SHIFTING THEATRE: SIBYL'S MOUTHS—Kölnischer Kunstverein

PURE FICTION ist ein Kollektiv aus fünf internationalen Künstler*innen, die auf Grundlage eigener Texte Performances konzipieren. Um der derzeitigen Lage, wo das Zusammenkommen stark erschwert ist, etwas entgegenzusetzen, haben die Mitglieder*innen damit begonnen, sich mit den Bedingungen der Kunstproduktion in der unvorhersehbaren Kulturlandschaft sowie den Möglichkeiten und Grenzen der performativen Praxis auseinanderzusetzen. Angelehnt an das Szenario einer Endzeit-Prophezeiung aus Mary Shelleys dystopischen Roman Der letzte Mensch (1826), ist in SHIFTING THEATRE: SIBYL’S MOUTHS im Kölnischen Kunstverein unter Einsatz unterschiedlicher Medien von Sound, Installation, Film bis Marionettentheater eine interessante Vielfalt von Positionen versammelt, die gemeinsam aus den Motiven der Abwesenheit und Unsicherheit heraus neue Horizonte eröffnen.

Abwesenheit, in dem Sinne das etwas nicht zustande kommt wie geplant, wird in der kollaborativen Ausstellung von den Künstler*innen so als kreative Möglichkeit genutzt, Leerstellen zu bespielen. Dafür werden oft nahezu prophetische Stimmen eingesetzt, die auf eine ferne Zeit hinweisen, bei der nicht ganz klar ist, ob sie noch bevorsteht oder bereits eingetreten ist. Diese starke Ausrichtung an dystopische Szenarien ist im wesentlichen dadurch bedingt, das PURE FICTION aus einer Lesegruppe (Readinggroup) entstanden ist, die sich mit Science-Fiction Literatur beschäftigt. Der hellseherische Aspekt der Werke ist von einer Szene des Romans Der letzte Mensch inspiriert, in der die Protagonistin in einer Höhle Weissagungen findet, die das Hereinfallen einer großen Seuche um das Jahr 2100 beschwören. Die von Einsamkeit und düsterer sowie fantastischer  Vorahnung geprägte Atmosphäre aus dem Roman greifen die Künstler*innen in ihren Arbeiten auf, indem sie wie der Titel andeutet das eigentlich Abwesende und nicht Realisierbare auf eine andere Ebene „verschieben“.

Im Erdgeschoss des Kunstvereins hat Ellen Yeon Kim „Jane“, eine raumgreifende Soundinstallation aus mehreren Lautsprechern aufgebaut, die in Straßengittern und -schächten versenkt sind. Um der sprechenden Stimme zu folgen, die abwechselnd aus den Sound-Quellen hallt und in einem inneren Monolog über den Zustand des gefangen-Seins im eigenen Kopf sinniert, muss sich der/die Besucher*in inmitten dieses simulierten Ortes begeben. Dennoch schnappt man immer nur fragmentarische Aspekte der abwesenden „Jane“ in ihrer vergeblichen Suche nach sich selbst auf. Bereits durch seinen Titel „REAL BOOKS“ behauptet das von Mark von Schlegell aufgebaute temporäre Büchergeschäft eine reale physische Präsenz, die der ephemeren Stimme von Ellen Yeon Kim wieder etwas Kontrastierendes entgegensetzt. Doch auch diese Arbeit besteht aus einer Lücke, welche ein Bücherständer, der vorwiegend mit antiquarischen Science-Fiction Romanen aus den Sechziger und Siebziger Jahren bestückt ist, nur teilweise füllt. Was (außer am Eröffnungstag) fehlt, ist der kommentierende Verkäufer. Der amerikanische Städel-Professor Mark von Schlegell, aus dessen Lesegruppe PURE FICTION hervorgegangen ist, ist selbst Science-Fiction Autor und gibt hier einen Einblick in sein eigenes gedankliches Universum, das er über die suggerierte Kaufmöglichkeit auch teilt und erweitert. Sein „Buchladen“ bildet somit einen zentralen thematischen Referenzpunkt für alle anderen Positionen, der allein durch die surreal-kitischige Gestaltung der Romancover vielerlei ästhetische Reize und Bezüge bildet.

Luzie Meyers Filmarbeit „What happens when one looks“ klingt bereits nach einer finsteren Prophezeiung. Die Künstlerin hat für den Kölnischen Kunstverein ein Stück mit Marionettenpuppen entworfen, in der jede der Figuren eine der Künstler*innen des PURE FICTION Kollektivs vertritt und auch von ihrem/r Besitzer*in gespielt wird. Luzie Meyer selbst hält in der Filmarbeit einen einnehmenden Dialog, der fast obsessiv um das Thema des Blickes und der Identität kreist und auf eine drohende Weise ausmalt, was passiert, wenn man auf der Suche nach sich selbst die Bestätigung im Anderen sucht – zu dem wird, auf das man blickt. Die immer nur einzeln mit ihren Spieler*innen auftretenden Puppen weisen erneut auf eine nicht vorhandene Gemeinschaft hin, deren Abwesenheit sie scheinbar noch tiefer in einen Zustand der inneren Isolation und Verzweiflung treibt. „What happens when one looks“ ist zudem eine gekonnte Reaktion auf die hallenartige, patio-ähnliche Architektur des Kölnischen Kunstvereins, die einen an ein leeres Theater denken lässt, wo ein nicht endendes Stück ohne Publikum aufgeführt wird.

