Liu Xiaodong - Langsame Heimkehr —Kunsthalle Düsseldorf

Liu Xiaodongs Bilder sind gewaltig. Alles ist in seiner extremsten Dimension gewählt: die Farben sind bunt und laut, der Auftrag pastös mit kräftigem Duktus, die sie bevölkernden Personen in Menschensgröße in groben Zügen gemalt, die Landschaften und Hintergründe weit und rau. Es entstehen Szenen mit großer Lebendigkeit, ein bestechender Realismus in der Darstellung verleitet den Betrachter zu dem Gefühl, den lebensnah gemalten Menschen in ihrer Umgebung zu begegnen. Lius Bilder sind wie die Fotografie Momentaufnahmen, eingefrorene Szenen, die auf etwas Vorheriges verweisen und die das Zukünftige bereits in sich tragen. Die Bilder sind figurativ, das Dargestellte ist erkennbar, aber nicht bis zum letzten Zug realistisch abgebildet, es erscheint oft abgekürzt. Durch diese Reduktion auf das Wesentliche schaffen die Bilder, die aus der Auseinandersetzung des Künstlers mit realen Menschen und Situationen vor Ort entstehen, etwas, das die Fotografie so nicht schafft: sie zeigen etwas Wahres. Frei vom Anspruch des zeithistorischen Dokuments bricht durch den rauen Tonfall die soziale Problematik ungefiltert hindurch. Die im kraftvollen Pinselduktus aufgebrachten Farben bilden eine durchlässige Oberfläche, die die soziale Tragik durchschimmern lässt. Und diese trifft uns, da wir nicht erwarten, durch ein Gemälde so direkt angesprochen zu werden. Das etwas nicht direkt Abgebildetes trotzdem da sein kann.

Ein Bespiel für solch eine märchenhafte Szene, in der etwas ganz Anderes steckt, ist ,,Diary of an Empty City“ (2014). Man sieht eine Reitergruppe vor einer Steppenlandschaft, im Mittelpunkt der Gruppe ist eine Frau, die in prächtiger Tracht gekleidet ist, ihr würdevolles Antlitz blickt herab auf einen Reiter, der gerade dabei ist ein Pferd zu besteigen. Etwas versetzt führt ein älterer Mann ein Pferd, auf dem Bäuchlings ein Mann liegt. Das Habit der Gruppe erinnert an ein Nomadenvolk, eine der nördlichen  ethnischen Minderheiten in China, die noch in ihrer überbrachten Lebensweise leben. Die Szene erscheint rätselhaft, aber harmonisch. Doch dann entdecken wir in der hinterlegenden Landschaft hypermoderne Stadien, wie sie zur Olympiade in Peking 2008 gebaut wurden, im rechten Bildrand die Umrisse einer Hochstraße und die Türme eines Kraftwerkes, dessen Ausdünstungen in den Himmel steigen. Ein Bruch im Bild entsteht. Der strahlend blaue Himmel ist nicht mehr der einer Traumwelt, er brennt in all seiner Pracht gnadenlos auf eine Szene herab, die auf eine durch Fortschritt eingeleitete Vertreibung eines Volkes zu verweisen scheint. ,,Diary of an Empty City“ macht aufmerksam auf ein Phänomen im China, dem Erbau von Geisterstädten mitten im nirgendwo, die Fläche bieten sollen für die rasante Urbanisierung in China und wie viele Projekte dieses gigantischen aber auch gnadenlosen Entwicklungsdranges keine Rücksicht nehmen auf das vor Ort gelebte Leben und das Schicksal der verdrängten Menschen.

