Yann Annicchiarico - Diener Zweier Herren—KIT

Eigentlich gehen wir oft blind durch die Welt. Das Sehen und die Erfassung unserer Umgebung sind alltägliche Funktionen unseres Bewusstseins, derer wir uns oft erstaunlich unbewusst sind. Doch die menschliche Wahrnehmung ist ein vielschichtiges Phänomen, das sich verlagern, herausfordern und hinterfragen lässt. So begreift es der luxemburgische Künstler Yann Annicchiarico, der ein eng auf die Architektur des KIT reagierendes Ensemble von Arbeiten geschaffen hat, welches das Gehen durch die sonst als gegeben betrachteten räumlichen Strukturen des Ausstellungsortes KIT in ein Wandeln wandelt. In der Begegnung mit den installative, skulpturale und filmische Mittel einsetzenden Stationen des Gesamtensembles ,,Diener zweier Herren“ will der Künstler den Betrachter dazu anstoßen, während der Durchquerung sich der Funktion des Sehens von Neuem bewusst zu werden und die Rolle des Blickes für die Orientierung im Raum zu erfahren. Durch die Umkehrung von Größenordnungen und den Verhältnissen zwischen Innen und Außen sowie der Überquerung der Grenzen zwischen den Spezies, hebt der Annicchiarico die Gewohnheiten der Wahrnehmung auf und öffnet so dem Betrachter von Innen heraus die Augen.

Konkret auf das Phänomen des Sehens referierend agiert eine überdimensionale 3D Brille, die eingelassen ist in den sich nach hinten verengenden Bereich des KIT am Eingangsbereich des Ausstellungsraumes, wie eine Einladung zu einem Einlassen auf den Sehprozess während der Begehung der Ausstellung. Die Hohlräume hinter den jeweils blauen und roten Gläsern der Brille dienen als Terrarium für Pflanzen, die dort durch künstliche UV-Bestrahlung die idealen Lichtbedingungen zum Wachstum vorfinden. Eine anziehende Atmosphäre eines surrealen Aquariums geht von der Brille aus, die dem Gedanken des Künstlers nach wie eine Anekdote über den menschlichen Sehprozess fungiert, aber dabei auch unsere physiologischen Grenzen des Umgangs mit Licht gegenüber anderen Spezies aufzeigt. Nur aus getrennt pro Auge im Gehirn ankommenden Bildern kann das Gehirn dreidimensionale Bilder erzeugen, eine Tatsache, die sich die Technik der 3D Brille anhand der farblicher Filter zu nutze macht, die eineTrennung in der Lichtaufnahme durch das Auge erzeugen. Ein billiger Trick, wenn man daran denkt, dass die Art und Weise, wie Pflanzen in der Lage sind, Licht in Zucker umzuwandeln, für uns weder sichtbar noch wahrnehmbar ist.

Diesen Ansatz, dass die Bewusstwerdung der eigenen Wahrnehmung immer auch eng verbunden ist mit dem Erspüren der eigenen Grenzen, führt Annicchiarico in einer weiteren Arbeit fort. Ähnlich wie die Brille artikuliert diese sich ebenfalls über die Dimensionen der Größenverhältnisse, des Lichtes und des Sehens, sowie der Grenzen zwischen den Spezies und der Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. Konzept und Aufbau dieser an eine fragile Skulptur erinnernden Arbeit sind sehr poetisch. Direkt unter einem der Lichtschächte bildenden Fenster des KIT hat der Künstler ein kleiner dimensioniertes Glasmodell dieses Fensters platziert, in das er zuvor nachts in seinem Garten durch Beleuchtung Nachtfalter gelockt hat. Auf der schwarz verrußten Dachfläche dieses Kastens haben die Falter durch ihren Flügelschlag Spuren hinterlassen und so eine Art von Zeichen hinterlassen. Diese Flügelzeichen hat der Künstler wieder auf eine Folie übertragen und auf die Schachtfenster geklebt, die Nachts angestrahlt so die ,,Nachrichten“ der Nachtfalter im Stadtraum außerhalb des KIT verbreiten.

