Die drei Komponenten jeder Ausstellung, Objekte, Raum und Besucher*innen, werden oft als gegebene Koordinaten angesehen. Die junge israelische Künstlerin und Co-Kuratorin der Ausstellung GUILTY CURTAIN im Kölnischen Kunstverein Naama Arad sieht jedoch lebendige und aufeinander reagierende, fluide Akteure in diesen drei Elementen. Konzeptuell eingefasst in den Begriff des „encounter“, der sowohl sanftes Aufeinandertreffen als auch unvorbereitetes Zusammenstoßen signifiziert, konzentriert sich die Ausstellung mit dreizehn internationalen Künstler*innen auf den Moment der Begegnung von Objekten, Besucher*innen und Raum. In erster Linie als im Verhältnis zum Menschen stehende Dinge aufgefasst, entwickeln sich spannende Beziehungen zwischen den Positionen und dem Betrachter, welche die Gegensätze zwischen Innen und Außen, Umgebung und Werk aufheben.
Das Besondere an der Ausstellung GUILTY CURTAIN, welche entlang Naama Arads eigener Praxis als Bildhauerin und Installationskünstlerin einen Schwerpunkt auf den Bereich Skulptur legt, sind zunächst die Entstehungsbedingungen. Beeinflusst durch die andauernde Pandemie-Situation ist die Ausstellung in der Konzeptionsphase vom absolut Digitalen direkt ins Physische übergegangen. Denn die beiden Kuratorinnen Nikola Dietrich, Direktorin des Kölnischen Kunstvereins, und Naama Arad konnten den Auf bau nur übers Internet planen. Gerade aus der Beherrschung dieser Lücke ist, wie es die Kuratorinnen betonen, eine starke Betonung auf Begegnungen und das Feld körperlicher und dinglicher Beziehungen am konkreten Ort hervorgegangen. Die Ausstellung versteht sich so selbst als Struktur, die sich stetig von Objekt zu Objekt aufbaut und auf eine symbiotische Beziehung zwischen Körper und Objekt verweist. Eine weitere Besonderheit liegt in der Einbindung des Ausstellungsprojektes in das Festjahr „2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, welches das 1700 jährige Bestehen der Präsenz jüdischer Kultur hierzulande feiert. Naama Arad gewährleistet durch ihre persönliche Künstler*innen Auswahl einen Einblick in die aktuelle Künstler*innen Szene ihrer Heimatstadt Tel Aviv. Die Kooperation ist damit eine sehr kluge und gegenwärtige Reaktion auf das Gedenkjahr der gemeinschaftlichen Verbindungen. Und tatsächlich spielt das Leben in Tel Aviv, die architektonische städtische Umgebung sowie Erlebnisse aus dem Alltag in Israel sowie israelisch-jüdische gesellschaftliche Muster und Bräuche im weiteren Sinne immer wieder eine Rolle im Hintergrund der Werke.
Hauptschauplatz der Ausstellung ist der große Raum im Erdgeschoss des Kunstvereins. Ausgehend von der umlaufenden Verglasung ist die Fläche als transparentes Glashaus konzipiert, welches gemeinsam mit der Betonung auf die physische Umgebung durch die Werke das Außen nach Innen holt. Signalisiert durch Trennwände ist GUILTY CURTAIN wie ein Buch in drei Kapitel aufgebaut. Den ersten Raum bestimmen zwei jeweils an eine Sänfte und ein Fahrzeug erinnernde, aus feinen Mahagoniholzlatten konstruierte Skulpturen auf gemusterten Filzteppichen, die wie viele der folgenden Werke in einer Kooperation der Künstlerinnen Naama Arad und Tchelet Ram entstanden sind. Beide im Feld der Installationskunst und Bildhauerei aktive Künstlerinnen vereint die Aneignung von vorhandenen Objekten und deren entfremdende Überführung in neue Zusammenhänge, innerhalb derer die üblichen diesen Dingen anhaftenden Bedeutungen destabilisiert werden. Die beiden aus Alltagsgegenständen zusammengesetzten Skulpturen „In Search of Lost Time“ und „If Looks Could Kill“ (2020) sind von den Künstlerinnen als Charaktere gedacht, welche Eigenschaften ihrer Erschafferinnen verkörpern. Tchelet Rams mit strohigen Wurzeln bedecktes und auf Toilettenpapier ruhendes Fahrzeug etwa greift die in israelischen Kibbuz verbreitete Praxis der Bewegung in Golfcars auf, während Naama Arads Werk mit hautähnlichen Tüllstoffen und einem Tablet-Halter auf Körperlichkeit verweist. Beide Werke spinnen verschiedene semiotische Ebenen und subjektive Erfahrungen der Künstlerinnen mit ein, wie die Ebene der Sprache und Identität.
