Nevin Aladag - Social Fabric —Philara Sammlung

Nevin Aladag beschäftigt sich mit den Texturen unseres sozialen Zusammenseins. Ihre Arbeiten, die sich der Medien Skulptur und Performance bedienen, teils in Kombination, machen auf die Verwebungen gesellschaftlicher Strukturen und die Grenz- und Begegnungsfelder, die in diesen Verwebungen entstehen, aufmerksam. Aladag bildhauerisches Ausdrucksmittel sind im weitesten Sinne Stoffe, ,,fabric“, wie es im Ausstellungstitel heißt. Während der deutsche Begriff ,,Stoff“ ohne Präfixe eher auf das beschränkt ist, was man im Englischen ,,tissue“ nennen würde, ist bei Aladag Stoff/fabric nicht nur Textilien, sondern alles, aus dem sich als Baustoff oder Strukturkomponente Gewebe bilden lassen. Über diese Umformung von Stoff/fabric – in Social Fabric Teppichfragmenten, Telefonkabeln, Pflastersteinen und Gebrauchsgegenständen wie Lampen – schafft Aladag gleichermaßen neuartige Gebilde, die in ihrer Textur auf die heterogenen Verbindungen zwischen Menschen und Kulturen hinweisen. Indem Aladag sich kulturell besetzter Materialen und Techniken wie Ornamentik, Orientteppichen oder traditioneller östlicher Knüpftechniken des Macramée bedient, die dann wieder in neuen Kombinationen zu Zeichen für das Gegenwärtige werden, spielt sie Stereotype wie ,,traditionell“ und ,,modern“ , ,,Westen“ und ,,Orient“ gegeneinander aus. Damit macht sie auf die neuen Verbindungen und Kommunikationslinien aufmerksam, die in unserer globalisierten und von Migration geprägten Welt entstehen und das festgezeichnete Gebilde als antagonistisch verstandener Kulturen stetig in Frage stellen.

Eine Arbeit, die mit am Stärksten diese Idee der neuartigem Verflechtung unter Aufbruch des Bekannten verkörpert, sind die zwei eine Einheit bildenden bildhauerischen Arbeiten ,,pink bow“ (2018) und ,,pink arrow“ (2018). Zu sehen ist ein Mosaik aus Teppichfragmenten fixiert auf einem rechteckigen Holzrahmen in Übermannsgröße. Das Ganze erscheint in seinem Bildmittel, dem Ornament, zunächst orientalisch und in seiner Bildsprache, den unterschiedlichen Teppichfragmenten, wie ein bunter multikultureller Mix. Anhand der Muster und Farben meinen wir Perserteppiche, peruanische Teppiche, europäische Blumenmuster sowie ,,modernere“ Unifarben und schlichte Streifungen erkennen. Doch genaueres Betrachten lässt uns die natürlich wirkende Zuschreibung kultureller Identitäten zu den Teppichstücken hinterfragen. Erscheinen nicht alle Fragmente gleichermaßen synthetisch? Hat der Perserteppich überhaupt noch etwas ,,Orientalisches“, wenn er vielleicht genauso wie die grelleren Fragmente aus einer Fabrik in China stammen könnte? Im Muster bilden gegensätzliche Teppichstücke einzelne Ornamente, die sich zu einer ganzheitlichen (Un)Ordnung ergänzen, die weder Hierarchien erkennen lässt noch eine einheitliche Identität zulässt. Aladag Werkskombination ,,pink bow/pink arrow“ kann man als Metapher für unsere gesellschaftlichen Strukturen lesen, in denen wir über kulturelle, möglicherweise stereotype Zuschreibungen oft Abgrenzungen schaffen, anstatt das große Ganze zu sehen.

Die Sehgewohnheit, Formationen nach ,,traditionellen“ und ,,modernen“ Strukturen zu unterscheiden, Kategorien, die auf ähnliche Weise auf Gesellschaften angewandt werden, bricht Aladag in den skulpturalen Gebilden ,,Makramé, current flow 1“ und ,,Makramé, current flow 2“ (2017) auf. Die Gebilde aus einzelnen Schnüren in Pastellfarben oder in kontrastierendem Rot und Schwarz wirken wie archaische Webteppiche die in ihren Verknotungen altertümliche Geschichten erzählen. Tatsächlich besteht eine solche Relikthaftigkeit aber nicht, die ,,Knüpfteppiche“ bestehen aus dem Material unser heutigen hochgradig vernetzten Kommunikationswelt: LAN-Kabeln und Telefonkabel sowie den in der Kommunikationstechnik eingesetzten Baustoffe Kupfer und PVC. Muster und Farbigkeit haben keinerlei Bedeutung, sie stammen von der Beschaffenheit des Materials ab, das aus Gebrauchsgründen unterschiedlich gefärbt ist. Diese Pragmatik jenseits von Bedeutung und möglicher (kultureller) Verweise mit den Stoffen/fabric als künstlerisches Ausdrucksmittel umzugehen, ist ein durchgehendes Merkmal in Aladags Werk. Die komplexen und zum Teil unauflösbaren Verknüpfungen im digitalen Kommunikationszeitalter erhalten in ,,Makramé, current flow“ in Form der Bahnen, die ineinander laufen und doch jede eine vereinzelnde Form haben, eine für uns sichtbare und nachvollziehbare Form. Das Ornament ist wieder kein traditionell besetztes Zeichen sondern Ausdruck einer universellen Sprache unseres sozialen Zusammenlebens.