Nachtfalter sind eine faszinierende Spezies für Annicchiarico, da ihr Habitat, die Nacht und die Art und Weise, wie sie mit Licht umgehen, für die menschliche Wahrnehmung unzugänglich sind. Durch die Begegnung mit dem undechiffrierbarem Muster, welches sie angezogen von einer künstlichen Lichtquelle hinterließen, sensibilisiert der Künstler uns wieder für die Grenzen unserer Erfahrung, die mehr und mehr auf bestimmte Bedingungen und Gesetze festgelegt erscheint. Das Arbeiten mit Projektionsmethoden, der Übertragung von bestimmten Verhältnissen in andere Dimensionen oder Gegebenheiten, nimmt so einen zentralen Platz in seinem Werk ein. Dabei zeigt er, dass es nicht die Begrenzungen der Technik, sondern in erster Linie die Grenzen der menschlichen Fähigkeit zur Erfassung oder Verarbeitung der transformierten Dinge ist, welche die durch ihn entwickelten Projektionsmethoden zur Unmöglichkeit führen.

Diese Verwirrungen, die durch an sich hinterschaubare Techniken der Projektion entstehen, macht sich Annicchiarico in einer weiteren installativen Arbeit zu nutze, die dem Betrachter in zwei Lichtprojektionen in Fussbodenhöhe an die Wand gestrahlt während des Durchqueren des zur großen Ausstellungshalle führenden Flurs begegnet. Was in scheinbar identischer Form zu sehen ist, erinnert an ein filmisches Experiment in schwarz-weiß: vom Dunkel eingerahmte, flimmernde weiße Rechtecke, die wie von einer unstabilen Kamera aus gefilmt ruckeln und teils von kaum sichtbaren Schatten in Sekundenbruchteilen unterbrochen werden. Was der Betrachter tatsächlich sieht, ist eine Kameraeinstellung aufgenommen aus einem Fenster eines architektonischen Modells des KIT, die der Künstler gedreht hat während er mit dem Auto und diesem Modell im Gepäck einen Tunnel durchquert hat. In der Arbeit sieht der Betrachter so eines der wesentlichen Bauelemente des umgebenden Raumes, aber ausserhalb des KIT in ein Umfeld transferiert, welches das KIT als zwischen befahrenen Tunneln liegender Hohlraum wesentlich bestimmt. In dieser Station findet eine Aufschichtung von Projektionen statt, inszenierter und realer, die sich der Betrachter aber unbewusst ist, so lange er sich nicht darauf einlässt und mit den Raumverhältnissen auseinandersetzt.

Zu dieser Beschäftigung mit der Frage ,,Wo sind wir eigentlich“ will Annicchiarico einen noch in weiteren Arbeiten anstoßen. Am prägnantesten und unausweichlichsten begegnet diese Fragestellung dem Besucher in dem Hauptwerk der Ausstellung, bezeichnet als ,,Gestell“, welches anhand seiner gewaltigen Labyrinth-artigen,  das Schreiten und Sehen in völlig neue Richtungen lenkenden Dimensionen, wie keine andere Arbeit in die Raumerfahrung eingreift. Die Module aus schwarzem MDF, ein künstlicher Pressbaustoff mit Holzbestandteil, bestehen aus genormten Bauteilen und erinnern durch offene Raster teils an Regale. An vielen Stellen sind die raumteilenden Strukturen transparent, bilden Fenster oder Türen und ahmen anhand montierter Deckplatten Treppenverläufe nach. Durch die regelmäßige Wiederholung dieser einzelnen Bestandteile und deren Transparenz bilden die Module Räume, die von vielen Seiten her einsehbar sind und nie ganz geschlossen.

