off the beaten rack —KIT Düsseldorf

Die Auseinandersetzung mit Körperbewusstsein zählt zu den wenigen Themen in der Kunst, die ausstellungstechnisch tatsächlich schwer umzusetzen sind. Schließlich dürfen die Kunstwerke in der Regel nicht berührt werden. Dies führt dazu, dass man von Künstler*innen in Ausstellungen zwar viel über Körperwahrnehmung und -bilder erfährt, die Betrachter*innen in ihrer eigenen Subjektivität aber meistens nicht eingebunden werden. Eine Ausstellung im KIT Düsseldorf  off the beaten rack gelingt es mit erstaunlicher Leichtigkeit, diese Lücke zwischen Kunst und Besucher*in zu schließen, indem sie Werke von taktilem Reiz und sinnlicher Ausstrahlung präsentiert, die unmittelbar eine Verbindung zur eigenen Körpererfahrung aufbauen. In sechs Positionen beschäftigen sich die Künstlerinnen der Ausstellung Lisa Biedlingmaier, Paloma Proudfoot, Isa Schieche, Camilla Steinum und Theresa Weber, die von Nantje Wilke kuratiert wurde, mit der Frage, wie der Körper im sozialen Gefüge als Träger von Gefühlen, Erinnerung und Traumata funktioniert. Die Künstlerinnen entwerfen Ideen und Werkzeuge, die den Körper erweitern, um die eigene Identität zum Ausdruck zu bringen. Als Tools dienen diese aber auch dazu, sich selbst besser kennenzulernen, zu ergänzen und abzugrenzen. Ein Parcours aus nahbaren Werken und Installationen, welche die Sinne berühren, lädt dazu ein, das Verhältnis zum eigenen Körper auf eine neuartige Weise zu erfahren und in abenteuerliche und mystische Bereiche einzutauchen.

Für den schmalen Flur, der vom Eingangsbereich hinunter zur Ausstellungshalle führt hat Camilla Steinum (*1986 in Oslo) eine Installation entworfen, welche die eigenen Bewegungen beim Begehen unwiederbringlich ins Stocken bringt. Als Besucher*in durchschreitet man eine Wolke von Vögeln, schlichte Mobiles aus Holz, deren Flügel sich über herabhängende Schnüre bewegen lassen. Obwohl die Künstlerin hier durch die an Spielzeug erinnernden Holztiere und das partizipative Moment viele spielerische Elemente miteinbringt, hat die Dichte der schwebenden Objekte, die ständig ihre Flugrichtung ändern, etwas subtil Bedrohliches. Dieses Unwohlsein wird erhöht durch eine Soundarbeit, deren dumpfe, schlagende Klänge von beiden Seiten in regelmäßigen Abständen auf einen einprasseln. Das monotone Klopfen fasziniert, drängt einen aber auch irgendwie dazu, sich nicht zu lange in der Installation aufzuhalten. Die Klänge werden in der Traumatherapie verwendet, wo sie dazu beitragen sollen, die beiden Gehirnhälften in Einklang zu bringen und emotionale Blockagen zu lösen.

Camilla Steinum arbeitet in You can move mit zwei zentralen Polen der körperlichen und seelischen Erfahrung, Kontrolle und Kontrollverlust. Der Begriff des Traumas wird hier durch die Verwendung von Spielzeug, dass auch Ängste auslöst (eine typische traumatische Kindheitserfahrung) und dem Entwurf einer paradoxen, schwer einordbaren Situation auch für nicht-betroffene Personen nachvollziehbar. In ihrem Werk rücken so die komplexen, häufig unbewussten emotionalen und körperlichen Beziehungen in den Vordergrund, die wir zu scheinbar banalen Alltagsobjekten haben. Wie zum Beispiel alte Teppichklopfer, die hier in Bronze gegossen wie dekorative Objekte hängen. Diese Klopfer stehen für mühsame und anstrengende Arbeit, wurden aber auch als Mittel zur Züchtigung benutzt. Obwohl diese Gegenstände mittlerweile genauso wie die Praxis der physischen Bestrafung weitgehend aus dem Alltag verschwunden sind, haftet ihnen, wie ein kollektives Trauma, immer noch ein unangenehmer Beigeschmack an.

