Candice Breitz - Labour —Kunstmuseum Bonn

Eigentlich besitzt jeder Mensch zwei Identitäten. Denn neben der Persönlichkeit, die wir für uns selbst kreieren, gibt es noch eine weitere Identität, welche die Öffentlichkeit von uns schafft. Während wir für das Bild von uns Selbst und unserer Nächsten in der Regel auf diese exklusive innere Identität zurückgreifen, werden alle Anderen nur innerhalb grober, gesellschaftlich konstruierter und durch die Medien forcierter Kategorien wahrgenommen. Auch die Vielfalt der Kanäle des digitalen Zeitalters, die im Minutentakt Begegnungen mit Subjekten aller möglichen Hintergründe und Positionen fördern, scheint dieses grundlegende Paradox einer Gesellschaft, die ihr höchstes gemeines Gut ,,Individualität“ nur äußerst selektiv zuspricht, bisher nicht gelöst zu haben. In ihrem hauptsächlich Video-basierten Werk, wie es zur Zeit im Kunstmuseum Bonn zu sehen ist, macht uns die südafrikanische Künstlerin Candice Breitz auf die stetigen, oft unbewusst ablaufenden Prozesse des Ein- und Ausklammerns aufmerksam, innerhalb derer Identität(en) gewährt werden. Die Künstlerin führt dem Betrachter vor Augen, wie auf Basis der eigenen Befangenheit von den Medien und der Unterhaltungsindustrie gesteuerte Wahrnehmungsmuster die Bereitschaft für Aufmerksamkeit und Mitgefühl lenken.

Das Prinzip der ,,Agency“, also die Frage, welche Stimmen in der Gesellschaft zugelassen werden und welche sich die Macht reden zu dürfen erst erkämpfen müssen, durchzieht alle sechs im Kunstmuseum Bonn gezeigten Arbeiten. Aufgebaut in fünf Abschnitten um das zentral platzierte Werk ,,Labour“ (2019),  bildet die eine Zeitspanne von fünfundzwanzig Jahren betrachtende gleichnamige Ausstellung ,,Labour“ einen stringenten und gut nachvollziehbaren Einblick in Breitz‘ Werk und dessen zentrale Themen, wobei der Fokus auf den jüngsten Werken der letzten zehn Jahren liegt. Breitz arbeitet mit der Methode des Interviews und der Schaffung von offenen Erzählgelegenheiten. Die dialogischen Arbeiten entstehen so alle aus sehr persönlichen face-to-face Auseinandersetzungen zwischen Künstlerin und den gefilmten Personen und nehmen deutlich Abstand von der rein dokumentarischen Aufzeichnung. Es sind vor allem Begegnungen, die die Künstlerin in einem in seiner Vielfalt der Inszenierungen abwechslungsreichen Parcours in der Ausstellung ,,Labour“ schafft, der auch bei der Dichte der Werke ein durchgängiges Spannungsmoment aufrechterhält.

Entworfen für die Repräsentation von Breitz‘ Herkunftsland Südafrika auf der Biennale in Venedig 2017 markiert die Ein-Kanal Videoarbeit ,,Profile“ den Beginn des Rundgangs. Aus dem Gefühl des Unwohlseins heraus mit der Aufgabe, als privilegierte Weiße ein ganzes Land in seiner sozialen und kulturellen Vielfalt zu repräsentieren, schuf Breitz ein Video aus Zusammenschnitten von Interviews mit einer gemischten Gruppe aus Individuen verschiedener Hautfarben, Alters und geschlechtlicher Orientierungen, die als Künstler*innen alle aus ihrem unmittelbaren Umfeld stammen. Einzeln vor einem Greenscreen gefilmt, überlässt Breitz in ,,Profile“ diesen nicht für die Biennale ausgewählten Künstlerkolleg*innen den Vortritt und gibt ihnen eine Gelegenheit zum ,,Selbstporträt“, die jedoch voller Widersprüche und Spannungen ist. Die Interviewten hadern damit, sich in ihrer Herkunft und Identität selbst in eindeutige Kategorien einzuordnen, wie es vermutlich viele in so einer Situation tun würden. Das humorvolle Drehen oder Zurückspiegeln der Antworten durch Manche macht die Absurdität einer Persönlichkeits-Befragung nach dem standardmäßigen Fragenkatalog deutlich. ,,Profile“ weckt mit seinen teils gewitzten, teils sehr persönlichen Selbstdarstellungen die Sensibilität für das diskriminierende Potential der im Alltag verbreiteten Klassifizierungsgewohnheiten.