Erika Landström erforscht in ihren Arbeiten in SHIFTING THEATRE das Potential angeeigneter Gegenstände, auf imaginäre Zusammenhänge außerhalb ihrer selbst hinzuweisen. Dies lässt sich schon in einer eingerahmten und um schwarze Samttapete ergänzte Autogrammkarte der russischen Raumfahrtpionierin Valentina Tereshkova entdecken, die bei einem ihrer Raumflüge in eine Science-Fiction-ähnliche Situation geriet, in der sie die Lösung eines technischen Problems durch alleinige Kopfberechnung lösen musste („I WILL NOT WRITE BACK“). Im Erdgeschoss und im Studio im 2. OG an den Glasscheiben-Fassaden angebrachte Vakuum-Saugnäpfe, an denen Plüschwürfel baumen, wie sie in der amerikanischen Trucker-Szene bekannt sind, weisen derweil auf die Möglichkeit der Verschiebung der Realität hin, ein wenig wie das Swipen auf einem Touch-Screen („Immediate.Transportation.Elsewhere“). Im Studio im 2. OG hat Erika Landström zudem eine Installation aus elektrisch höhenverstellbaren Schreibtischgestellen platziert, die über einen programmierten Rhythmus sich abwechselnd hoch und runterfahren und so eine Art Choreografie aufführen („the relationship was “stable”“). Wieder fehlt jedoch das eigentliche Element in Form der Tischplatten, mit der auch die eigentliche Funktion, für den diese Gestelle geschaffen sind, eine Unterlage für einen kreativen Schaffensprozesses zu bieten, abwesend bleibt. In ihrem Solo treten die Gestelle wie seltsame metallene Gerippe auf, eigenständig aber doch vollständig fremdbestimmt.

Der Im Kinosaal im Erdgeschoss zu sehende Film „The Last Man“ von Rosa Aiello mit ihrem Bruder Dylan Aiello greift auf subtile Weise das dramaturgische Motiv der Untergangsatmosphäre aus Mary Shelleys gleichnamigen apokalyptischen Roman auf. Der Film spielt sich hauptsächlich in einer Sauna ab, deren Räumlichkeiten ein wenig an ein römisches Bad erinnern und die hier Schauplatz eines Business-Gespräches zwischen zwei Männern ist. Diese Unterhaltung über Geschäftsthemen eskaliert mit der Zeit, indem immer mehr eine homoerotische Beziehung und psychische Abhängigkeit zwischen den Protagonisten hervor tritt, deren toxische Machtmechanismen und enttäuschte Erwartungen schließlich verhängnisvoll enden. Wie viele der Erzählungen der Künstlerin spielt auch diese Handlung in einem zeitlich und räumlich schwer lokalisierbaren Setting, in dem lediglich von dem „Norden“ und dem „Süden“ in einer gespaltenen Weltordnung die Rede ist, die von Arbeitsmigrationsströmen in den produktiveren „Norden“ geprägt ist. Indem sie ein Überlebensdrama in einem fast pompeianischen Ambiente inszeniert, stößt Rosa Aiellos Filmarbeit damit in die Lücke aus Zukunftsungewissheit und drohenden Niedergang vor, welche das Science-Fiction inspirierte Thema von SHIFTING THEATRES vorgibt.

Die Sprache der Positionen von SHIFTING THEATRES vermittelt sich über feine Nuancen und Zwischentöne, die häufig hinter dem direkt Sichtbaren verborgen sind und erst in der Öffnung verschiedener Sinne hervortreten. Diese Anforderung der Kombinatorik ist auch dadurch bedingt, dass die Künstler*innen in ihren Arbeiten auf die Werke und Gedanken der anderen reagieren. Diese konzeptuelle Anlehnung zeigt sich nicht nur in Luzie Meyers auf die Kollektivmitglieder*innen zurückgreifendem Marionettenstück, sie wird überall dort deutlich, wo es darum geht, einem verhindertem Zusammenschluss in Form einer sonst vorhandenen Einheit künstlerisch nachzuspüren, die nun fehlt. Das PURE FICTION Kollektiv geht mit dem Begriff des „SHIFTING“ damit jenen sich sowohl offensiv als auch unterschwellig in der Kultur- und Ausstellungswelt seit Beginn der Pandemie abspielenden „Verschiebungen“ nach, die zwar allseits wahrgenommen werden, aber nicht deutlich benannt werden. Wie der dystopische Roman The Last Man, der in seinem Zukunftsszenario seltsame Parallelen mit dem heute aufweist, zeigen die Künstler*innen, dass die Fiktion auch das Potential des Voraussehen birgt. Und so jene Leerstellen zu füllen vermag, deren Spuren uns wahrscheinlich erhalten bleiben werden.

PURE FICTION Shifting Theatre: Sibyl’s Mouths. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Mareike Tocha

REAL / BOOKS. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Mareike Tocha

PURE FICTION Shifting Theatre: Sibyl’s Mouths. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Mareike Tocha

Luzie Meyer: What happens when one looks, 2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Mareike Tocha

Luzie Meyer: What happens when one looks, 2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Marina Sammeck

PURE FICTION Shifting Theatre: Sibyl’s Mouths. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Mareike Tocha

Rosa Aiello und Dylan Aiello: The Last Man, 2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Marina Sammeck

Rosa Aiello: Winter Treasure, 2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022.  |  Foto: Marina Sammeck