Um Körperlichkeit zu thematisieren, ist Ton eigentlich ein ideales Material, da es selbst ein großes Formungspotential mitbringt und wie die körperliche Entwicklung verschiedene Stadien im Bearbeitungsprozess annehmen kann. Die britische Künstlerin Paloma Proudfoot (*1992) macht sich dieses Potential zu nutze, indem sie reizvolle, teils rätselhafte Objekte und Bilder aus Keramik fertigt, die eine phantasievolle Aura haben. Im Eingangsbereich sind in bunten Farben glasierte Körperfragmente wie Torsos und ein sitzender Körper zu sehen, der auf Höhe der Brüste und der Oberschenkel abgeschnitten ist. Die Werke, die auf Körperabgüssen ihrer Freundinnen beruhen, wirken wie abgestoßene Hüllen, die von ihren Träger*innen abgeworfen wurden. Hier erscheint der Körper als Gefäß für Sehnsüchte, aber auch beengende Umhüllung, gegenüber der man sehr unterschiedliche Gefühle haben kann. An diese individuelle Sensibilität der Betrachter*innen knüpft auch die Arbeit On a Scale of One to Ten an, die aus aneinandergereihten übergroßen Nadelobjekten aus Ton in unterschiedlichen Größen besteht. Nadeln faszinieren Paloma, da man mit ihnen sowohl verbinden, reparieren und heilen kann, sich aber auch leicht durch sie verletzen kann. Basierend auf dieser Konnotation bilden die Nadeln eine Skala zur Beschreibung von individuellen Schmerz, der sich medizinisch tatsächlich schwer einordnen lässt. Als häufig in Märchen erwähntes Objekt verknüpft die Künstlerin die Nadeln mit einer gesellschaftlichen Botschaft. Diese bezieht sich auf die Tatsache, dass die Stickereiarbeit kulturhistorisch lange eine der wenigen geschützten Kanäle darstellte, über die Frauen ihre Gefühle mitteilen konnten.

Dieser Hang zum Mystischem, der Palomas Keramiken durchzieht, kommt erneut in dem Wandrelief The Three Living and the Three Dead zum TragenDas Werk ist aus einzelnen dünnen, glasierten Keramikplatten zusammengesetzt, die hier wie ein Wandteppich eine Gruppe von Gestalten bilden, die als halb-Lebende und halb-Tote aufeinandertreffen. Die Geschichte dieser Menschen, die untereinander Gefallen an den Muskeln und Sehnen finden, die sich unter ihrer Haut hervorschälen, ist von einer mittelalterlichen Legende inspiriert, in der drei Edelmänner von drei wandelnden Toten ermahnt werden, sich an die Flüchtigkeit des Lebens zu erinnern. Indem die Künstlerin die Legende in eine magische Begegnung in lebendigen Farben umwandelt, nimmt sie dem Tod und der körperlichen Vergänglichkeit ihren Schrecken, findet aber auch Ausdruck für eigene Erfahrungen. Leben und Tod werden hier wie Verbündete dargestellt, durch die sich jeweils Pforten in unterschiedliche Welten öffnen, wie es durch eine Frau mit einem Embryo im offenen Bauch, aus deren Schultern Bäume wachsen, symbolisiert wird.

