Mercedes Azpilicueta – Barockes Flüstern —Sammlung Philara

Die historische Vergangenheit im Rahmen der zeitgenössischen Kunst anzusprechen, erweist sich oft als Herausforderung. Denn schließlich ist es nicht damit getan, Dinge einfach „nochmal“ abzubilden. Zudem hat sich das Repertoire an Ausdrucksformen  so weit diversifiziert, dass oft kein klares Vokabular für Rückverweise auf Geschichtliches vorhanden ist. Die argentinische Künstlerin Mercedes Azpilicueta (geboren 1981 in La Plata, lebt und arbeitet in Amsterdam), die zur Zeit in der Sammlung Philara in Düsseldorf zu sehen ist, beruft sich auf die Metapher des Verknüpfens, um in ihren Arbeiten verschiedene Erzählungen der Vergangenheit neu miteinander zu verbinden. Neben Video, Performance, Skulptur und Zeichnung bewegt sie sich dabei vor allem in textilen Medien, denen die Strategie des Knüpfens immanent ist. Die Neukonstellationen von Personen und Ereignissen, welche die Künstlerin anfertigt, haben aus verschiedenen Perspektiven – populärkulturell, dekolonial, feministisch oder queer – einen starken Bezug zur Gegenwart. Während Mercedes Azpilicuetas Arbeiten altertümliche und barocke Formen des Erzählen und Darstellen aufgreifen, sind ihre Werke gleichzeitig ein Appell, starre Geschichtsmodelle zu durchbrechen.

Mercedes Azpilicueta, der das erste Mal in Deutschland eine Einzelausstellung gewidmet wird („Barockes Flüstern | Susurros Barrocos“) , dringt so in einen künstlerisch noch weitgehend unerschlossenen Bereich vor. Sie untersucht historische Aufzeichnungen nach dem Potential für gesellschaftliche Veränderung und Emanzipation, das in ihnen verborgen liegt. In der zwölf Meter langen und mehrere Meter hohenTextilinstallation Potatoes, Riots and Other Iamginaries (2021), die im Jacquard-Verfahren in einem eigens dafür spezialisierten Labor im niederländischen Tilburg gewebt wurde, hat die Künstlerin eine Form gefunden, transhistorische Erkundungen zu verbildlichen. Die Arbeit greift das Format mittelalterlicher Wandteppiche mit ihren  erzählerischen Bildern auf. Als imposante Collage aus historischem und zeitgenössischem Bildmaterial thematisiert Potatoes, Riots and Other Iamginaries die sogenannten „Kartoffelaufstände“ während des Ersten Weltkrieges in Amsterdam, in denen Arbeiterinnen eine gerechte Verteilung der Lebensmittel einforderten.

Historische Fotografien dieser Kämpferinnen werden ergänzt und vervielfältigt mit Bildern und Symbolen von gegenwärtigen  Protestbewegungen wie den #Niunamenos, die gegen die vielen unaufgeklärten Femizide in Lateinamerika protestieren, und die Bewegung der pañuelos verdes (übersetzt: „grüne Halstücher“), deren Anhänger*innen für freie Reproduktionsrechte auf die Straße gehen. Diese zivilcouragierte Ausrichtung der Textilinstallation, die ebenfalls ein Spiegel des persönlichen politischen Engagement der Künstlerin ist, ist in einen überwältigenden Strom von Bildern aus flirrenden Farben eingewoben. Ermöglicht durch die Vielzahl der Garn-Verwebungen des Jacquard-Verfahrens, nehmen die übereinander gelagerten Abbildungen den Blick wie eine vorüberziehende Digitalcollage ein, in der alles gleichzeitig passiert. Mercedes Azpilicuetas Arbeit hat so zwei Komponenten, eine visuelle, spielerische auf der einen und eine programmatische auf der anderen Seite, wo feministische Protestkultur in Form eines affirmativen Banners über die Jahrhunderte und Ländergrenzen hinweg festhalten wird. Beide Aspekte vermitteln sich über eine große Sinnlichkeit, die ein zentrales künstlerisches Element in ihren Arbeiten darstellt.

