Die Realität wird oft als etwas Manifestes betrachtet. Dabei braucht es ein feines Netz an Unterscheidungen, damit Dinge und Umstände als „real“ wahrgenommen werden können. In ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland Eraser im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, kuratiert von Kathrin Bentele, lenkt die walisische Künstlerin Angharad Williams die Aufmerksamkeit auf die Kategorien, durch die Wirklichkeit konstruiert wird. Anhand des Autos und der Symbol- und Statuswelt, die um dieses Objekt kreist, verdeutlicht sie, wie offensichtlich aber auch zerbrechlich die Einteilungen sind, welche die Realität stabilisieren.
Williams, deren künstlerische Praxis verschiedene Medien wie Installation, Performance, Text, Film, Malerei und Zeichnung umfasst, hat die Räumlichkeiten des Kunstvereines durch Eingriffe und Modifikationen der Architektur von der Außenwelt getrennt. Als Besucher*in meint man sich so in einer Art abgeschlossenen Kapsel zu befinden, was die Orientierung im Gebäude erschwert. Hinter den Flügeltüren des großen Ausstellungsraumes, die mit automatischen Türschließern versehen sind, betritt man daher einen eigenen, hermetisch abgeschnittenen Bereich. Dieser wird gänzlich von schwarzen, hochkant aufgestellten Autos verschiedener Modelle bestimmt, die in Lebensgröße mit Kohlestiften auf Papierbahnen gezeichnet sind („Cars“, 2022).
Die Zeichnungen der aufrecht nebeneinander gesetzten Fahrzeuge imponieren, irritieren aber auch in ihrer ungewohnten Position. Durch die Hochkant-Stellung treten die Konturen, die Bauart und die Details des Designs stärker hervor, was zu einer viel genaueren Beschäftigung mit den Eigenheiten der einzelnen Fahrzeugtypen führt. Diese Autos, die Williams auf Grundlage von Fotos aus den Straßen Berlins in ihrem Atelier mit Assistent*innen nachgezeichnet hat, sind ganz klar aus der Situation des üblichen Straßenverkehrs herausgenommen. Abgeschnitten vom Außenraum und von allen anderen potentiellen Eindrücken, meint man sich in der Konfrontation mit den Fahrzeugen in einer abgehobenen Garage eines extravaganten Sammlers zu befinden, der seine Wagen wie Trophäen an die Wand hängt. Einen Gegenpol zum Glanz der Karosserien bilden auf dem Boden verteilte rostige Stahldeckel von Entsorgungscontainern, die als memento mori auf die eingegrenzte Lebensdauer der Fahrzeuge hinweisen und die Monumentalität der Installation brechen („What it feels like to live another day“, 2022).
Angharad Williams bedient sich oft einer metaphorischen und allegorischen visuellen Sprache, um Situationen zu erschaffen, zwischen Eindrücken von Bekanntem und Fremdheit oszillieren. Die Betrachter*innen begegnen so nicht einfach nur den Dingen an sich, sondern den Emotionen und Projektionen, welche diese als performative Kräfte kanalisieren. Diese Spiegelung von Sichtweisen, Vorurteilen, Begierden und Ängsten, die in ihren Werken stets in der materiellen Welt des Alltags verankert sind, ist ein zentrales Motiv in Williams‘ Werk. So ist das Ausstellungsprojekt Eraser aus einem längeren Schreibprozess an einem Prosatext hervorgegangen, in dem die Künstlerin beschreibt, wie die Subjekt-Objekt Beziehungen, die der Kapitalismus über Besitzverhältnisse vorgibt, der Imagination alternativer zwischenmenschlicher oder speziesübergreifender Begegnungen im Weg stehen. Anstatt dessen erkundet ihr Text eine Perspektive, in der sich Kategorien auflösen und sich andere, von jeglichen Hierarchien befreite Bewusstseinswelten eröffnen.
Die intensive Begegnung mit den Automodellen, die sich auf das materialistische Gut überhaupt beziehen, vermittelt jenes Gefühl einer Welt, die fest durch Klassen und Hierarchien definiert ist, letztendlich aber instabil ist. Hier in Deutschland etwa sind Autos nicht bloß Fahrzeuge, sie werden als Indikator für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht gelesen – ein Code, den man schon im Kindesalter erlernt. Das Bewusstsein, welches Modell man fährt und vor allem, welche Modelle andere fahren, ist stark ausgeprägt.Williams‘ Zeichnungen empfinden durch das Aneinanderreihen verschiedener Fahrzeugtypen eben diesen Code nach und illustrieren so, wie der soziale Status anhand von willkürlichen Unterscheidungen auf Ebene der Materie zementiert wird. Die Zeichnungen der aufgestellten Autos, die in ihrer Präzision an technische Graphiken erinnern, welche durch die weichen Striche der Kohle dann wieder eher ins Malerische tendieren, erlauben durch ein nahes Herantreten und Begutachten eine Auseinandersetzung mit diesen Regeln.
Das Absuchen nach Details und den zeichnerischen Strategien der nahezu photorealistischen Darstellungen, zu denen diese anregen, lockt einen so unbemerkt in einen Prozess hinein, der zur Entlarvung dieser verinnerlichten Klassen-Merkmale führt. Durch die sanfte Enthüllung der gemachten Symbolwelt, die das Auto umgibt, bricht Angharad Williams schließlich auch mit der Gewissheit, dass das Automobil in irgendeiner Form eine Sicherheit darstellt. Vor dem Hintergrund der längst bestehenden Sackgasse (und Katastrophe), in die fossile Brennstoffe führen und einer drohenden, inflationsgetriebenen gesellschaftlichen Krise bröckelt der Status des Autos als Wohlstandsgut. Durch die Abbildung eines banalen Alltagsgutes gelingt es Angharad Williams mit wenigen Mitteln, Papier und Zeichenkohle, diese weiteren, durchaus verängstigenden Zusammenhänge anzusprechen, welche die Welt der Dinge, wie wir sie sehen wollen, konstituieren.
Williams‘ künstlerische Sprache enthüllt die kategorisierende Wahrnehmung, durch die wir meinen, die Alltagswelt unter Kontrolle zu haben. Gerade in banalen Situationen, wie den Anblick eines schlafenden Freundes auf einer sonnigen Parkwiese, sieht sie das Potential, die Fragilität der vermeintlich stabilen Trennungen zwischen diesem und jenem zu exponieren („Enver’s World“, 2022). Die Fixierung der Kamera auf den von hinten gefilmten Schlafenden produziert Bilder, in denen fast nichts passiert. Das Interesse gilt jedoch der Sphäre, die sich unsichtbar hinter dem Schlafzustand befindet. Die Welt des Unterbewusstseins und des Traumes, deren Wert und Existenz normalerweise negiert wird. Für die Künstlerin sind es gerade die Kräfte dieses grenzübergreifenden Bereiches, die am ehesten dazu in der Lage sind, die etablierten Machtverhältnisse, welche die glänzende Oberfläche der Konsumwelt aufrechterhalten, auszuhebeln. Indem Angharad Williams Schein und Sein in ihren Werken verwischt, macht sie darauf aufmerksam, wie wenig wir eigentlich in der Lage sind, zwischen beiden zu unterscheiden.