Mit einem touristische Infoboards nachahmenden Postkartenständer in Optik einer Waldhütte und einem palmenartigen Gebilde aus mit Gips bedeckten Metallgerippen, wie sie für Regenschirme verwendet werden, basieren sich Lior Shachars und Oren Pinhassis Arbeiten „A Trap“ (2018) und „One in the mouth and one in the heart“ (2018) ebenfalls auf der Herauslösung von Gegenständen aus ihrem gewohnten Kontext. Die Postkarten von Lior Schachar, die sich mit der Zeichenfunktion im Internet kursierender Illustrationen und Amateurhandwerk aus dem öffentlichen Raum beschäftigt, weisen mit Motiven kitschiger Dekofiguren und Artefakten aus der Natur allesamt auf die Umgebung des Waldes hin. Oren Pinhassis sich gängiger Kategorien zwischen menschengemachtem Ding und Wesen der Natur entziehende Skulptur thematisiert mit ihrem auf einem hebräischen Sprichwort beruhenden Titel hingegen die nie zu schließenden Differenzen zwischen Intention und Erscheinung. Beide Werke bauen so eine neuartiges Verhältnis zwischen dem Betrachter und der Welt der Dinge auf.
Der nächste Raum der Ausstellung schließt sich mit mehreren in Zusammenarbeit von Tchelet Ram und Naama Arad entstandenen Arbeiten, die in einer humorvoll-anekdotischen Verfremdung von Alltagsgegenständen alle gemeinsam das Umfeld der häuslichen Umgebung verkörpern, auf die vorigen Neuverknüpfungen innerhalb der Objekt-Betrachter Beziehungen im ersten Raum an. Eine Küchenschranktür, unter der sich ein aufgeblasener Gummihandschuh hervorkämpft, kunstvoll in ein Korallengebilde gestecktes und majestätisch auf einem Aluminiummülleimer platziertes Besteck sowie ein in Schafwolle versteckter gebrauchter Mini-Backoffen sind Beispiele solcher eigentlich in wenigen Handgriffen getätigten Neuanordnungen, die dennoch etablierte Kategorien und die darin codierten Beziehungen zu diesen Dingen völlig verschieben. Eine solche Verschiebung nimmt auch die in die Trennwand vom zweiten in den dritten Raum eingreifende Installation aus zwei Rundfenstern von Noa Schwartz vor („The Window“, 2016). Angelehnt an typische Fenster der in Tel Aviv allgegenwärtigen Bauhaus-Architektur ist das besondere dieser Fenster, dass sie sich ihrer eigentlichen Funktion entgegen nicht beide gemeinsam schließen lassen und so eine Metapher für das Miteinander-Auskommen trotzt Widerstände bilden.
Der dritte Abschnitt der Ausstellung ist geprägt von zeichnerischen Installationen von Nora Schultz und einer gemeinsamen Präsentation von verfremdeten objets trouvés und minimalistischen Readymade-Skulpturen aus Alltagsmaterialien der deutschen Künstlerin Ursula Burghardt (gestorben 2008) sowie der israelischen Gegenwartskünstlerinnen Etti Abergel und Noa Glazer. In einem für Einbauküchen verwendeten weißen Regal präsentiert, bilden die Objekte von der in eine jüdische Familie geborenen Ursula Burghardt, die unter den Nazis nach Israel fliehen musste und 1950 nach Köln zurückkehrte, wo sie sich der Fluxusbewegung anschloss, das verbindende künstlerische Thema dieser „Ausstellung in der Ausstellung“. Burghardts aus Aluminium nachempfundene Alltagsobjekte, wie ein Schirm, Stiefel und eine Aktentasche, enthebeln ebenso wie die Werke der jüngeren Künstlerinnen die mit ihnen verbundenen bürgerlichen Konventionen und machen banale Alltagsdinge zum reizvollem Fetisch.
Dieses Prinzip der poetisch-semiotischen Neuaufladungen macht sich auch Etti Abergel zu eigen, indem sie aus alltäglichen Gegenständen aus Israel mit gezielten Eingriffen Readymades schafft. Assoziativ verschoben durch persönliche Erfahrungen der Künstlerin, stecken diese voller harmonischer Widersprüche: eine Brautschuhsandale auf Rollen, ein gänzlich von Bast verschlungener Kunststoff-Einkaufskorb, ein mit Sicherheitsnadeln bespickter Fussball und eine statueske, in einem Einkaufsnetz gefangene schwarz lackierte Weinflasche. Noa Glazer treibt diese Verschiebungen von Materialien in fremdartige Kontexte weiter, indem sie aus Lebensmitteln, synthetischem Material und Naturstoffen in einer unorthodoxen Weise organische Objekte mischt und konstruiert, die kaum mehr etwas von ihren Ursprungsstoffen verraten. Fest in der physischen Welt verankert, schaffen diese zunächst bezugslosen und doch ausdrucksstarken Gebilde Leerstellen, welche der/die Betrachter*in erst einmal mit Sinn füllen muss.
