Sprache verbindet, aber Sprache trennt auch. Anders verhält es sich mit der Poesie. Nuancen in der Interpretation und Bedeutung erlauben, dass die poetische Sprache ankommt, ohne im rationalen Sinne verstanden werden zu müssen. In einer Zeit, wo Kommunikation notwendiger denn je geworden ist, ist die Entscheidung der KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION in Düsseldorf acht internationale Künstler*innen in der Gruppenausstellung „pictured as a poem“ auszustellen, welche sich Poesie und lyrischer Sprache in ihrem Werk bedienen, sehr zu begrüßen. Anhand der Einbringung lyrische Texte laden die Künstler*innen in offene Räume ein, die nicht nur die essentielle Funktion der Sprache als Bindemittel der Gesellschaft beleuchten und auf die Probe stellen. Auch das Thema individueller und kollektiver Identität wird innerhalb der medial und ästhetisch höchst unterschiedlichen Positionen verschiedener Generationen durch vielschichtige, in ihrer Intention ambigue poetische Statements ebenfalls verhandelt.
Anders, als man es bei dem Thema Poesie vermuten würde, überwältig „pictured as a poem“ gerade nicht mit einer großen Dichte an komplexem Textmaterial. Denn wesentlicher Reiz der Ausstellung ist die vielfältige Kombination sowohl textuell als auch visuell einnehmender Positionen, welche zu einem interessanten Spiel zwischen den Ebenen des Bildes und der Sprache einladen. So beeindruckt die Rauminstallation des französisch-karibischen Künstlers Julien Creuzet zunächst durch riesige, von der Decke herabhängende, geisterhafte Gebilde aus synthetischen Stoffen, Kunststoff und gefundenen Alltagsobjekten. Hinter diese an Strandgut oder zerrissene Fischernetze erinnernden Skulpturen entdeckt man schließlich eine Videoarbeit, deren monotoner, mit Trommeln untermalter Gesang den ganzen Raum füllt. Julien Creuzet ist auf der Insel Martinique aufgewachsen, einer ehemaligen französischen Kolonie, auf der sich durch verschiedene kulturelle Einflüsse, eine eigene Kultur entwickelt hat. Julien Creuzet beschäftigt sich in seinem Werk intensiv mit dieser Hybridität seiner Herkunft, die er als sowohl französisch als auch kreolisch empfindet. In der Videoarbeit „Ogun, Ogun, ou Gou, ou Gou, mon Dragon“ (2020) besingt ein virtuelles Alter Ego des Künstlers in Form zweier Masken in einem pathetischen, klagenden Lied das Leid der Sklav*innen in den französischen Überseegebieten. Die Aneignung einer poetischen (Bild)Sprache in dem animierten und hochtechnisiertem Video, in dessem Hintergrund sich stetig eine vergrößerte Figur eines Zinnsoldaten dreht, ist für den Künstler ein Mittel, um über die Fiktion Felder in der kreolischen Erinnerung zu erleuchten, welche durch die offizielle imperiale Geschichtsschreibung verloren gegangen sind. Im Internet gefundenes Videomaterial über einen nackten Hund, der ein Huhn fängt, bilden die Brücke zu dem titelgebenden Voodoo-Gott Ogoun und schaffen so bedeutungsambivalente Momente zwischen Mythologie und Gegenwart.
Auch die Videoinstallation „static range“ (2020-fortlaufen) der indischen Künstlerin Himali Singh Soin, welche ebenfalls in einem eigenem Raumkonzept präsentiert wird, besticht zunächst durch die optischen Eindrücke. Auf der hinteren der allesamt blaß-lila gestrichenen Wände, vor der ein senfgelber Teppich ausgelegt ist, auf dem wie im Palast eines Maharadscha dunkelblaue Kissen zum Verweilen einladen, wird ein stetig changierendes Bild des Berges Nanda Devi im Himalaya angestrahlt. Dazu verließt die Künstlerin einen Liebesbrief, in dem mythische, reale und fiktive Geschichten und Charaktere in oft tieftraurigen Ereignissen zusammentreffen. Ausgangspunkt für diese Episoden sind der der Göttin Nanda Devi geweihte heilige Berg und die Mythen und Erzählungen, die sich um diesen ranken. Hintergrund der poetischen Auseinandersetzung mit dem Berg ist ein Bericht von einem atombetriebenen Überwachungsgerät, das 1965 durch den CIA am Berg installiert werden sollte, aber auf der Expedition verloren ging und vermutlich immer noch radioaktive Strahlung aussendet. Aus der Perspektive einer fiktiven Stimme dieses Gerätes erzählt Himali Singh Soin in ihrem Brief Geschichten, die das widersprüchliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur beschreiben, das sowohl von solchen Mystifizierungen von Naturerscheinungen als auch Vergiftung geprägt ist. Als junge Frau, die nach dem Namen der Göttin des Berges benannt ist und Tochter des Fotografen, der das der Briefmarke zu Grunde liegende Foto geschossen hat, verwebt die Künstlerin so die eigene Biografie mit der Geschichte des Berges. Der Brief erlaubt der Künstlerin, der eigenen Identität in kollektiven Zusammenhängen nachzuspüren, so spekulativ und mysteriös sie auch sein mögen.
