strukturen, lässt aber auch riesige Lücken und völlig neue Gebilde erscheinen. Mit seinem Transfer von Bilddaten macht Achim Mohné auf die eigentlich simple Darstellungstechnik von Google Earth aufmerksam, die allein auf montierten 2D Aufnahmen beruht, deren Authentizität dennoch allgemein nicht bezweifelt wird.

Bestechend lebendig, aber dennoch leicht unscharf sind auch die Tulpen auf drei Bildschirmen von Anna Ridler, die sich in Großansicht öffnen und schließen. Was man in den Videos sieht, sind nicht unbedingt Tulpen in naturalistischer Form, sondern das Verständnis, was eine Künstliche Intelligenz (KI), welche die Künstlerin mit tausenden Fotografien von Tulpen gespeist hat, von diesen Pflanzen entwickelt hat. Der Rhythmus der Pflanzenbewegungen ist dabei von den Kursschwankungen des Bitcoin abgeleitet, als Verweis auf die spekulative Tulpenmanie im 17. Jahrhundert und die enge Verschränkung zwischen Kapitalismus und Bildalgorithmen allgemein, mit denen Konzerne wie Facebook und Google unser Leben steuern.

Auf ganz ähnliche Weise arbeitet auch Jon Rafman mit den Unvollständigkeiten und Übersetzungsfehlern von Programmen der Bildgenerierung, indem er über einen sogenannten CLIP Algorithmus künstliche Bilder erzeugt, die sich aus der Eingabe erfundener Texte nähren. Diese sich aus einem unendlichen Open-Source Fundus speisenden Bilder, welche der Künstler auf einem eigenen Instagram-Profil hochlädt, sind in den meisten Fällen groteske Kompilationen von Menschen, Tieren und Dingen, die keinen Zweifel an ihrer Künstlichkeit aufkommen lassen. Doch gerade dadurch, dass sie nicht real sind, weisen diese Aufnahmen in der Masse auf einen sich rasant ausweitenden Graubereich hin, innerhalb dessen KI-erzeugte Bilder „echten“ Fotografien langsam in nichts mehr nachstehen.

Jon Rafmans Position leitet zu einer wichtigen Frage über, welche die Ausstellung an verschiedenen Stellen immer wieder aufwirft: sind wir als Gesellschaft diesen ganzen neuen digitalen Technologien überhaupt gewachsen? Einen wichtigen Punkt macht hier Heather Dewey-Hagborg, die das Genom des Molekularbiologen und Entdeckers der DNA James Watson, welches durch ihn 2007 als erstes vollständiges menschliches Genom überhaupt veröffentlich wurde, heranzieht, um mittels des Verfahrens der Bio-Visualisierung mögliche Porträts des Forschers zu entwerfen. Zwei 3D-Drucke und ein holographisches Video von Gesichtern machen darauf aufmerksam, dass die heute lückenlos dechiffirerbare menschliche DNA sich nie auf einen eindeutigen Phänotyp reduzieren lässt. In der Polyvalenz von Bilderzeugungs-Softwares sieht die Künstlerin somit ein Mittel, rassistischen, sexistischen oder homophoben Theorien entgegenzutreten, die auch von Watson selbst befeuert wurden.

H andelt es sich hier noch um Fotografie oder nicht? Anstatt solcher kategorischen Überlegungen stellt Michael Reisch zusammen mit einer Gruppe Künstler*innen im Rahmen der Arbeits- und Diskursplattform darktaxa-projects die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit den digitalen Bildtechnologien in den Vordergrund. Künstlerischere Strategien dienen als Vehikel, um ein erhöhtes Bewusstsein für die Funktionsweise dieser Programme zu erzeugen und so mehr Transparenz zu schaffen. Einen Ausblick in zukünftige Formen der Anwendung von digitaler fotografischer Software bieten anknüpfend die Students‘ Reels, fünfundzwanzig Kurzfilme von Studierenden und jungen Künstler*innen. In den Arbeiten der Digital Natives bemerkt man einen intuitiven Umgang mit computergestützten Technologien der Bilderzeugung, häufig an der Schnittstelle zu Social Media und Selbstdarstellung. Und dennoch sind die Präsentationen durchgängig von einer kritischen Auseinandersetzung mit den Programmen geprägt, die Schwachstellen und Widersprüche deutlich offenlegen. Eine Kontrolle künstlerischer Schaffenskraft durch Algorithmen findet man hier (noch) nicht.

Expect the Unexpected. Aktuelle Konzepte für Fotografie ist folglich nicht einfach nur eine Ausstellung über das Neuste auf dem Gebiet der fotografiebasierten Kunst. In ihren Werken erproben die Künstler*innen Konstellationen von menschlicher Steuerung und künstlicher Intelligenz, nicht allein um eine bestimmte Ästhetik zu erreichen, sondern auch um zu zeigen, wie sich das Prinzip der kreativen Autor*innenschaft langsam verlagert. Während dies in der Kunst bereits für große Aufregung sorgt, wird doch oft vergessen, dass in vielen alltäglichen Bereichen die Manipulation und Augmentation von Bildmaterial durch dieselben Programme und KIs, wie sie in Expect the Unexpected angewendet werden, bereits unser Verhalten als Wähler*innen und Konsument*innen steuert. Den Kurator*innen gelingt es so, die Berührungsangst zu digitalen Tools zu senken, ohne das man als Betrachter*in in eine naive Akzeptanz geleitet wird. Denn wie Michael Reisch zurecht mit seiner Empfindung von der unheimlichen digitale Fotografie andeutet, bergen nicht die Technologien an sich, sondern die menschliche Tendenz, die  Skepsis vor ihnen zu verlieren, die größte Gefahr.

http://www.darktaxa-project.net/projects/

https://www.kunstmuseum-bonn.de/de/ausstellungen/expect-the-unexpected/

Baron Lanteigne manipulation 3, 2021. Video on Screen, Loop  |  © Baron Lanteigne

Beate Gütschow HC#4, 2018. C-Print  |  Courtesy die Künstlerin und Produzentengalerie Hamburg © VG-Bildkunst, Bonn 2023

Michael Reisch Ohne Titel, 2018–2023 Installation, 375 x 500 cm, AI-generated video, loops on 14 tablets  |  Courtesy of the artist

Oliver Laric Hunter and Dog, 2020. Polyurethan, Pigmente, Aluminiumgestell  |  Courtesy der Künstler und Tanya Leighton, Berlin/Los Angeles © Oliver Laric

Jon Rafman Gamer Girl, 2022, from instagram.com /@ronjafman  |  Courtesy der Künstler und Sprüth Magers, Berlin © Jon Rafman

Simon Lehner First ever (mom and me), 2020. Acrylic on unique lens-based wood plate 150 x 150 x 30 cm  |  Courtesy of the artist and KOW Berlin