Liu wurde 1963 im der Ort Jincheng in der Liaoing-Provinz geboren und an der renommierten Pekinger Zentralakademie der Bildenden Künste ausgebildet. Lange Auslandsaufenthalte, bei denen ihn seine Frau begleitet wie 1993 in New York, bestimmen immer wieder sein Leben und Werk. Über Liu wird viel gesagt, das ihm zu einem der größten im Medium Malerei arbeitenden Künstler der Gegenwart erhebt. Kunsthistorisch sieht man ihm – neben Manet und Courbet – als Erbe des sozialistischen Realismus, des Neoimpressionismus und der Historienmalerei. In der Gegenwart wird er der zur Zeit aktuellen Bewegung des Neorealismus zugeordnet. Hochangesehen ist Liu aber in erster Linie durch die hohe gesellschaftliche Relevanz, die seinem Werk zugeschrieben wird. Was ihn antreibt, ist durch seine eigenen Beobachtungen, dem Verlassen auf die eigene Auffassungsgabe, sich konkreten gesellschaftlichen Problemen zu nähern und diese vor Ort durch seine Malerei festzuhalten. Eine tiefe und sensible Auseinandersetzung mit sozialen Misslagen, dem verborgenen Ungerechten wird in seinem Werk gesehen. Die Wahl seiner Sujets, die oft indirekt betroffen sind durch große gesellschaftspolitische Umbrüche, machen ihn zu einem gesellschaftskritischen Maler, der sich der gesellschaftlichen Problematik – und als Chinese auch der eigenen dem System gegenüber nonkonformen Perspektive – bewusst ist. Dieses Bewusstsein vermittelt er aber auf eine eigene, nicht anklagende und trotzdem pointierte Weise. Diese Zurückhaltung wird auf seine eigenen traumatischen Erfahrungen mit dem repressiven chinesischen Regime während der Unruhen 1989 zurückgeführt, während derer die künstlerische Avantgarde Bewegung, der er damals angehörte, im Keim erstickt wurde. Lius Maxime ,,Ich traue nur dem, was ich sehe“, also nur das abzubilden, was in der Situation die er selbst aufsucht, vorhanden ist, wird zur Verdeutlichung seiner persönlichen politischen Haltung  oft zitiert.

,,Out of Beichuan“ (2010) ist ein weiteres solches Gemälde, welches still aber bestimmt auf soziale Ungerechtigkeiten aufmerksam macht. Entstanden ist es im Zusammenhang mit dem großen Erdbeben in der Provinz Sichuan 2010. Zur Katastrophe wurde die Naturgewalt erst, da die Gebäude auf Grund der grassierenden Korruption hohe Mängel in der Sicherheit aufwiesen und daher noch viel mehr Menschen ums Leben kamen, als sonst der Fall gewesen wäre. Gewaltige Berghänge füllen den Bildhintergrund aus, von einem dieser wolkenverhangenen tiefgrünen Hänge ist eine Steinlawine bis zum Fuss der Berge abgegangen, wo sich die wie Würfel umgekippten Gebäude einer zerstörten Stadt befinden. Von dieser Stadt in Trümmern gehen matschige Felder ab auf denen Hunde streunen, die Landschaft führt uns zum Vordergrund des Bildes und zu seinem prominentesten Element, einer Gruppe junger Mädchen, die um ein mit einer Ladefläche versehenes Transport-Fahrrad versammelt ist. Das Elend, welches im Bildhintergrund zu sehen ist, ist ihre Heimatstadt. Die Mienen der Mädchen wirken erstarrt, fast trotzig, ihr Blick geht an uns vorbei ins Leere. Jede von Ihnen hat Liu eine Individualität verliehen, Gesichter, Frisuren und Kleidung lassen unterschiedliche Charaktere vermuten – und persönliche Schicksale. Armut, Untätigkeit der Behörden, Ungerechtigkeit – mit flüchtigen, manches nur skizzierendes und vieles im Groben lassenden Pinselzügen schafft Liu durch seine ganz eigene Art der Komposition Szenen, die Bände sprechen.

Lius Blick, der den Abgrund mitten im Schönen andeutet, ist nicht auf China begrenzt. ,,The Last Hunters“ (2017), entstanden in Grönland, ist vielleicht eines der Gemälde, wo die Dualität von atemberaubender Ästhetik und unterschwelliger menschlicher Tragik besonders stark durchbricht. Das gesamte Bild ist in die Farben des Sonnenuntergangs getaucht, hellblaue, rosa bis orange-rote Lichteffekte finden sich sowohl in der Eislandschaft, dem Wasser als auch in Kleidung und Gesichter der Personen der Gruppe im Bildvordergrund, die alle dem Volk der Inuit angehören. Vier ältere Männer sitzen um einen Holztisch herum und zerteilen den Fischfang mit Messern, ihre gegerbten, von schwerer Arbeit gekennzeichneten Gesichter sind ganz in diese Tätigkeit vertieft. Um diese Männer herum sind wie in einer zweiten Ebene jüngere Mädchen platziert, eines davon steht prominent am linken Bildrand, zwei weitere befinden sich auf die Tischkante angelehnt rechts im Bild versetzt von den Jägern. Die Blicke all dieser Mädchen sind weg von der Szene nach rechts gelenkt, als wären sie gedanklich ganz wo anders. Das Eis, das Licht, der Fischfang, die eine alte Lebensform lebende Gruppe, die Szene wirkt harmonisch. Doch die ganz subtil angedeutete Andersartigkeit der Mädchen, die Stimmung des Tagesendes und der so schön dargestellte, aber verschwindende Lebensraum Polarregion deuten darauf hin, dass die hier dargestellte Lebensweise dieses Volkes aussterben wird.