Reizvolle Texturen kennzeichnen auch andere, in reinem Weiß gehaltenen Textilarbeiten, die aus einfachen Stoffen sowie günstig verfügbaren textilen Objekten genäht sind und rings um die Installation verteilt sind. Obwohl die Stücke wie Fantasiegebilde erscheinen, sind sie für bestimmte Funktionen entworfen, da in ihnen Kleidungsstücke und Accessoires miteinander vernäht sind, die während Demonstrationen getragen werden und sowohl auf Leichtigkeit, Flexibilität aber auch Schutz ausgerichtet sind. Diese Arbeiten zeigen gleichzeitig, wie wichtig die Gedanken des Kollektivs und des kollektiven Arbeitens für die Künstlerin sind. In ihren Werken versucht Mercedes Azpilicueta stets größere Gruppe miteinzubinden, entweder im Produktionsprozess oder als Adressaten. Verbunden mit dem gemeinschaftlichen Anspruch ist eine Arbeitsweise, die bewusst High- und Low-Tech integriert.

Diesen Prinzipien folgend, entwickeln sich die Werke im Folgenden in abzweigende Richtungen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Der Gedanke des Kollektivs etwa kehrt in der Videoarbeit Mama’s Casting A Spell (2019) wieder. Das Video verfolgt Tänzerinnen im Königlichen Botanischen Garten in Madrid dabei, wie sie durch Berührungen und unter Einsatz verschiedener prothetischer Hilfsmittel versuchen, mit den exotischen Pflanzen, Abkömmlinge kolonialer Herrschaft, in Kontakt zu kommen. Dazwischen werden Aufnahmen aus einem Labor des Gartens gezeigt, in der die Künstlerin sich in der Herstellung eines roten Farbstoffes aus Blattläusen schulen lässt. Die Videoarbeit beschäftigt sich mit Pflanzen und ihrer Rolle in globalen Wissensökonomien, ist aber gleichzeitig durch die Wiederbelebung einer alten Färbetechnik wieder an die Gemeinschaft gerichtet. Anhand zarter künstlerischer Gesten eröffnet Mercedes Azpilicueta in ihren Werken somit neue Handlungsoptionen, die über die reine ästhetische Botschaft hinaus vor allem Anwendbarkeit anstreben.

Diese praktische Komponente findet sich ebenfalls in den Textilarbeiten der Serie Kinky Affairs at Home (2022) wieder, die aus aufgewerteten Kleidungsstücken, Kunsthaar und Fetisch-Materialien bestehen und in ihrer Struktur etwa eine Babytrage und ein SM-Mieder kombinieren. Die Textilarbeiten weisen auf die verschiedenen Zwänge hin, denen der Körper unterworfen ist und die durch Kleidung sowohl verstärkt als auch gesprengt werden können. In diesen Werken lässt die Künstlerin noch ein weiteres kunsthistorisches Interessengebiet einfließen: das Zeitalter des Barock und die Bedeutung des Körpers in dieser Epoche. Innerhalb dieses Themenkomplexes, den Mercedes Azpilicueta über den ursprünglichen historischen Zeitraum hinaus weiterentwickelt, rückt sie insbesondere eine Persönlichkeit ins Schlaglicht. Im 16. Jahrhundert gelang es der spanischen Adligen Catalina de Erauso (1592–1650) einem Nonnenkonvent zu entfliehen und mittels männlicher Verkleidung zum Conquistador in Südamerika aufzusteigen, wo sie für ihre Brutalität bekannt war. Mercedes Azpilicueta hält diese Geschichte in einer schillernden Collage aus barocken Bildzitaten über diese ambivalente Figur fest, die erneut als luxuriöser Teppich gewebt ist (Abya Yala (Tierra Madura), Bondage of Passions, 2021). Als Mittel der queeren Transformation erfährt barocker Stil hier eine Neudeutung und wird für die Gegenwart greifbar und nutzbar gemacht.