Anschließend an die Erfahrbarmachung des unsichtbaren Ringens um Anerkennung der weniger privilegierten ,,Anderen“, lenkt Breitz anhand angeeignetem Material aus der Filmwelt den Fokus erneut auf innere Kämpfe und Konfliktmomente. Die im Rundgang anschließende Videocollage ,,Her“ (1978-2008), präsentiert in einem schwarzen Raum, der nur durch das Licht eines Dutzends zu einer Wand zusammengefügter Bildschirme erhellt wird, stellt eine Collage aus Filmausschnitten von Rollen der Hollywood-Schauspielerin Meryl Streep dar. Durch die Formation der Filmzitate entsteht eine imaginäre Platform der Begegnung, auf der die einzelnen Meryl Streeps beziehungsweise die von ihr gespielten Charaktere in eine Art Dialog zusammenkommen, während dem sie in ihren montierten Redebruchteilen in fulminanten, teils emotionsgeladenen, teils indifferenten Auftritten von ihren Ängsten und Sehnsüchten erzählen. Alle große Themen des Frau-Seins scheinen hier angeschnitten zu sein, wie die berufliche Orientierung, die Realisierung der eigenen Träume, Mutterschaft aber auch wahrgenommene Unterdrückung oder Resignation. Die allesamt inszenierten, also in Zusammenhang mit der Person Streep gänzlich un-authentischen Aussagen, stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen Bedeutungsschwere, Pathos und Klischee. ,,Her“ stellt so die Frage nach der Glaubwürdigkeit, die unsereins bereit ist, der Film- und Unterhaltungsindustrie zuzugestehen. Breitz thematisiert so die nicht unwesentliche Rolle der Medien in der gesellschaftlichen Identitätsbildung.

Die zweiteilige videodokumentarische Arbeit ,,TLDR“ , im Jahr 2017 hervorgegangen aus einer Serie intensiver Interviews und Workshops mit der die Rechte südafrikanischer Sexarbeiter*innen vertretenden Selbsthilfegruppe ,,SWEAT“, beschäftigt sich mit der schon in ,,Profile“ berührten Frage, welchen Stimmen wir unter welchen Bedingungen Beachtung schenken und    entlarvt so die Mechanismen der globalen Aufmerksamkeits-Ökonomie. Der erste Teil der Arbeit ,,TLDR“ schildert auf großem Leinwandformat mittels einem Zusammenschnitt von Bildern eines jungen Erzählers und Aufnahmen einer Performance von ,,SWEAT“ –  Aktivist*innen, die diesen Erzähler in seiner Botschaft mit Gesten unterstützen, einen Vorfall, der die Selbsthilfegriffe in ihrer Mission schwer betroffen hat. Vor ein paar Jahren hatte es eine christlich-konservative Organisation durch eine perfide Kampagne vollbracht, eine ganze Riege von weiblichen Hollywoodstars eine Petition unterzeichnen zu lassen, die vordergründig unter dem Appell, Prostitution in Südafrika zu verbieten, einen Kreuzzug gegen die Anerkennung der Menschenrechte der als Sexarbeiter*innen tätigen Südafrikaner*innen führte.

Als typisches Beispiel für die Übergehung der Ansprüche ausgegrenzter Gruppen durch eine Fehlauffassung von Glaubhaftigkeit, wie der weiße, privilegierte Blick sie präferiert, steht ,,TLDR“ als Abkürzung für den Social-Media Slogan ,,too long, didn’t read“ für das Abwenden von komplexeren und vielschichtigeren Zusammenhängen, wie sie einem etwa in einer Gewerkschaft für farbige Prostituierte begegnen, die sich selbstbewusst als Sexarbeiter*innen emanzipieren wollen. Mit dem aufgeklärten jungen Erzähler und dem unterstützendem Auftritt der Plakate hochhaltenden, singenden und tanzenden sowie Staffagen wie Social-Media Smileys nutzenden ,,SWEAT“ – Aktivist*innen in Gruppenuniform ist die Inszenierung darauf ausgerichtet, den Betrachter zu schonen und Zusammenhänge auf einfache und unterhaltsame Weise zu erzählen. In ,,TLDR“ deckt Breitz so auf verdeckte Weise das Phänomen der vernichtend geringen Aufmerksamkeitsspanne auf, die die Gesellschaft bereit ist, Gruppen ohne ,,starke“ Sprecher zu gewähren.

Im Rundgang der Ausstellung durchbrochen durch eine frühere fotografische Arbeit Breitz‚, auf die ich im Anschluss noch zurückkommen werde, bereitet der im großem Format vorgetragene Arbeit ,,TLDR“  durch die gewitzte Aufdeckung der tendenziösen Bereitschaft zuzuhören, je nachdem wer spricht, auf die sich daran inhaltlich anschließende Arbeit ,,SWEAT(2018) vor. In einem ganz in der Organisationsfarbe Orange gehaltenem Raum zeigt ,,SWEATauf dreizehn Bildschirmen von Breitz mit den Sexarbeiter*innen geführte ausführliche und tief gehende Einzelinterviews. In einer face-to-face Begegnung – Betrachter und Gefilmter sitzen sich gegenüber – erzählen die einzelnen Personen aus ihrem Leben und ihrem Arbeitsumfeld, von dem sie ein für den Aussenstehenden erstaunlich vielschichtiges Bild zeichnen, das eben nicht nur aus Sorgen und Nöten besteht, sondern auch erfüllende und lustige Erlebnisse beinhaltet. Die Entschlossenheit, mit der sich die Sprecher*innen mit ihrer Arbeit identifizieren und für ihre Eigenständigkeit kämpfen, stellt die individuelle Persönlichkeit der jeweiligen Person in den Mittelpunkt und lenkt weg von den typischen Stereotypen. Mit ,,SWEAT“ schafft Breitz in erster Linie zwischenmenschliche Begegnungen, die ehrlich, offen und natürlich sind. Warum man dennoch den Eindruck hat, im Einlassen auf die individuellen Geschichten der in der Prostitution tätigen Aktivist*innen eine Schwelle hat überschreiten müssen, ist ein wesentlich tieferlegendes Problem, das die Arbeit hintergründig berührt.

Die bereits 1994 entstandene fotografische Arbeit ,,Ghost Stories“ bildet eine Art Zwischenkapitel in der Ausstellung, welches  ein Fenster hin aufmacht zu den Wurzeln von Breitz‘ Werk. Stilistisch ganz anders angesetzt als die Videoarbeiten hat die neun-teilige Arbeit aus großformatigen Fotografien von touristischen Postkartenmotiven mit den typischen Bildern traditionell gekleideter Stammesmitglieder in ihrem ,,traditionellem“ Lebensumfeld durch die Übermalung der abgebildeten Südafrikaner*innen mit weißer Tip-Ex Farbe malerische Elemente. Die geisterhaft erscheinende weiße Abdeckung ist bei Breitz  ein Symbol für die Gewalt des ,,vorherrschenden weißen Blickes“, unter dem diese in sich völlig künstlichen Bilder entstehen, für welche bewusst dunkelhäutige Frauen aus ihrem Alltag herausgerissen und mit ethnischen Schmuck dekoriert in für sie unnatürlichen Situationen fotografiert werden, die jedoch voll dem touristischen Geschmack und dem im Westen verbreiteten Stereotyp vom ,,traditionellen“ Leben schwarzer Südafrikaner*innen entsprechen müssen. Das Jahr der ersten demokratischen Wahlen in Südafrika 1994 war für die junge Künstlerin Breitz der Anlass, auf die weiterhin verbreitete Zirkulation dieser rassistischen Bilder hinzuweisen, die mit ihrer Konstruktion eines so nicht existenten, zurückgebliebenen schwarzen Südafrikaner*innen – Seins vor allem die Wahrnehmungsgewohnheiten der weißen Mehrheit verraten, welche über diese letztendlich erniedrigenden Bilder erreicht, Diskurse vom gesellschaftlichem Fortschritt und Entwicklung zu dominieren.

Die in ihrem Konzept zweiteilige, auf gegenüberliegenden Leinwänden gezeigte Videoarbeit ,,Treatment“ (2013) ist in der Kombination von Ausschnitten aus dem Film ,,The Brood“ von David Kronenberg aus dem Jahr 1979 auf der einen Seite und Videoaufnahmen von der die Filmdialoge nachsprechenden Breitz, ihren Eltern und ihrer Psychotherapeutin auf der anderen Seite ein unkonventionelles Werk, das die Wahrnehmung des Betrachters herausfordert. Aus dem den schmerzlichen Prozess der Scheidung eines Ehepaares erzählenden Film hat Breitz Szenen ausgewählt, welche das Hauptdarsteller*innen-Paar bei einer Paartherapie zeigt. Diese Therapie verlässt den fiktiven Raum des Filmes, indem die Künstlerin zusammen mit ihren Eltern und ihrer Therapeutin, allesamt ihr nahe stehenden Personen, die Sitzung nachspricht. Im Verlauf der Arbeit fragt man sich schließlich, wer in dieser Situation tatsächlich therapiert beziehungsweise therapiert wird und ob die Charaktere im Film durch die Sprecher*innen gelenkt werden oder andersrum. ,,Treatment“ ist eine zunächst humorvoll erscheinende Arbeit, welche ähnlich wie ,,Her“ unser Verhältnis zur Filmwelt auf der Ebene der mit dieser implizit verbundenen Echtheitsansprüche hinterfragt und unsere versteckten Bedürfnisse nach Repräsentation aufdeckt.

Nach einer weiteren Begegnung mit dem zweiten Teil der Arbeit ,,Profile“ kehrt die Ausstellung  zu ihrem Augangs- und Schlusspunkt zurück Zentrum zurück, der namensgebenden jüngsten Arbeit ,,Labour“ (2019). Die fünfteilige Videoarbeit, die  die Geburten von fünf Frauen auf einzelnen Bildschirmen in rückwärtiger Reihenfolge dokumentiert, ist hinter einem kreisförmigen Bau mit dicken schwarzen Vorhängen so verborgen, dass man in dem auch sonst dunkel gehaltenen Raum außer den Stimmen der Gebärenden zunächst gar nichts von diesem hier sehr diskret präsentiertem Werk mitbekommt. ,,Labour“ stellt eine zuletzt sehr kontrovers diskutierte Arbeit dar, die teils mit dem Vorwurf, Breitz würde die Würde der Frauen missbrauchen für die Vermittlung politisch-feministische Botschaften, entschieden abgelehnt wurde. Die intimen Bilder der Geburten sind wie nicht anders zu erwarten heftig. Der abnorme Rückwärtsverlauf – das Baby wird quasi in den Leib der Mutter wieder hineingepresst – ist schwer auszuhalten.

Man muss diese Eindrücke überwinden und zu der Intention Breitz‘, die sie gemeinsam mit den gebärenden Frauen entwickelt hat, zurückkehren, um sich auf ,,Labour“ einlassen zu können. Breitz stellt in dem sich noch entwickelndem Projekt in gewisser Weise die Leben spendende Kraft der Frau den ganz nebensächlich abgehandelten, aber schwerwiegenden Verletzungen von Frauenrechten durch Macho-Diktatoren wie Erdogan, Putin oder Bolsano entgegen. Um auf diese entsetzende Verachtung und Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts und noch anderer Minderheiten Aufmerksam zu machen, bedarf es Breitz‘ Empfindung nach drastischer Maßnahmen. Mit einer Umkehrung der Metapher des ,,auf-die-Welt-Bringens“ gibt Breitz in ,,Labour“ den Frauen mit der Auswahl eines am Anfang des Videos erscheinenden beziehungsweise verschwindenden Despoten-Namens die Macht in die Hände, die Verächter ihrer Kraft und Rechte mit der Geburt ihres Kindes wieder von der Welt zu nehmen. Die Frauen, deren Geburten zu sehen sind, haben unter vollem Bewusstsein der gesellschaftlichen Tragweite der Bilder und ihrer Botschaft entschlossen, diesen symbolischen Akt zu vollziehen. ,,Labour“ ist dadurch nicht einfacher anzusehen oder weniger kontrovers. Doch wer die Arbeit als missbräuchlich aburteilt, riskiert auch den in das Projekt involvierten Frauen ihre Agency abzusprechen.

Candice Breitz macht in ihrem Werk auf ein beunruhigendes Phänomen aufmerksam. Sind es nicht eigentlich wir, die im Aquarium festsitzen? Wir, die so geblendet von der Überzeugung sind, überall den Durchblick zu haben, dass wir die starren Glasscheiben nicht merken, hinter denen wir immer meinen nach Außen zu blicken, wobei dieses ,,Außen“ nicht Teil der Welt, sondern Produkt unserer Wahrnehmung ist. Um diese privilegierte, aber auch alberne Rolle des Zierfisches im Ozean aufzugeben, sollten wie vielleicht einfach mal beginnen, Zuzuhören.

 

 

 

Candice Breitz, Still aus TLDR, 2017, 13-Kanal Installation  |  Courtesy Goodman Gallery (Johannesburg), Kaufmann Repetto (Mailland) und KOW (Berlin)

Candice Breitz, Still aus Her, 1978 – 2008 Sieben-Kanal Installation  |  Courtesy Goodman Gallery (Johannesburg), Kaufmann Repetto (Mailland) und KOW (Berlin)

Candice Breitz, Still aus Treatment, 2013 Zwei-Kanal Installation  |  Courtesy Goodman Gallery (Johannesburg), Kaufmann Repetto (Mailland) und KOW (Berlin)

Candice Breitz, Still aus Profile, 2017 3 Ein-Kanal Videos  |  Courtesy Goodman Gallery (Johannesburg), Kaufmann Repetto (Mailland) und KOW (Berlin)