In dem Werkspaar Pattern ,,Matching“ (2012), das in der Teppichcollagen-Technik von ,,pink bow“ und ,,pink arrow“ hergestellt ist, werden die Kriterien der Kategorisierung vom ,,Westlichem“ und ,,Orientalischem“ ebenfalls aufgebrochen. Aus Teppichfragmenten mit ,,orientalisch“ anmutender Musterung wie bei dem aktuellen Werk ,,pink bow“ und ,,pink arrow“ hat die Künstlerin ein Muster geschaffen, das an die Struktur eines Basketballfeldes mit seinen Linien und Feldern erinnert. Der Ausdruck befindet sich in einem nicht klar ausmachbaren Feld zwischen den Kulturen: weder das Eine noch das Andere, ist das Gesamt-Ornament Basketballfeld hier etwas, das in sich als eine neuartige Struktur ohne eindeutige kulturelle Verwurzlung funktioniert. Es handelt sich augenscheinlich um ein synthetisches Produkt. Ergänzt durch eine Performance, während der die Künstlerin einen Basketballplatz mit Teppichen ausgelegt hat und mit der Verhüllung des Balles die Zuschauer zu einem Spiel nach eigenen Regeln auffordert, ermutigt uns die Künstlerin in ,,Matching“ zu neuem Sehen und neuen Praktiken, die Begegnungen zulassen, in denen wir uns von kulturellen Vorstellungen freimachen.

Die Skulpturen ,,Screen I“, ,,Screen II“, ,,Screen III“ (2016), drei Meter hohe transparente Gitter mit eingespannten Pflastersteinen eingerahmt in Stahlrahmen, bringen wiederum eine neue Sichtweise auf das Material, aus dem unsere Fußwege gemacht sind. Als Fussabtreter ignoriert, bildet dieses die Grundlage für das gesellschaftliches Zusammensein, die Bühne des öffentlichen Raumes. In neuen Strukturen zusammengestellt formen die Pflastersteine ornamentale Gebilde, sie schweben über uns und geben eine neue Perspektive auf das Gewöhnliche vor. Pflastersteine vernetzen mit jedem Tritt, den sie ermöglichen, auch uns. Die Übertragung der Pflastersteine ins Vertikale ist keine Zweckentfremdung sondern eine Neuzusammensetzung nach den Regeln des Gegenstandes und seines Gebrauchs. Die Ausdruckssprache ist wieder das Ornament, aber eben nicht als kulturell besetztes Muster, sondern als pragmatische Umsetzung der mit dem Gegenstand verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten. Aladag hat sich genau mit den Verhältnissen, Licht und Raum des Ortes der Installation in der Wiener Fussgängerzone auseinandergesetzt. Wieder ist ihr Werk eine Übersetzung sozialer Umgebungen, die universell verstanden werden können.

Colors, day and night (2016-2017), mit Nylonstrumpfhosen bespannte Lampen des Designers Poul Henningsen – ikonische Objekte – sind gleichzeitig fragile und starke Gebilde, die hinsichtlich auf dem eingesetzten Stoff/fabric unterschiedliche Interpretationen zulassen. Die Form der Skulptur an sich ist durch die runden schlichten Lampen aus dünnen Metallschirmen vorgegeben. Überspannt sind sie mit verschiedenfarbigen Nylonstrumpfhosen wie man sie in Kaufhäusern rund um die Welt findet. Dies schafft zunächst eine reizvolle Optik. Tatsächlich sind Strumpfhosen ein kulturell doppeldeutig besetzter Artikel: sie verschaffen der Frau Macht durch die Betonung ihrer Reize, gehorchen aber gerade dadurch wieder einer hierarchischen Geschlechterordnung, in der von den Frauen Sexyness erwartet wird. Das Gewebe aus Strumpfhosen wirkt einerseits fragil, verhüllt aber auch gleichzeitig die Lampe und dominiert deren Erscheinung. Ob dieses Kunstwerk eine feministische Lesart hat, überlässt Aladag der Interpretation des Betrachters. Wieder beharrt der Umgang mit Stoff/fabric auf Pragmatik, nicht auf der vermeintlich hineingeschriebenen Botschaft.

Aladags Werk erscheint durch den Einsatz bekannter und alltagsnaher ,,Stoffe“ und deren Umformung zu phantasievollen Neustrukturen farbenfroh, vielfältig und zugänglich. Jenseits dieser optisch-ästhetischen Ebene trägt es jedoch eine tieferliegende Bedeutung.  Denn Aladag sensibilisiert auf spielerische Weise die Wahrnehmung für die Bedingungen eines Zusammenseins jenseits kultureller Grenzen. Indem sie zeigt, dass ausgrenzendes Kategorisieren vor allem Ergebnis von Sehgewohnheiten sind, deren Dekonstruierbarkeit sie in ihrem Werk demonstriert, macht Aladag auf die Chancen für das soziale Zusammensein aufmerksam, die aus einer Neuausrichtung der Perspektive auf das Gemeinsame entstehen können.

Ausstellungsansicht  |  © Sammlung Philara

Ausstellungsansicht  |  © Sammlung Philara

Ausstellungsansicht  |  © Sammlung Philara

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