So ist die Erfahrung der Durchquerung der Installation eigentlich nicht die eines Labyrinthes, da jeder Raum wieder aufgeht in den Ausstellungsraum, sei es perspektivisch oder durch die Struktur des Aufbaus. Und obwohl man sich durch diese Transparenz nicht verirren kann, es keine richtigen oder falschen Wege gibt, beunruhigt doch gerade dieses Gefühl der Offenheit, dass die Räume nie etwa abgeschlossenes Ganzes bilden, überhaupt nicht klar ist, ob die Module mit ihren anhand von Normmaßen Fenster und Türen vorgaukelnden Öffnungen überhaupt als ,,Wände“ Raumbegrenzungen darstellen. Dieses Gefühl der Unsicherheit in der Verortung innerhalb der ,,Räume“ der Installation ist von Annicchiarico intendiert. Denn dem Künstler geht es um die Erschaffung ,,potentieller Räume“, Räume, die mehr von der individuellen Wahrnehmung des Betrachters abhängen als von den tatsächlichen Begebenheiten des Ortes. Indem Annicchiarico den Besucher durch die Erfahrung der Installation an die Stelle bringt, an der alles unstabil erscheint, macht er darauf aufmerksam, dass es in erster Linie die unhinterfragten Gesetzte unserer Wahrnehmung sind, die Räumen ihre Qualität als Ort verleihen und ein Gefühl von Stabilität vermitteln.

Die enge Verkettung zwischen physischer Struktur und den darauf ,,blind“ reagierenden Wahrnehmungsgewohnheiten stellt der Künstler in einer weiteren, der Folge des Parcours nach finalen Arbeit auf die Probe. Mit einer in zwei Komponenten, einer akustischen und einer visuellen, aufgeteilten Filmarbeit, reagiert Annicchiarico wieder auf die speziellen Verhältnisse dieses Raumes, der durch eine Trennwand und den dahinter spitz zulaufenden Wandverlauf eine Art geschützten Bereich bietet. Mit dem Lauten Surren eines 16mm-Projektors in der einen Ecke des Raumes und einer davon völlig unabhängigen Bildprojektion einer Filmaufnahme eines von Nachtfaltern und anderen Insekten bevölkerten, beleuchteten weißen Kissenstoffes, kann der Betrachter zunächst nicht umhin, beide Teile als Eines zu interpretieren. Durch einen die Raumecke ausleuchtenden Scheinwerfer wird der Betrachter selbst wie Motten ins Licht zu den ratternden Filmspulen gelockt um festzustellen, dass es allein die Vertrautheit des Geräusches in Zusammenhang mit dem leuchtenden weißen Kissenstoff an eine projizierte Leinwand erinnernde Filmarbeit ist, die die Wahrnehmung hier in die Irre führt.

So wie der Künstler erzählt, dass der Kissenstoff und die sich darauf sammelnden Nachtinsekten für ihn die Schwelle zu einer Welt symbolisieren, die außerhalb unser Wahrnehmung liegt, scheint es wenig plausibel, dass es Annicchiarico in seiner Arbeit vordergründig darum geht, den Betrachter zu täuschen oder auszutricksen. Wie der Titel ,,Diener zweier Herren“ signalisiert,  angelehnt an das gleichnamige Theaterstück von Carlo Goldoni (1707-1793), in dem der Protagonist sich in ein Spiel verstrickt, innerhalb dessen er in der Rolle eines Harlekin sich ohne das gegenseitige Wissen dieser als Lakai zweier Herrschaften anheuert, stößt der Ansatz des Künstlers vor in diese Gegensätzlichkeiten der Wahrnehmung, deren Reflektion dadurch erschwert wird, dass sie sich in unvereinbaren Kategorien äußern, wie Distanz und Nähe, Innen und Außen, Licht und Dunkel. Annicchiarico gelingt es in seinem Werk durch den Anstoß einen Prozess des Bewusstwerdung diese Dualismen zu überbrücken und  zu einer neuen Art von Ganzheitlichkeit zu gelangen. Führt der Künstler den Betrachter hinters Licht, dann in Form eines Perspektivenwechsels. Er begleitet den Betrachter an die wohl nur in der Kunst erreichbaren Stelle, von der man aus in der Lage ist, das Sehen zu Betrachten.

 

 

Yann Annicchiarico Diener zweier Herren, 2020 KIT – Kunst im Tunnel  |  Foto: Ivo Faber

Yann Annicchiarico Diener zweier Herren, 2020 KIT – Kunst im Tunnel  |  Foto: Ivo Faber

Yann Annicchiarico Diener zweier Herren, 2020 KIT – Kunst im Tunnel  |  Foto: Ivo Faber

Yann Annicchiarico Diener zweier Herren, 2020 KIT – Kunst im Tunnel  |  Foto: Ivo Faber