Welt in der Schwebe - Luft als künstlerisches Material —Kunstmuseum Bonn

Man sagt der Kunst ja allgemein nach, Dinge erfahrbar machen zu können, die nicht sichtbar sind, die man aber fühlen kann. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Ausstellung über die Verwendung und Erfahrbarmachung des Themas Luft in der zeitgenössischen Kunst, wie sie zur Zeit im Kunstmuseum Bonn zu sehen ist, gerade zu intuitiv. Konzeptuell ausgehend von dem ersten „Luft-Kunstwerk“ der modernen Kunst, ein Glaskolben von Marcel Duchamp mit einer Prise Pariser Luft von 1919  („Air de Paris“) , macht „Welt in der Schwebe – Luft als künstlerisches Material“ den Besucher*innen die beeindruckend vielfältigen Strategien zugänglich, die zeitgenössische Künstler*innen im Umgang mit diesem ephemeren Stoff gewählt haben. Auf einmal wird die gänzlich unsichtbare Kraft und Dynamik des Elementes Luft fassbar, was der Kuratorin Dr. Barbara Scheuermann fabelhaft gelungen ist.

Die Arbeit mit Luft ist eine kreative Herausforderung, die vor allem ein hohes technisches Vorstellungsvermögen erfordert. Dies macht der Anblick der aufgeblasenen Luftskulpturen von Hans Hemmert und Lang/Baumann im Foyer und im Außenraum des Kunstmuseums bewusst, mit denen die Künstler in die Architektur des Museumsbaus intervenieren. Bei diesen gleichzeitig leichten wie schweren Gebilden, die selbstbewusst ihren Platz einfordern, aber auch eine umhüllende, schützende Funktion ausstrahlen, zeigt sich die Umhüllung von Luft durch Ballons oder Gefäße als eine Möglichkeit der „Abbildung“. Diesem Prinzip  folgt auch die normalerweise im Aussenraum realisierten Installation „Die Sonne kommt näher“ von Otto Piene, die aus an Luftschläuche angeschlossenen gezackten Körpern besteht, die an Sterne, Sonnen oder Stacheln erinnern. Hier im Innenraum des quadratischen Forums, das sich in der Mitte der Ausstellungsräume befindet, sind die Skulpturen in ihrer Ausdehnung begrenzt, während sie sich abwechselnd aufbäumen und wieder in sich zusammenfallen, als hätten lebendige Wesen den Raum erobert. Was alle diese Luft-Werke vereint, ist, dass man als Besucher*in direkt eine Beziehung zu Ihnen aufbaut. Vielleicht auf Grund ihrer eigentlich fragilen Monumentalität, oder auch, weil das Objekt Ballon einfach eine starke positive Konnotation auslöst. Dieser Eindruck, es mit einem nahbarem und essentiellem Thema zu tun zu haben, das einen mit jedem Atemzug berührt und betrifft, begleitet einen durch die Ausstellung.

Eine Reihe von Videoarbeiten von Performance-Künstler*innen beziehungsweise mit performativen Elementen arbeitenden Künstler*innen setzt sich an verschiedenen Stellen der Ausstellung bildnerisch mit dem Thema Luft als Windstrom oder Atem auseinander. So ist die US-amerikanische Künstlerin Judy Chicago hier mit Fotografien und einer Videodokumentation ihrer berühmten Smoke-Pieces vertreten. Der Einsatz farbiger Rauchquellen, die vor einer Wüstenkulisse majestätische Farbwolken emittierten und von mit Körperfarbe bemalten Performerinnen angefacht wurden, war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als kraftvolle feministische Gegenreaktion auf die männlich dominierte Minimal-Art konzipiert. In ebenfalls spektakulären Bildern konzentriert sich Edith Kollath ganz auf die Bewegung des Atems. In ihrer Videoinstallation „Addressable Moments“ treten aus vollkommener Dunkelheit abwechselnd Performer*innen vor, die durch ihren Atem eine Art Luftblase formen, die nach wenigen Sekunden jedoch wie Glas mit einem heftigen Knall platzt und zersplittert. Das simulierte Einfangen des Atems in zerbrechlichen gläsernen Luftblasen macht die lebensspendende Bedeutung und Fragilität des Atems deutlich, der wir oft umbewusst sind. Die Videoarbeit von Ulay/Marina Abramovic „Breathing In / Breathing Out“, bei der man das Paar minutenlang bei einem Kuss verfolgt, der die einzige Quelle von Sauerstoff zwischen beiden sein sollte, weist auf den Atem als physische Grenze unserer Existenz hin, an der eine vollständigen Abnabelung von der Welt, wie durch das küssende Paar angestrebt, scheitert. Timm Ulrichs setzt seinen Atem ebenfalls als eine Art Beziehungs-Medium ein, in seinem Fall in der Beziehung zwischen ihm und den Betrachter*innen. In „META-ATEM, Über Inspiration und Expiration“ atmet Ulrichs so lange, bis eine Glasscheibe zwischen ihm und der Kamera derart beschlagen ist, dass der Künstler dahinter verschwindet.