Die Überlegung, in welcher Hinsicht die wuchtig-pathetischen Ausdrucksformen und Gebärden des barocken Zeitalters noch für unsere Gesellschaft Aufschluss bieten, entwickelt Mercedes Azpilicueta so zu einem eigenen Gedankenspiel. Damit entwirft sie einen alternativen Umgang mit der Vergangenheit, der sich vom etablierten synchronistischen Geschichtsmodell distanziert, das nie gleichzeitig nach vorne und hinten blickt. Die alttestamentarische Erzählung über die Enthauptung des Holofernes durch Judith, die 1620 von der Künstlerin Artemisia Gentileschi (1593–1654) in einem enigmatischen Gemälde festgehalten wurde, deutet Mercedes Azpilicueta als emanzipatorische Geste. In einer Videoarbeit spekuliert die Künstlerin in der unterlegten Erzählerstimme über die möglichen Anregungen, die der barocke Gestus für die queere Identitätssuche bereithält (Cuerpos Pajáros (Body Birds), 2018). Das Video kombiniert diese Überlegungen mit intimen, leisen Bildern von jungen Menschen, die sich an einem ungewissen Punkt irgendwo auf dem Weg zur Behauptung der eigenen Identität befinden und erneut von einer Tänzer*innengruppe dargestellt werden.

Feministisch, aktionistisch, transhistorisch – Durch seine vielen Schwerpunkte lässt sich Mercedes Azpilicuetas Werk, das sich auch auf der Ebene der verwendeten Medien nie eingrenzen lässt, nicht einfach in eine Formel fassen. Eine Gemeinsamkeit liegt jedoch in der spielerischen Poesie, die erlaubt, dass sich auch längst vergangene Ereignisse aus verstaubten Archiven heraus aufgreifen und umdeuten lassen. Und anscheinend ist diese Wiedergabe frei nach dem eigenen Empfinden erlaubt, so lange sie poetisch – also wohlformuliert oder, wie es die Künstlerin selbst formuliert, „zart“ ist. Diese Zärtlichkeit ist das wesentliche ästhetische Instrument der Künstlerin, um die zeitübergreifenden Verknüpfungen zu erschaffen. Womit sich der Kreis schließt zurück zu ihrem favorisierten Ausdrucksmittel: dem Textilen. Wie diese Verbindungen gelingen, illustriert eine in der Mitte des Raumes hängende, Blutrot gefärbte textile Figur aus drapierten Filz, die in der Form an das Organ des Herzens erinnert und mythische Gestalten nachempfindet, die auf die Rückseite der Natività („Geburtsschale“) di San Giovanni Battista (1526) gemalt sind (Hommage al reverso de Natività di San Giovanni Battista, 2019).

Kunsthistorische Verweise erhalten so eine völlig neue Facette, indem nicht das korrekt wiedergegeben Zitat zählt, sondern das intuitive Verständnis zum wesentlichen Prinzip der Wiederverwendung wird. In Analogie zum Titel verrät „Barockes Flüstern“  nur einen Teil der breitgefächerten Gebiete, in denen sich Mercedes Azpilicueta als stark kollektiv und performativ arbeitende Künstlerin bewegt. Und vielleicht gefällt das Barocke der Künstlerin auch so gut, da man den Begriff heute längst im übertragenen Sinne verwendet. So kann mit „barock“ auch „seltsam“, „überladen“ oder „bizzar“ gemeint sein. Aus dieser Sicht findet der Titel „Barockes Flüstern“ zuletzt eine erstaunlich präzise Formel für Mercedes Azpilicuetas vielfältiges Werk. Denn ihre Intention liegt in einer sanften Kommunikationsweise, die durch ihren ungewöhnlichen  Ausdruck, der zeitliche Grenzen sprengt, dennoch ihr Ziel erreicht.

 

Mercedes Azpilicueta. Potatoes, Riots and Other Imagineries, 2021. Installation View, 2022  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf. Foto: Kai Werner Schmidt

Mercedes Azpilicueta. Potatoes, Riots and Other Imaginaries, 2021. Installation View, 2022  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf. Foto: Kai Werner Schmidt

Mercedes Azpilicueta. Mama's Casting a Spell, 2019. Video Still  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf

Mercedes Azpilicueta. Abya Yala (Tierra Madura) | Bondage of Passions, 2021. Installation View, 2022  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf. Foto: Kai Werner Schmidt

Mercedes Azpilicueta. The Spicy Kangaroo | Kinky Affairs at Home, 2022  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf

Mercedes Azpilicueta. Sussuros Barrocos (Barockes Flüstern). Installation View, 2022  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf. Foto: Kai Werner Schmidt

Mercedes Azpilicueta. Cuerpos Pajáros (Body Birds), 2018. Video Still  |  © Sammlung Philara, Düsseldorf. Foto: Kai Werner Schmidt