Poesie in Textform begegnet einem in „pictured as a poem“ das erste Mal in zwei Werken der Künstlerin Thyra Schmidt an zwei gegenüberliegenden Wänden eines Korridors. Die Texte der mit der Versform experimentierenden Künstlerin sind jedoch stark verkürzt und umfassen nicht mehr als ein oder zwei Zeilen. Erstaunlicherweise entspringt gerade in dieser Verknappung aus ihnen ein ganzes Universum an Bezügen, Möglichkeiten und Gefühlen. An eine Wand abschnittweise angestrahlte Worte wie „Du hast so viele schöne Gesichter./Bleib./Nah./Ganz nah an dem Display“ scheinen die Poesie des Alltags festzuhalten. Liest man aber genauer, so öffnen die Zeilen Szenen und Handlungen, die sich nie schließen und stattdessen in einer seltsamen, polyvalenten Schwebe bleiben, von der es gleichsam ins Glück oder Unheil gehen kann. Diese Einladung in emotionale und physische Innenräume, die jedoch von einem unsichtbaren Schleier verdeckt sind, scheint sich in einer Reihe Porträts in von Blumenbouquets zehn verschiedener Schnittblumen vor dem immer gleichen Hintergrund („Rendevous“ (2018/2019)) und die im monochromen Siebdruck angefertigt sind, von der Sprache auf den Bereich des Bildlichen zu übertragen. Zu dem Tulpengesteck „pour elle“ (2018) gibt es eine Texttafel, in der bildhafte Situationen und Handlungen sprunghaft von Satz zu Satz ihre Richtung ändern. Ob es sich bei dem wörtlich fließenden, aber auf der Sinnebene vollkommen zerschnittenen Text, bei den erwähnten Protagonist*innen, einer jungen Frau und einem jungen Mann, bis zum Ende überhaupt um die gleichen handelt, bleibt allein der Interpretation des/der Leser*in überlassen.
Folgt man der großen französischen Konzeptkünstlerin Sophie Calle, so gelingt es der poetischen Sprache, Teile des Lebens und seiner persönlichen Welt zurückzuerobern, die man meint verloren zu haben. Die Kraft der Worte und die Abgabe der Deutungshoheit vermag dabei sogar, das Geschehene aus der Endgültigkeit zu enthebeln und zu neuer Souveränität zu gelangen. Ungefähr so lässt sich die Entscheidung der Künstlerin umschreiben, in einer offen angelegten Aktion eine mit den absurd distanzierten wie dreisten Worten „Prenez soin de vous“ endende Trennungs-Email ihres langjährigen Partners Grégoire Bouiellier 107 Frauen zur Interpretation weiterzuleiten. Aus dem 2007 auf der Biennale di Venezia präsentierten Werk ist im KAI 10 auf acht Seiten die schriftliche Auslegung der Schriftstellerin und Journalistin Mazarine Pingeot zu lesen, die den Text der E-Mail sprachlich mit Schwerpunkt auf Grammatik, Wortwahl und Satzstruktur analysiert, unter dem Deckmantel einer „sachlichen“ Interpretation aber Humor und Häme nicht auslässt. In ihrem Projekt zeigt die Künstlerin, dass auch die Deutung einer Vielzahl von Stimmen die Vagheit der Sprache in bestimmten Formaten wie dem des Liebesbriefs nicht endgültig fixieren kann. Am Ende verraten die über einhundert Auslegungen mehr über den Hintergrund und die Biografie der Kommentatorinnen selbst, als dass sie das Geflecht der Kommunikation zwischen Calle und ihrem Ex-Partner entwirren.