Timm Ulrichs Auseinandersetzung mit der transformierenden Kraft des eigenen Atems kündigt ein weiteres zentrales Thema von „Welt in der Schwebe“ an: das Atmen als wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Schaffensprozesses. Ausgangspunkt dieser Beschäftigungsvariante mit Luft ist der Künstler Piero Manzoni, der in den Sechziger Jahren mit seiner Atemluft aufgeblasene Luftballons versiegelte und als Edition verkaufte. Während heute nur noch ein kladdenähnliches Buch mit entleerten Luftballons von Manzonis Aktion übrig ist, versucht Martin Werthmann den eigenen Atmen sozusagen für die Ewigkeit festzuhalten. Anhand seiner Apparatur aus verschiedenen Glaskolben und Behältern ist es tatsächlich möglich, wenn auch zeitlich sehr mühsam, dem eigenem Atem (CO2) Kohlenstoff zu entziehen, der unter Einwirkung von Hochdruck das Grundmaterial für die Herstellung künstlicher Diamanten bildet. Die Idee einer spirituellen Verbundenheit von Atem und Luft  bildet auch einen wesentlichen Aspekt in den Windzeichnungen des japanischen Künstlers Rikuo Ueda. Der Künstler lässt den Wind „zeichnen“, indem er Tintenstifte an Zweigen befestigt, die, durch die Luft in Bewegung gebracht, teils feine, teils expressive abstrakte Linien und Kreisformationen auf dem Papier hinterlassen. Der Luftstrom wird so zu einem eigenständigem Protagonisten mit kreativer Schaffenskraft. Die Verbindung von Wind und Seele ist auf berührende Weise in seiner kinetischen Skulptur „letter“ realisiert, ein Rahmen aus dünnen Holzlatten, an denen mit Steingewichten zwei Flügel aus Zweigen und durchsichtigem Stoff befestigt sind. Mit dem luftsensiblen Werk gedenkt Ueda seiner verstorbenen Frau, die ihrem Mann zusagte, als Seele durch den Hauch des Windes auch nach ihrem Tod an seiner Seite zu bleiben.

Welt in der Schwebe“ fasst den künstlerischen Umgang mit Luft somit als ein natürliches und intuitives, aber auch komplexes Phänomen auf, ganz wie das Element selbst. Zu diesen technisch sehr versierten, verschiedene Sinne ansprechenden Werken zählt etwa die Sound-Installation (beziehungsweise „Klangarchitektur“) „Syphonie pour orgue“ der französischen Künstlerin Charlotte Charbonnel. Mithilfe von Ventilatoren, Mikrofonen und Lautsprechern wird durch monumentale, sich zu einer Art Pyramide auftürmenden PVC-Rohren die hindurchströmende Luft hörbar gemacht. Die Mikrofone reagieren dabei auf die Luftströme, welche die Besucher*innen durch ihre Bewegungen im Raum selbst auslösen. Ein solches reaktives, durch die Umgebungsluft verbundenes Verhältnis zwischen Werk und Betrachter setzt die Arbeit „The Sky Eludes All Attempts At Planning“ der Künstlerinnen Steffi Lindner und Lyoudmila Milanova voraus. Wie bei der Beobachtung natürlicher Luft- und Wetterphänomene erfordert dieses aus einem weißem Sockel bestehende Werk, aus dem alle paar Minuten über einen programmierten Mechanismus eine zarte Wolke aus Nebelgas emittiert wird, die Anpassung an den Takt der ephemeren Erscheinung.