Die wie ein Labyrinth zum Erkunden von der Decke herabhängende Installation von Theresa Weber (*1996) hat mit geknüpften Netz-Kostümen und durchsichtigen Tropfen aus Kunstharz (Tears), in die verschiedene kleine Objekte eingegossen sind, einen großen verführerischen Reiz. Die überschwängliche Präsenz von kunstvoll verarbeiteten Stofffragmenten und glänzenden Partikeln lässt einen in die Scheinwelt einer Luxusboutique eintauchen. Doch dieser Eindruck wird bald wieder  durch die intime emotionale Aufladung gebrochen, die den Objekten anhaftet. Die Künstlerin hat der Installation den Titel Moonlight-Sonata gegeben, als Hommage an Beethoven, der ihrer Darstellung nach wie sie selbst einen jüdischen und afrikanischen Hintergrund hatte (worüber zur Zeit spekuliert wird, wofür es jedoch keine wissenschaftliche Evidenz gibt). Indem sie Optionen zur Erweiterung und Verkleidung des Körpers vorschlagen, erforschen Theresa Webers Arbeiten den Vorgang, wie das innere (weibliche) Selbstbild in Identität übersetzt wird, die nach Außen getragen wird. So farbenfroh ihre Objekte und Kostüme auch wirken, vermittelt gerade ihr übersteigerter Charakter den Eindruck, dass dieser Prozess nie vollkommen ist und der Ausdruck der eigenen Gefühle durch Accessoires eine Illusion bleibt. Kostüme, die aus eigenen zerschnittenen Kleidungstücken bestehen und in die unzählige Kunststoffpartikel wie Erinnerungen eingeflochten sind, oder Tränenobjekte, die Texte und Fotos von ihr beinhalten, bilden ein glattes, schönes Erscheinungsbild, das dennoch nur ein Fragment der eigenen Biografie ist. Durch den gezielten Einsatz von Kunststoffprodukten wie Strass, Kunsthaar oder Kunstnägeln, sogenannten „Extensions“, holt Theresa Weber die komplexen sozialen Prozesse an die Oberfläche, welche die Entscheidung – oder auch den Zwang – antreiben, das eigene Körperbild zu „erweitern“.

Reverse Cowgirl: skill and tools ist ein performatives Setting der Künstlerin Isa Schieche (*1988 in Ried), das bewusst mit der (sexuellen) Zweideutigkeit von Objekten des Brauchtums aus dem ländlichen Österreich spielt und die starren Geschlechterbilder dekonstruiert, die mit diesen Gegenständen verbunden sind. Der Hauptteil der Objekte, die hier zu eine Art Spielplatz aufgebaut sind und die als Geschicklichkeitsspiele benutzt werden können, ist aus Holz, einem urigen, traditionell mit männlichem Handwerk verbunden Material. Sie sind jedoch so perfekt in grellen Farben lackiert, dass ihr Material gar nicht mehr klar erkennbar ist. Bereits auf substantieller Ebene sind die Gegenstände, in denen sich spielerische Aspekte mit Gefahr verbinden, ein Ausdruck von Queerness. Isa Schieche gelingt es, das unheimliche, gewaltvolle Potential von alten Bräuchen herauszustellen, indem sie etwa Köpfe aufstellt, aus denen sich ziemlich scharfe Holzmesser ausklappen lassen, oder Stangen zeigt, an deren Spitze sich Köpfe mit Ratschen befinden, die laut erklingen, wenn man an den Stangen dreht.

Die Gegenstände sind dabei an solche Objekte angelehnt, anhand derer früher junge Männer auf Dorffesten ihre Geschicklichkeit demonstrieren konnten, vor allem auch um sich vor potentiellen Partnerinnen zu präsentieren. Isa Schieche exponiert den tiefen Sexismus, der diesen Dingen aus dem Brauchtum, die heute noch eingesetzt werden, eingeschrieben ist. Ihre Objekte, wie herumliegende Lassos in Regenbogenfarben oder eine Holzschlange, die durch einen eingebauten Vibrator vibriert, wenn man sie aufschraubt, verbinden auf eine sehr ähnliche Weise Unschuld und Gefahr. Doch anders als ihre Vorbilder aus dem Brauchtum bricht deren Verwendung mit Geschlechterklischees. Indem sich ihre Benutzer*innen gerade auf ihre schräge Andersartigkeit einlassen müssen, hat die Künstlerin ein Bühne erschaffen, auf der man sich spielerisch in der Akzeptanz queerer Identität erproben kann.

