Dorothea von Stetten Kunstpreis—Kunstmuseum Bonn

Systeme und Strukturen sind von Menschen gebildet, gesteuert und klassifiziert. Damit scheinen sie kontrollierbar und in ihrer Nutzungs- und Lesart festgelegt. Wie fragil diese Gebilde tatsächlich sind, wie groß das Potential an parallelen Deutungen ist und wie verstörend nur eine minimale Abkehr von den als inherent festgesetzten ,,Gesetzen“ sein kann, zeigen drei junge Nachwuchskünstler aus Dänemark, Masar Sohail, Amalie Smith und Amitai Romm in einer Gruppenausstellung im Rahmen des Dorothea von Stetten Kunstpreises 2018. Herausstechendes Merkmal der präsentierten Arbeiten, zwei Installationen und eine Videoarbeit, ist, dass die Arbeiten insgesamt, obwohl sie zahlreiche historische, gesellschaftliche wie auch stofflich-biologische bis psychologische Referenzen enthalten, keinerlei politischen oder moralischen Anspruch stellen. Jede dieser Arbeiten ist als einzigartige Situation zu verstehen, die durch ihre ausgeklügelte Ästhetik den Betrachter zum Überdenken üblicher Klassifizierungsmuster anregt, wie sie fast automatisch eintreten, wenn wir mit einem ,,System“ konfrontiert wird.

Die erste System-Situation, die der Besucher betritt, ist die Installation von Amalie Smith. Die Künstlerin hat eine S-förmig Formation aus deckenhohen gewellten PVC-Platten konzipiert, die den Raum in zwei Hälften teilt und von beiden Seiten  eingesehen werden kann. Bei dieser paraventartigen Struktur, die teils durchsichtig ist, gibt es kein vorne und kein hinten, keinen ersten und keinen zweiten Teil. Der gesamte Aufbau erzählt. Zwei Lichtprojektionen, die auf die raumteilende Skulptur projiziert sind, fangen die Aufmerksamkeit des Betrachters: Fäden fädeln sich in einer ständigen Bewegung von heben und senken in ein gitterförmiges Muster ein. Daneben ist ein unregelmäßiges Rechteck mit Löchern zu sehen, das Gebilde erinnert an einen archaischen Gegenstand, soll aber eine Lochkarte darstellen, wie es später noch klar wird. An mehreren Stellen in der Trennwand sind A-4 Blätter eingebracht, es sind ausgedruckte historische Bilder von den ersten Computern, ein Stahlstich mit Frauen in einer Telefonschaltzentrale, ein altägyptischer Webstuhl und ein Bild der Mathematikerin Ada Lovlace gehören dazu.

Smiths Werk als Gesamtheit beschäftigt sich mit der Struktur des Digitalen. Die Analogie, die sie in ,,Fabric of the Digital“ zwischen der Technik des Webens und der Computertechnologie formuliert, ist kein künstlerisches Gedankenexperiment. Die Künstlerin möchte zeigen, dass die Schaffung digitaler Daten in ihrer Natur mit der vor allem weiblichen, teils mythischen Technik des Webens verwandt ist. Smith stößt von historischen Fakten aus einen neuen Blick auf das ,,heute“ an. Die Installation ist die Verkörperung dieses Ansatzes, der in vier Begleittexten erläutert wird. Mittels Lochkarten wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Webstühle modernisiert, denn technisch betrachtet ist das Weben wie die Programmierung von Daten ein binäres System. Davon ausgehend spinnt Smith eine gleichsam faktenbasierte wie fantastische Geschichte. Das Word ,,text“ stammt von ,,textere“ was ,,weben“ bedeute, die Produktion moderner Hypertexte, Grundlage der digitalen ,,Bildschirmgewebe“, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, könne man sich wie das Weben eines gewaltigen ,,Hypertextils“ vorstellen, produziert von einem ,,Hyperwebstuhl“, der bereits so gewaltige Ausmaße angenommen hat, dass er die Welt und unsere Gehirne verändert. Da das Weben jahrtausendelang von Frauen ausgeführt wurde, sieht Smith die Computertechnologie als Errungenschaft einer weiblichen Emanzipation. Diesen Faden des Digitalen als weiblich verfolgt sie durch verschiedene historische Zitate weiter, in denen Frauen in die Weiterentwicklung der Computertechnologie involviert waren.