Auf dezente aber dennoch einprägsame Weise behandelt die Ausstellung auch die Aspekte Umwelt und Umweltverschmutzung, die unweigerlich mit dem Thema Luft verbunden sind. So erinnern die großformatigen Fotografien von sich majestätisch  türmenden Wolken von Andreas Gefellers Serie Clouds an die Tradition der Wolkendarstellungen in der klassischen Malerei. Dieser zunächst positive Eindruck verschiebt sich jedoch schnell ins Unbehagliche, wenn man erfährt, dass es sich um Wasserdampfemissionen aus einem Kohlekraftwerk handelt. Eine ähnliche Ambivalenz zwischen Natur und Naturgewalt strahlt auch der im Außenraum installierte, riesige Ventilator von Arcangelo Sassolino aus. Die Turbine aus gelben Metall, wie sie auch in der städtischen Infrastruktur zu finden ist, dreht sich in drei Stufen und erzeugt so einen zunächst angenehmen, dann immer stärker werdenden Wind, der daran erinnert, dass Luft auch eine Naturgewalt ist, die durch Klimaveränderungen zunehmend gefährlicher wird. Klimawandel und Luftverschmutzung sind auch die Themen der auf dem Museumsplatz installierten „Pollution Pods“ von Michael Pinsky. In den Iglu-förmigen Kuppeln simuliert der Künstler mit seinem Team anhand einer spezifischen Kombination verschiedener Gase und Feinstoff die Luftqualität an verschiedenen Orten auf der Welt. Von der klaren Luft einer norwegischen Stadt bis zum versmogten Neu-Dheli kann man als Besucher*in hier selbst erfahren, wie essentiell saubere Luft für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist, als Umweltfaktor, der geschützt werden muss.

Von dem Thema der künstlerischen Auseinandersetzung mit Luft lässt sich leicht ein Bogen schlagen zu der Pandemie-Situation und der damit einhergehenden völlig neuen Erfahrung des Atmens. Die Ausstellung lässt diese Assoziationen zu, im Zentrum bleibt dennoch Luft als Gegenstand und Motiv in der zeitgenössischen Kunst, was eine erfrischend Wirkung hat, wenn man mit der Atemschutzmaske durch die Räume geht, womit das Thema Corona schon genug abgedeckt ist. Die Ausstellung ist in den Momenten besonders stark, wo es um das Elementare der Luft geht, das einem selten wirklich bewusst ist. Die verschiedenen Positionen verhelfen in ihrer Gesamtheit dabei, die uns umgebende Sphäre, deren Dynamiken und Gesetze, fassbar zu machen. Auf einmal sind auch die Ausstellungssäle selbst kein selbstverständlicher Ort mehr, sie zeigen sich vielmehr als fragile Räume, die in einer sensiblen Kombination aus Temperatur, Luftfeuchte und -zirkulation, immer wieder neu hergestellt werden müssen. Durch eben diese Synchronisierung zwischen künstlerischer Wahrnehmung und unserer eigenen Erfahrung des Themas Luft, schafft „Welt in der Schwebe“ , dass wir uns mehr im Einklang mit unserer unmittelbaren Umwelt, und schließlich auch uns selbst, fühlen.

 

Otto Piene Die Sonne kommt näher Installationsansicht Museum Haus Konstruktiv, Zürich 2020 Estate Otto Piene / Sprüth Magers  |  © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Foto: Stefan Altenburger

Lyoudmila Milanova / Steffi Lindner The Sky Eludes All Attempts At Planning, 2017 Kinetische Skulptur  |  Fotos und © Lyoudmila Milanova / Steffi Lindner

Edith Kollath Addressable Volume, 2018 Videostill  |  © Edith Kollath / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Yoko Ono Air Dispensers, 1971/2016, Yoko Ono Lumiere de L’aube Mac Lyon  |  Courtesy Yoko Ono Photo: Blaise Adilon

Hans Hemmert o. T. (gelbe Skulptur passend zu Fotoapparat), 1998 Latexballon, Luft, Künstler, Fotoapparat  |  © Hans Hemmert / VG Bild Kunst, Bonn 2021

Lang/Baumann Comfort #19, 2022 Polyestergewebe, Gebläse Installationsansicht Kunstmuseum Bonn 2022  |  Foto: David Ertl

Judy Chicago Smoke Bodies from Women and Smoke, 1972  |  © Judy Chicago/Artists Rights Society (Ars), New York, Photo Courtesy of Through the Flower Archives, Courtesy of the Artist; Salon 94, New York; and Jessica Silverman Gallery, San Francisco © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Michael Pinsky_Pollution Pods, 2017  |  Foto: Thor Nielsen