Anhand der Simulation einer Unterwasserwelt, die das Abtauchen ins Unterbewusstsein symbolisiert, hat Lisa Biedlingmaier (*1975 in Tscheljabinsk, RU) für die Ausstellung ebenfalls ihre eigene Art von „Spielplatz“ entworfen. Die Künstlerin arbeitet mit der Technik des Makramee, einer ursprünglich aus dem Orient stammenden Knüpftechnik zur Herstellung von Kleidung und Schmuck, die sie in verschiedenen Materialien wie Stoffen und Tauen anwendet, aber auch in erweiterter Form in Netzstrukturen aus Plexiglas übersetzt. Für Lisa hat das Knüpfen eine spirituelle Bedeutung, da der einzelne Knoten als Struktur sowohl verbinden als auch blockieren kann. Sprichwörter wie „einen Knoten in der Brust haben“ belegen Lisas Ansatz, demzufolge die Vorstellung vom Knoten eine Schnittstelle zwischen Körper und Seele beschreibt. Ausgehend von einem erweiterten Körperbegriff aus dem Yoga, der die Dichotomie zwischen Körper und Geist aufhebt, spürt die Künstlerin in ihren Makramee-Werken nach, wie sich Erlebnisse festsetzen, welche persönlichen Strukturen vielleicht schon von Geburt an eingeknüpft sind und wie sich Knoten in Form von seelischen Belastungen lösen lassen.

Die Rauminstallation, die durch einen Sound mit sphärischen Klängen ergänzt wird, nimmt den Besuch mit in die Unterwasserwelt der Cenoten in Mexiko, mit Süßwasser gefüllte Löcher, die durch eine Art Höhlensystem verbunden sind. Für die Maya waren diese Wasserlöcher Zugänge in die Welt der Götter und Toten und hatten eine große spirituelle Bedeutung in ihrem Glaubenssystem. Diese Idee greift Lisa Biedlingmaier auf, indem sie die Cenoten als Pforten versteht, die Zugang in die Tiefe des Unterbewusstseins geben. Zwischen bläulichen Lichtern und tiefen Klängen meint man sich als Besucher*in gänzlich in dieser Welt zu befinden, in der man sich zwischen Macramee Arbeiten aus Plexiglas, die hier wie Seegras Mitten im Raum schweben, weiterbewegt. Wichtigste atmosphärische Komponente, von der auch der Sound stammt, ist die Videoarbeit MANA, in der man aus der Perspektive vom Grund Makramee-Figuren, die aus dünnen Segeltauen geknotet sind, dabei beobachten kann, wie sie schwebend in die grün-blaue Unterwasserwelt der Cenoten hinabsinken. Durch die Erschaffung einer mystischen Unterwasserwelt, in der Makramee-Arbeiten persönliche Erfahrungen, gute wie schlechte, symbolisieren, hat die Künstlerin ein berührendes Bild für das menschliche Bewusstsein geschaffen, in dem es eine universelle Struktur gibt: bedingungslose Liebe (mana).

In Werken, die auf vielfältige Art den Körper und das eigene Körpergefühl ansprechen, erforschen die Künstlerinnen in off the beaten rack von unterschiedlichen Perspektiven aus die Möglichkeit von Erweiterungen und Ergänzungen. Häufiger als konkrete Werkzeuge vorzuschlagen, betrachten die Positionen die Frage, wie sich körperliche und seelische Erfahrungen überhaupt in die Sprache der Kunst übersetzen lassen. In dieser Betrachtung, die bestehende Ansätze der körperlichen Wahrnehmung und Transformation auf neuen Wegen erforscht, finden die Elemente des Ausstellungstitels off-the-rack und „off the beaten track“ schließlich zusammen. Die Positionen machen aber vor allem deutlich, dass keine Form der Extension schließlich dem Selbst, das im Inneren empfunden wird, vollständig gerecht werden kann und dessen beste/r Kenner*in allein man selbst bleibt.

 

Paloma Proudfoot, A History of Scissors, 2019  |  Foto: Marina Sammeck

Camilla Steinum, you can move, 2022  |  Foto: Ivo Faber

Paloma Proudfoot, The Three Living and The Three Dead, 2022  |  Foto: Marina Sammeck

Theresa Weber, Tears, 2022  |  Foto: Ivo Faber

Ausstellungssansicht mit Arbeiten von Isa Schieche, „off the beaten rack“ KIT – Kunst im Tunnel, 2022  |  Foto: Ivo Faber

Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Lisa Biedlingmaier, „off the beaten rack“ KIT – Kunst im Tunnel, 2022  |  Foto: Marina Sammeck

Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Lisa Biedlingmaier, „off the beaten rack“ KIT – Kunst im Tunnel, 2022  |  Foto: Ivo Faber