Smiths Installation macht durch die in ihr angelegte Parallelität historischer Bilder eine neue Lesart des eigentlich Getrennten – manuell vs. computergesteuert, alt vs. neu und im weiteren Sinne auch weiblich vs. männlich – erfahrbar. Wie man von einem ,,Stoff“ spricht, aus dem große Lebensgeschichten gemacht werden, macht Smith in ,,Fabric of the Digital“ durch die Analogie des Gewebes die digitale Computertechnologie, die unserem Leben so viele Dimensionen hinzufügt, dass es seine Echtheit verliert, beinahe zum anfassen begreifbar. Klammern wir die große historische Lücke, die zwischen den verwandten Techniken des Webens und der des Programmierens besteht, einmal aus, so sehen wir, dass wir immer noch die Fäden in der Hand haben. Genau diesen Eindruck vermittelt die Installation. Smith verleiht dem Digitalen etwas Organisches. Auf sensible Weise macht Smith auf das Potential aufmerksam, das in einer aus neuen Perspektiven gelesenen Geschichte liegt.

Wer den Raum von Amitai Romms Werk betritt, meint sich in einer industriellen Produktionshalle zu befinden. Der erhöhte Boden, den man über eine kleine Rampe betritt –  ein Bruch mit den musealen Räumen – hat dieses einheitliche dumpfe Grau, der weitläufige Raum ist weit und zu großen Teilen leer, an wenigen Stellen ist er bespielt, rätselhafte Gerätschaften, die entfernt an Produktionsmittel und industrielle Erzeugnisse erinnern, stechen hervor. Zentral im Raum breitet sich eine seltsame Maschine aus, die über an der Decke verlaufende Leisten an zwei herabhängende Stromkabel angeschlossen ist und in Betrieb ist. Aus zwei Tankbehältern wird eine Flüssigkeit gepumpt, die über zwei Schläuche in einem Verbindungsteil zusammenläuft und dann mittels Osmose durch eine Filterstrecke geleitet wird, bis sie in zwei Bündeln aus zusammengeschnürten synthetischem Stoff mündet, aus dem die farblose Flüssigkeit dann auf den Boden ausläuft und Pfützen bildet. Bei diesem Prozess diffundiert sie durch Gewürzkissen, so dass ein kaum wahrnehmbarer, diffuser Geruch im Raum entsteht. Die ganze Anlage erinnert an ein künstliches organisches System, die Bündel in grün und weiß erinnern an angespültes Strandgut, ihr Anschluss an ein zirkulierendes System, ein wenig wie der menschliche Blutkreislauf, lässt sie wie groteske Wesen erscheinen. Irgendetwas wird hier am Leben gehalten – oder zum Leben erweckt. Solche Assoziationen stellen sich unwillkürlich ein, obwohl alles aus Kunststoff ist. Sind wir in ein gewaltiges Labor geraten, in dem fremdes Leben genährt wird?

Im Raum sind weitere Objekte  ergänzt, die Irritationen hinsichtlich Sinn und Zweck dieser Anlage auslösen. Direkt beim Eintreten stößt man an der linken Seite des Raumes auf eine an der Wand montierten Reihe weißer Flaggen aus synthetischen Stoff, die mit maschinellen Stickbildern aus schwarzem Garn versehen sind. Hintereinander aufgereiht erzählen sie in der Manier von Stahlstichen aus dem 19. Jahrhundert eine Traumgeschichte von einem kleinen Jungen, dessen Pippipfütze zu einem gewaltigen Meer anwächst. Rechts vom Raumeingang ist eine riesige Formation aus Gebilden aufgebaut, die einzeln an Satellitenschüsseln erinnern und an die Fossilien von maritimen Lebewesen montiert sind. Die Schüsseln sind in konvex-konkav Paaren aufgebaut und erlauben in der Mitte durch die Aneinanderreihung der sich bildenden Löcher einen Durchguck. Hat dieses Gebilde eine ergänzende Funktion zu der Maschine in der Mitte? Es bleibt lediglich der Eindruck, dass man es mit etwas Gewaltigem zu tun hat, einer Maschine aus einem Raumfahrtlabor. Der Gedanke, dass es sich vielleicht um nicht mehr als eine Skulptur handelt, gerät in den Hintergrund.