Für den projektbasiert arbeitenden französischen Künstler Saâdane Afif bieten Geschichten und Erzählungen Möglichkeiten, neuartige Kompilationen zu entwickeln, die sich stetig weiter ausgestalten lassen. In „pictured as a poem“ präsentiert der Künstler auf einem Exemplar des gewellten Designregals „Lovely Rita“ eine beeindruckende Sammlung von Sachbüchern, Bildbänden und Prosa zum Thema Piraterie aus den letzten einhundertfünfzig Jahren. Inszeniert durch wie Blut herablaufende schwarze Farbe bildet „The Pirates‘ Who’s Who“ einen kleinen Ausschnitt eines riesigen Themenbereiches ab, der zu Spekulationen verleitet, welches Wissen hier wohl zusammengefasst sein mag und die Betrachter*innen so auf einer Schwelle zwischen Sachlichkeit und Fiktion hinterlässt, ohne das man überhaupt ein Buch angefasst hat. Diesen offenen Raum der Mutmaßungen und Spekulationen baut Saâdane Afif weiter aus, indem er bei befreundeten Kolleg*innen aus Kunst, Musik und Design zehn Songtexte, „Lyrics“ in Auftrag gab, die sich auf das Bücherwerk beziehen sollten. Die auf die Säulen der Ausstellungshalle gedruckten kreativen Reaktionen von Freund*innen wie Ari Benjamin Meyers, Rosa Barba oder Dominique Gonzales-Foester orientieren sich dabei sehr frei an dem vorgegebenen Thema und bilden mitunter subtile seelische Zustände und ephemere imaginäre Situationen von Verlangen aber auch Melancholie ab. Die Texte wurden anlässlich der Ausstellung von der belgischen Band DWARF LIFT DWARF vertont und aufgeführt. Seit 2004 zirkulieren um die Werke des Künstlers so immer neue lyrische Kommentare und Texte, die dann wiederum in die künstlerische Produktion integriert werden und in immer neuen Schleifen weiterwirken.
Die Verwendung einer privaten, lyrischen Sprache als Medium politischen Aufbegehrens nutzt neben Himali Singh Soin auch die US-amerikanische Künstlerin Sharon Hayes. In den „Speech Acts“, welche die Künstlerin im Jahr 2007 vor einer Filiale der UBS Bank in New York aufführte und die hier anhand einer Sound-Installation „Everything Else Has Failed! Don’t You Think It’s Time For Love“ aus fünf Lautsprecherboxen vor einer Wand mit Plakaten wiedergegeben werden, bedient sich die Künstlerin ebenfalls des stilistischen Formats des Liebesbriefes. In den emphatisch vorgelesenen Briefen geht es vordergründig um unerfüllte Liebe und Sehnsucht, doch verweben sich in die scheinbar persönlichen Schilderungen immer mehr universelle Erfahrungen und Sorgen über politische Ohnmacht, kriegerische Auseinandersetzungen und allgemeine Krisensituationen. Über eine persönliche und schwelgende Sprache werden durch die Künstlerin akute Notstände angesprochen. Energien des individuellen Begehrens werden dabei in einen Impuls zur kollektiven Auseinandersetzung mit brennenden sozialen Themen übersetzt. In der übergeordneten Performance-Serie „love-adresses“, zu denen die im KAI 10 zu sehende Arbeit gehört, suchte sich sie Künstlerin immer ganz bestimmte öffentliche Orte aus, die wie der Vorplatz der UBS-Filiale, eine angemessene Szenerie für die problematisierten Themen bot. Der auf den Plakaten zitierte Titel der Arbeit stammt dabei von einem bestehenden Protestschild, das 1967 an der Universität Berkeley (CA) zum Einsatz kam und zeigt so die tiefgehenden Untersuchungen Sharon Hayes‘ mit Protestsprache und Formen des Widerstandes.
Poetische Texte und Bildcollagen gehen in den Werken der deutschen Künstlerin Sarah Kürten eine Allianz ein, welche wie Sharon Hayes ebenfalls eine Form von Protest gegen eingespielte soziale Muster und Verhaltensweisen ausspricht. Orientiert an der Ästhetik der Werbeindustrie, bilden die eingerahmten Text-Paneele zusammen mit Bildern, die auf einzelnen Din-A4 Papierseiten und auf bedruckten Folien kombiniert werden, in einer harmonischen Pastellton-Skala das ausschnitthafte Format eines Modemagazins. Anhand stark vergrößerter Fotografien und Illustrationen der Zeitschrift „Twen“, die in den Sechzigern und Siebzigern ein keckes, jedoch vor allem auf äußerliche Erscheinungsbilder fokussiertes, schein-emanzipertes Frauenbild propagierte, greift die Künstlerin in der dreiteiligen Serie „THE POET (without them he could not have written a line of his work)“ (2020) das Thema Emanzipation in ihrem Familienumkreis auf. Nicht zuletzt aufgrund der Notsituation der Pandemie hatte die Künstlerin den Eindruck, dass sich wie in „Twen“ traditionelle Rollenbilder gesellschaftlich wieder einschleichen. Eine Untersicht auf die langen Beine einer auf Höhe des Oberkörpers abgeschnittenen jungen Frau flankieren so poetische Zeilen, die den männlichen Blick auf die Frau zelebrieren und auf die Rolle der Frau als Reproduktionsobjekt anspielen. Ergänzt durch lyrische Texte, die in knappen, in der Perspektive ständig wechselnden Statement-Sätzen über die Anziehungskraft und gleichzeitige Kälte materieller Konsumkultur sinnieren, beschäftigt sich Sarah Kürten in den Bilderreihen „Crushing humor – or the enthusiasm of priniples“ (Titel abgekürzt) und „Universal circus (desaster, fire or decomposition)“ mit der Inszenierung des Selbst anhand bestimmter Statusobjekte. Die für die Ausstellung entstandenen Werke kombinieren ebenfalls Textpaneele mit Collagen aus angeeignetem Vintage-Fotomaterial. Anhand der irritierenden Kombination aus für die heutige Zeit relativ distanzierten Illustrationen mit poetischen Texten einer nach Glamour süchtigen, technisierten, kalten Sprache demaskiert Sarah Kürten so unsere eigentlich ziemlich zeitlose Sehnsucht nach Glanz und Geltung, die uns die Konsumgesellschaft vorgaukelt lösen zu können.
Als abschließende Position der Ausstellung wirft die italienische Künstlerin Ketty La Rocca (1976 verstorben) über (scheinbar) poetische Konstellationen einen ebenfalls kritischen Blick auf die Wirkung von Konsumkultur und Schönheitsidealen. In einer Serie von Collagen, die aus Abbildungen und Überschriften aus Zeitungen und Magazinen entstanden sind, untersucht die Künstlerin die Wirkung einer (Bild)Sprache, die Frauen als Objekte behandelt. Stets vor schwarzem Grund sind so Ausschnitte aus der Kosmetikwerbung und das nur als Fragment zu sehende Gesicht einer Frau mit den Schlagzeilen „La Gabbia“ (Der Käfig) und „Il Lamento“ (Das Klagelied) kombiniert. In einer anderen Collage trifft eine Frau mit entblößtem Rücken auf eine Horde gesichtsloser Mönche. „Ho spiatoi monstri“ und „mangiarono Carne“ (Ich spionierte den Monstern nach – Sie aßen Fleisch) lauten die Titelzeilen auf diesem unheimlichen Bild. Anhand solcher markanten Gegenüberstellungen machte die Künstlerin auf Frauen objektifizierende Sprach- und Bildpraxen in den Medien und der Werbung aufmerksam. Ketty La Rocca wehrte sich so schon früh gegen ein mystifiziertes Bild der Frau, dass allein kommerziellen Interessen diente, die dazu auch noch tief paternalistisch waren. Sprache und Gesten werden auch in weiteren Werken der Künstlerin Experimenten unterzogen, in denen versucht wird zu Ausdrucksformen zu gelangen, die Möglichkeiten der Verständigung jenseits einer von Ketty La Rocca als männlich geprägt empfundenen Sprache bieten. Das 1972 auf der Biennale in Venedig gezeigte Video „Appendice per una Supplica“ (Anhang für ein Bittgesuch) einer weiblichen und einer männlichen Hand, die versuchen durch verschiedene zeichenhafte Konstellationen und Berührungen, zu einer gemeinsamen Sprache zu finden illustriert diesen auf gegenseitige Verständigung setzenden Ansatz der Künstlern sehr schön.
„pictured as a poem“ zeigt in ihren acht Positionen auf eindrucksvolle Weise, wie Sprache und Kunst interessante und vielfältige Fusionen eingehen. Dabei illustriert die Ausstellung, dass sprachliche Aspekte flexibel eingebunden werden können, ohne dass dafür gleich in das Feld der strikt linguistisch basierten Konzeptkunst gewechselt werden muss. In Zeiten, in denen nicht nur in der Politik und den Medien sondern auch im privaten Bereich Worte so schwer wiegen, dass man manchmal zögert, sie überhaupt auszusprechen, gibt die Ausstellung der KAI 10|ARTHENA FOUNDATION einen Teil des Spielerischen, wie er etwa mit der poetischen Sprache verbunden ist, zurück. Ambiguität und das Lesen wie auch Sprechen zwischen den Zeilen bieten Möglichkeiten an, die eigene Identität zu erforschen und seinem Selbstbild näher zu gelangen.