Betrachtet man die gigantischen Gemälde, meint man, das Gemalte sei Ausdruck einer überhöhten, mystifizierten Wirklichkeit. Doch dies ist nicht der Fall. Man fängt erst an, Lius Werk zu begreifen, wenn man sich bewusst macht, dass er nur malt, was er vor Augen hat und allem, was wir auf seinen Bildern sehen, selbst beigewohnt hat. Der Auswahl der Subjekte und Schauplätze gehen intensive Auseinandersetzungen mit den Menschen, den Orten und das in diesen angelegte Thema voraus. Liu ist ständig auf Reisen und bringt seine Leinwand mit, nicht in erster Linie um zu malen, sondern um etwas festzuhalten, wie es sonst niemand tun würde. Dabei greift er zum Teil auf die etwas überkommene Technik der Montage zurück, indem er Personen und Umgebung getrennt porträtiert und dann zu einer Szene verschmilzt. Ergebnis ist dabei jedoch keine Verkünstelung, sondern ein konzentriertes Bild der Problematik, wie Liu sie vor Ort selbst sieht. Die einzelnen Schritte dieses sein gesamtes Werk umspannenden akribischen, sich der seelisch und körperlich herausfordernden Methoden des investigativem Journalismus bedienenden Prozesses der Bildfindung, sind anhand von Fotografien und Filmmaterial in einer begleitenden Ausstellung im NRW Forum dokumentiert.

Lius Fähigkeit, mit einer bunten Farbpalette zwiespältige Stimmungen zu erzeugen, bringt bisweilen verstörende Momente hervor. Da ist beispielsweise ,,Steel“ (2016), ein Gemälde das vier bengalische Arbeiter zeigt, die gemeinsam eine verrostete Stahlplatte tragen, der Ort dieser Szene ist ein Schiffsfriedhof in Bangladesch, in dem illegal alte Kähne einfach zurückgelassen werden, bis die Allerärmsten kommen, und die Schiffe mit bloßen Händen auseinandernehmen. Liu hat diesen Ort so unwirklich und höllengleich gemalt, wie er tatsächlich ist: der schlammige Boden und das Meer, durchsickert von Giftstoffen, sieht tot aus, der verpestete Himmel ist gelblich, im Bildhintergrund ragen die vor sich hin rottenden Wracks der Tanker hervor. Alles ist wie von Rost durchzogen, rot, braun und gelb. Die Gesichter der die Platte hinforttragenden Arbeiter in ihrer verdreckter Kleidung und keinerlei Schutz bietenden Sandalen sind auf den Boden gesenkt, die Härte der Arbeit, die gesundheitliche Belastung sind wie eingemeisselt in ihre Haltung. Es scheint so, als hätte Liu hier nicht nur einen spezifischen Ort abgebildet. Die Platte, die die Arbeiter entsorgen müssen, steht stellvertretend für die Missstände unseres globalen Industrie-kapitalistischen Systems, in dem die Ärmsten oft die ökologischen Folgen des Wirtschafts- und Lebensmodells der reichen Staaten tragen müssen.

Fröhliche, aber stets gnadenlos stechende Farben bilden in Lius Werken so etwas wie die Unwirklichkeit der Wirklichkeit ab, ein paradoxes Faktum, das an sich irrational ist. Doch dieses Paradoxon, welches Lius Werk durchzieht, beschreibt ein für uns ganz reales Gefühl, das uns jedes Mal ergreift, wenn Leid und Schönheit sich Zeit und Ort teilen. Und gerade deshalb gelangen Lius Bilder nie zu einer geschlossenen Deutung, die aus ihnen hervordringende soziale Tragik kommt uns Nahe und bleibt doch auf Distanz. Die ist für mich die herausragendste Fähigkeit Lius, die ihn von allen anderen im Genre Realismus tätigen Malern unterscheidet. Es ist eine Fähigkeit, die ihn weiterhin erlaubt Dinge abzubilden, die nicht nur in seinem Heimatland unaussprechbar sind.

Ausstellungsansicht  |  © Kunsthalle Düsseldorf

Ausstellungsansicht  |  © Kunsthalle Düsseldorf