Ein tieferes Eindringen in den Raum erlaubt die Entdeckung weiterer eigentümlicher Objekte. An den sonst leeren Wänden ist an drei Stellen jeweils ein Bild im selben Format aufgehängt, alle sind in schwarz weiß. Diese Bilder lassen sich nur vom Nahen erschließen und geraten erst spät ins Blickfeld. Eines ist eine Fotoarbeit, in der sich eine Art Meereswesen identifizieren lässt, wie man es in Brunnen von Schlossparkanlagen findet, das Bild ist düster, die Umgebung ist unerkenntlich, das Wesen hat keinen Kopf. Ein anderes Bild, eine Zeichnung, zeigt den Kopf einer bärtigen Person mit Hut, die in ein Glas schaut in dem ein unidentifizierbarer Gegenstand ist. Die Szene scheint einer unbestimmbaren Zeit anzugehören. Hinter der Schalen-Skulptur hängt eine filigrane Zeichnung, die eine Art mittelalterliches Fabeltier zeigt, das sich auf einem Objekt befindet, das an ein Schiffsfrack erinnert. Die Traumgeschichte auf den Fahnen und diese drei Bilder scheinen einen erzählerischen Rahmen zu den ,,maschinellen Anlagen“ hinzuzufügen. Sind es historische Fragmente die, auf die Existenz von Wasser-Spuk-Wesen hinweisen, wie sie hier genährt werden? Oder das Trauma eines Bettnässers? In ihren Darstellungen nur schemenhaft erschließbar und in ihrer Beziehung zu der im Herzen des Raumes Flüssigkeit emittierenden Maschine undechiffrierbar, bilden sie eine Kafkaeske Welt des Fremden und Grotesken, in der ein System übernimmt, das keine Wurzeln im Menschlichen hat.

Romm präsentiert uns in seinen Installationen von ihm bereits vor-sezierte Systeme. In dem Raum, die er für sie erschaffen hat, in Gestalt von schmerzhaft konkreten Anordnungen industrieller Materialien wie Plastik- oder Styroporbehälter und allerlei stofflicher Umverteilungen, sowie mittels des Einspielens von Distributionsmitteln von Waren und Informationen – die Satellitenschüsseln – sowie Sensorik – die Gewürze –  legen sie Aspekte unseres materiegebundenen Seins auf, die uns irgendwie unbequem sind. Wir können das Entstandene kategorisieren, aber es begegnet uns als etwas Autarkes, das unsere Kategorisierung nicht braucht. Romm entwirft in seinem Werk kunstvoll die Grenze, ab der wir etwas ,,Anderes“ nicht haben wollen.

In seiner Videoarbeit ,,The Republic of T.M.“ verwebt Mashar Sohail in einer Erzählung den persönliche Identitätskampf eines jungen Außenseiters, genauer  dessen inneres Begehren nach Geltung, mit den Schattenseiten jedes politischen Systems, wie sie durch  Machtdurst entstehen können. In der Rolle des Protagonisten befindet sich ein Underdog, der sich in einem schwarzen Kapuzenpullover versteckt, er verbrennt sein Motorrad, lässt alles zurück und verschwindet in die Wälder. Dort findet eine Transformation seiner Persönlichkeit statt, er taucht fortan im Habitus des ,,Scarface“ Protagonisten Tony Montana auf, der als sein Alter-Ego in einer rauher Stimme zum ehemaligen Underdog spricht. Diese aus dem Off sprechende Stimme führt den Film, ermutigt den Protagonisten fortlaufend dazu, sein Territorium einzunehmen, sich brutal durchzusetzen, keine Gnade walten zu lassen. Das selbstbewusste Ich wird aufgebaut wie ein autoritärer Staat. Es herrscht das Recht des Stärkeren. Macho und Macht gehen eine Allianz ein, die ausgehend vom ehemaligen Niemand im Wald aus ein surreales Szenario der Selbstrealisierung entwirft, das gar nicht so weit entfernt ist von den Abgründen politischer Systeme, wie wir sie kennen.