Der Küche mit den Readymades und Mischobjekten gegenübergestellt sind großflächige Zeichnungen und eine Sound-Installation von Nora Schultz. Ausgehend von der Übertragung von Außengeräuschen der anliegenden Straße in den Innenraum des Kunstvereins, beschäftigen sich alle Arbeiten mit der Wahrnehmung des Hörens und der Art und Weise, wie dieser Sinn die Verortung des Körpers im Raum steuert, aber auch vortäuschen kann. Die beiden Zeichnungen „Not an Ear“ 1 und 2 von auf Draht aufgefädelten „Ohren“ etwa schwanken zwischen der Innen- und Außenperspektive und scheinen in den endlosen Windungen dem Versuch zu einer endgültigen Darstellung zu gelangen, stetig zu umgehen – als Verbildlichung der Fragilität unseres Bedürfnisses nach Orientierung.
Eine Art Reprise der Motive der Positionen mit ihren Dynamiken von Entfremdung, Umdeutung und Annäherung nimmt GUILTY CURTAIN mit einer Rauminstallation von Objekten von Naama Arad und Tchelet Ram sowie Noa Schwartz und Photographien von Julie Becker im Studio in der 2. Etage vor. Der sonst fast leere Raum wird dominiert von der Präsenz eines mit einer rustikalen Wolldecke überzogenen Eisenbettes, in das eine mit Wasser gefüllte Plastikschüssel eingelassen ist, in der Plastikwimpern schwimmen („Brainstorming“, 2020). Mit ihrer Anspielung sowohl auf die Praxis, für das jugendliche Alter in Israel eine spezielle Bettform bereitzustellen, als auch den Verweis auf die Zeit des Militärdienstes, aus der diese Art spartanische Liegen ebenfalls bekannt sind, verkörpert die Arbeit ganz unterschiedliche persönliche Erlebnisse aus dem Leben der Künstlerinnen Naama Arad und Tchelet Ram , welche gleichzeitig kollektive Erfahrungen junger Menschen in Israel darstellen. Die eingelassene Plastikwanne mit den rätselhaften Augenbrauen bringt eine emotionale Note mit in die Installation, welche verstärkt wird durch die beklemmenden Aufnahmen von möglicherweise so gar nicht existierenden Raumecken mit kindlichem Tapetenmuster und roten Plüschteppich von Julie Becker. Eine skurrile Fusion von Stadtraum und dem Leben seiner Bewohner in Tel Aviv signifiziert der mit Sand aus Nordisrael abgegossener Katzenfuttertrog aus Gips von Noa Schwartz („Noutrisource“, 2020). In seiner Form verkörpert er die modernistische Architektur und spielt dabei gleichzeitig auf die den Alltag vieler Städter*innen prägenden, häufig quasi-adoptierten streunenden Katzen an.
An einen bedeutenden öffentlichen Platz und Sitz vieler Kulturinstitutionen in Tel Aviv nimmt uns zuletzt die Künstlerin Michal Samama anhand ihres im Kino im Erdgeschoss zu sehendem Performancevideos „Lament of Plastic“ (2014) mit. Man sieht die Künstlerin in einer innigen Interaktion mit einem aufgeblasenem Plastiksack, den sie mit der Fläche ihres Körpers erspürt, bewegt, einzwängt und umhüllt. Vor dem Hintergrund der zahlreichen, die Spannungsverhältnisse zwischen Körper und Objekt betonenden Objekte in GUILTY CURTAIN schlägt dieses Werk eine Vereinigung von Mensch und Gegenstand zu einer hybriden Skulptur vor. Wie es durch das unangenehme quietschende Geräusch der Gliedmaßen auf der Oberfläche des Plastikballs verdeutlich wird, gestaltet sich auch diese Liaison (noch) nicht endgültig harmonisch. In einer Welt, wo Kooperationen im Kunstbereich über große Entfernungen in der Kommunikation im digitalen Raum entstehen, ist „GUILTY CURTAIN“ in gewisser Maßen eine Hinlenkung zurück zu der Konzentration auf die Wirkung der Dinge um uns herum. Eine weitere reizvolle Ebene erhalten diese Objekt – Betrachter*in Konstellationen dadurch, dass sie auf subtile Weise die Erfahrungen einer jungen Generation von Israelis in ihrer unmittelbaren kulturellen und gesellschaftlichen Umgebung wiedergeben. Und in diesem Aspekt findet sich auch die Verbindung zum Gedenkjahr „2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Denn Naama Arad erzählt während der Führung immer wieder vom Modernismus und dem Bauhaus als Gründungsprinzipien des Staates Israel. Der Schlüssel der Verflechtung zwischen beiden Staaten liegt für sie so im architektonischem Programm des Kölnischen Kunstvereins selbst begründet. Ganz nebenbei gibt die Kuratorin und Künstlerin so einen Hinweis auf das gemeinsame kulturelle Potential israelisch-deutscher Beziehungen.