,,We should have a flag, man“ raunt Toni Montana, ein rotes Banner weht über die ganze Leinwand. Aneinandergereihte Handlungssequenzen und photographische Stills geben bruchstückhaft die von der T.M. Stimme angeführte Staatsgründung des Protagonisten im Prozess dessen Emanzipation aus der sozialen Marginalisierung wieder. Durch den Gangsterlook sich ein weitaus aggressiveres Gehabe angeeignet, konsultiert der Protagonist zunächst eine Riege von Top-Anwälten, die die Gründung des eigenen Herrschaftsgebietes rechtlich verteidigen sollen – eine Anleitung von T.M. Diese Folgen dem neunen König in den Wald, vermessen das Gebiet eifrig und setzten erste Markierungen. Realität und Traum verschwimmen. Der Film ist geprägt von diesen Gegensätzen: die Bilder des menschenleeren Waldes bleiben, während T.M. weiter siniert über die weiteren Schritte des Aufbaus eines unangreifbaren Reiches, aber der Protagonist bleibt allein. Symbole der Macht, wie ein Maschinengewehr, kommen dazu. Was als Regierungssitz gepriesen wird, erscheint jedoch nur in Form von Stills von Holzhütten aus Stöcken, wie sie Kinder erbauen würden. Idylle, Utopie und Dystopie wechseln sich in den Bildern ab.

Hineingeschnittene Videosequenzen alltäglicher Szenen, wie wir sie aus den Medien kennen, Kriege, Flüchtlinge, Tiere aber auch ein Ehepaar, das seinen Garten bepflanzt, erscheinen immer wieder zwischen Close-Ups von dem jungen König. Sie erweitern die Dimension dessen, was T.M. programmatisch als verworrenes  Idealstaat-Ich vorgibt. Auch wenn das angebrochene Unterfangen zu keinem Ende führt, wir niemals das realisiert sehen, was T.M. in seinem derben Gangster-Jargon herausbellt, so liegt in seinen Sprüchen doch eine gewisse bedrückende Wahrheit – ,,Everybody needs a common enemy“. Wenn man es schafft, sich allen zivil-demokratischen Regeln zu entziehen, dann können Verlierer Gewinner sein. Rücksichtslosigkeit ist gerecht. Surreal und archaisch, brutal und verzweifelt, allmächtig aber allein. Durch die  Schaffung eines illusionären Reichs gewährt Sohail nicht nur denjenigen Ausgegrenzten Geltung, für die jegliche Ich-Narrative verloren gegangen sind. Über den Identitätskampf seines Protagonisten deckt Sohail die machtbesessenen Dynamiken auf, die in uns Allen veranlagt sind und die jederzeit in dem durchsickern können, was wir als ,,Staat“ bezeichnen. Ohne politisch zu sein, ist ,,The Republic of T.M.“ wie eine Parabel für die politischen Probleme unserer Welt zu lesen. Der Film deckt gnadenlos auf, was die Demokratie zu verschweigen versucht.

Systeme sind alles andere als vorgegeben. Sie können jederzeit so transformiert werden, das wir uns selbst nicht mehr in Ihnen wiederkennen, und das ganz ohne unseren bewussten Einfluss. Es gibt immer eine andere Seite. Während alle Künstler des Stipendiums es schaffen, zu diesem wesentlichen Gedankengang in ihren Arbeiten anzuregen, ist es vor allem Sohail, der die subtile Einbindung mannigfaltiger Referenzen auf das heute, der Dinge, die in der Welt at stake sind, meisterhaft beherrscht. Diese Meisterung hochkomplexer politischer und gesellschaftlicher Diskurse in seinem Werk ist das, was Sohail in den Augen der Jury zum Preisträger macht.

 

 

Ausstellungsansicht Amalie Smith  |  © Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Ausstellungsansicht Amitai Romm  |  © Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Ausstellungsansicht Masar Sohail  |  © Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl