Extraktivismus – ein sperriger Begriff, der dem gängigen Verständnis vom technologischem Fortschritt und menschlicher Rationalität entgegenläuft. Das extraktivistische Wirtschaftsmodell umfasst Abbau, Nutzung und Export natürlicher Ressourcen und ist insbesondere in Zusammenhang mit Lateinamerika bekannt geworden, wo es bereits seit 500 Jahren existiert. Der Begriff des Extraktivismus erinnert uns daran, dass die Menschheit durch den Entzug von Rohstoffen, wie er etwa durch Erdölförderung, Bergbau, Landwirtschaft und Fischerei getätigt wird, unwiederbringlich in das Gesicht dieses Planeten eingreift, den wir bereisen, erfahren und bewundern wollen. Globale Konzerne graben und schöpfen in immer größeren Radien nach Ressourcen – auch als Folge des Green New Deal. Was sagt die zeitgenössische Kunst zu diesen Vorgängen?
Die Ausstellung The Change in Patterns (Part I, Water Mining) im Wildpalms in Düsseldorf, kuratiert von Alex Meffert und Jorge Sanguino, führt eine Gruppe internationaler Künstler*innen zusammen, die sich mit dem Element des Wassers als vom Menschen beanspruchte Ressource auseinandersetzen, die in Zusammenhang oder Folge von extraktivistischen Prozessen angeeignet und ausgebeutet wird. Referierend auf die gravierenden Veränderungen unserer klimatischen und ökologischen Umgebung, die bereits stattfinden, präsentiert The Change in Patterns künstlerische Strategien, welche die folgenschweren Missverständnisse in den Fokus nehmen, die über die Verfügbarkeit von Wasser verbreitet sind.
Das verklärte Bild, das unsere Beziehung zum Wasser als Naturelement prägt und das weiterhin reichlich von der Gegenwartskunst bedient wird, nimmt die Ausstellung als Ausgangspunkt, um diese Annahmen um die Realität des (Neo)Extraktivismus (der Begriff verweist u.A. auf das Ungleichgewicht zwischen Rohstoffe exportierenden Staaten des globalen Südens und westlichen Ländern, welche die Bodenschätze gewinnbringend weiterverarbeiten) zu erweitern; den faktischen Umgang, den der Großteil der Menschheit mit dieser Ressource pflegt. Die zahlreichen Mythen und Sehnsüchte, die das Element Wasser umgeben, dekonstruiert The Change in Patterns dabei nicht vollständig. Vielmehr integrieren die künstlerischen Positionen diese Narrative, um ein ganzheitlicheres Bewusstsein um die Bedeutung dieser lebensspendenden Ressource zu vermitteln.
Die verschiedenen Werke, die Wasserphänomene und -vorkommen überall auf der Welt zum Gegenstand haben, bringen die Stärke einer Kunst mit, die in dem, was sie kommuniziert, konkret ist. Damit bilden die Positionen ein wohltuendes Gegengewicht zu der Komplexität der Probleme, die mit der Nutzung von Wasser verbunden sind, sowie den komplizierten Lösungsvorschlägen, die häufig an der Vielfalt der involvierten Akteure und Interessen scheitern. Anhand von einfachen, kreisrunden Röhren aus Ton, die ein wenig an Zisternen erinnern, spürt Hans Baumann am Salton Sea in Kalifornien einem dieser komplexen Wasserphänomene und der damit verbundenen Folgen für die Gemeinschaft nach. Der riesige See im Süden Kaliforniens entstand 1905 durch einen Dammbruch. Während sich um das Gewässer mit der Zeit ein Ökosystem entwickelte, gelang es dem Staat Kalifornien, der den Salton Sea einerseits als Erholungsgebiet, andererseits als Abwasserbecken nutzte, bisher nicht, eine nachhaltige Beziehung zu dieser menschengemachten Ressource aufzubauen.
Hans Baumann versucht dem gestörten Verhältnis zu dem sukzessive austrocknendem See neues Leben einzuhauchen, indem er in Zusammenarbeit mit Bewohner*innen der anliegenden Gemeinde Martines Torres Röhrenkörper anfertigt, mit denen er im Boden die Stellen markiert, an der sich die Topografie des Sees verändert. Die kollektive Anfertigung und Setzung dieser ökologischen Markierungen bezieht Native Americans mit ein, welche seit Jahrzehnten am meisten von der Verschmutzung und Vernachlässigung des Gewässers betroffen sind. Durch eine künstlerische Intervention schafft der Künstler somit eine neue Perspektive auf den See, welche an der Wurzel des Problems des Wasserschwundes ansetzt: die Aneignung des Salton Seas als nutzbare Ressource durch Bundesbehörden, welche die lokale Bevölkerung ausgrenzen.
Diese Ausbeutung oder Zerstörung von natürlichen Vorkommen mit extremen Folgen für die nichteinbezogenen Gemeinschaften wiederholt sich als Schema im Grunde genommen in allen Fällen des Extraktivismus von Wasser, den die Ausstellung in weiteren Positionen thematisiert. Besonders herausstechen dabei die ermächtigenden Gesten, welche die Künstler*innen in ihren meist kollektiven Projekten dem übermächtigen Gebaren von Rohstoffkonzernen und den Regierungen, die diese unterstützen, entgegensetzen. Die Stärke von The Change in Patterns liegt folglich darin, dass die Ausstellung nicht einfach nur Missstände anprangert, sondern auch demonstriert, dass Kunst ein mächtiges Vehikel für Handeln und Veränderung sein kann.
In ihrer mehr als zweistündigen Dokumentation Humo sobre los humedales (Rauch über den Sümpfen) verfolgt die Künstlerin Barbara Marcel das Engagement von feministischen und ökologischen Aktivistinnen im Rahmen der andauernden, gewaltvollen Proteste gegen die soziale Ungleichheit in Chile, die an den chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera adressiert waren und im Herbst 2019 einsetzten. Kern des Films ist der jahrzehntelange Raubbau der Regierung und des vorhergehenden diktatorischen Regimes an den Wasserressourcen des Landes, die fast vollständig privatisiert sind. Im Film schlägt sich diese Ausbeutung erneut in Form des Kampfes um das natürliche Sumpfland der Humedales außerhalb der Stadt Conceptión nieder, das Umweltschützer*innen seit Jahren gegen Überbauungspläne verteidigen.
In ruhigen, leicht distanzierten Bildern, die abwechselnd das Biotop der Sümpfe, Aktivistinnen in Gesprächsrunden und Aufnahmen der Protestaktionen zeigen, dokumentiert Barbara Marcel, wie sich während des Aufstandes 2019 (queer)feministischer Aktivismus und Umweltschützer*innen zu einer Bewegung zusammenschlossen, die im gewalttätigen, neoliberalistischen Patriarchat, das sich alles aneignet, einen gemeinsamen Gegner gefunden hatte. Der Film stellt sehr deutlich heraus, dass im System des Extraktivismus die Zerstörung der Umwelt und die Verletzung von Bürgerrechten eng miteinander einhergehen. Die Verbreitung von Wissen über die natürlichen Ressourcen und die Vernetzung verschiedener Generationen von Aktivist*innen bilden dabei eine Front, die das ungestörte Handeln von Konzernen und Politikern bremsen.
Wie anhand des Films von Barbara Marcel schlägt The Change in Patterns immer wieder einen Bogen zur Geschichte des Extraktivismus und den damit verbundenen übergeordneten politischen Ereignissen. So ist als Einleitung zur Ausstellung eine Fernsehansprache des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter zu sehen, der inmitten mehrerer Ölkrisen in den Siebzigerjahren die amerikanischen Bürger*innen in der Fernsehsprache Adress to the Nation on Energy (1977) vor der Endlichkeit von Rohstoffen warnte und aufforderte, bei dem Verbrauch fossiler Brennstoffe zu sparen. Einflussreiche Thinktanks wie das CATO Institut verdrehten diese vorausschauende Botschaft jedoch in eine eigene Erzählung, die den Plan der Carter-Regierung als Angriff auf die Freiheit der Amerikaner*innen darstellte. Die Zitierung von Carters‘ Rede zeigt auf, wie lange die Grenzen des Extraktivismus bereits bekannt sind, konsequentes Handeln jedoch durch den Widerstand – und die Verdrehung von Fakten – bestimmter Interessengruppen immer wieder verhindert wird.
Eine weitere Anregung, was zeitgenössische Kunst inmitten dieser geopolitischen Verstrickungen überhaupt erreichen kann, liefert die Arbeit Konsum der Landschaft von Mario Asef, ein kollektives Projekt, das 2015 im Rahmen der Spreewald aquamediale begann. Die Region versteht sich durch ihre Wasserläufe einerseits als touristisches Ausflugsziel, leidet aber andererseits an der Ablagerung von mit Schwermetallen durchsetztem, giftigem Schlamm, der sich durch das Eindringen von Wasser in ehemaligen Gruben des Kohletagebaus ansammelt. Um eine Lösung für die Verwertung dieses Schlamms zu finden, initiierte Mario Asef gemeinsam mit der ansässigen Bevölkerung den Bau einer Pyramide, die aus getrockneten Ziegeln des Abfallstoffes bestehen und an der Stelle einer historischen Burg errichtet werden sollte, die durch das Bergwerk zerstört wurde. Verschiedene Etappen des Projektes sind anhand von Fotografien und eines Entwurfs der Pyramide in der Ausstellung dokumentiert. Der Pyramidenbau konnte letztendlich nicht umgesetzt werden, da sich der Schlamm als schwer verwendbar erwies, aber auch Bergwerksverbände und das Land Brandenburg in das Vorhaben einschritten.
Die Bedeutung der Arbeit von Mario Asef geht jedoch weit über die Frage nach der letztendlichen Realisierung hinaus. Indem der Künstler durch die kreative „Aktivierung“ von Abbaunebenprodukten einen Ansatz entwarf, die lokale Bevölkerung in die Lösung eines durch den Bergbau verursachten Umweltproblems miteinzubeziehen, setzte sein Projekt bei einem der Hauptpunkte an, die das System des Extraktivismus aufrechterhalten. Es handelt sich um die vollständige Ausgrenzung der betroffenen Gemeinschaften, denen stetig weisgemacht wird, dass durch den resultierenden Geldfluss alle vom Rohstoffabbau profitieren. Dass dieses Versprechen sich letztendlich niemals einlöst, erklärt auch der Kunstwissenschaftler Dr. Hauke Ohls in seinem Vortrag Extraktivismen: Die Ausbeutung von Rohstoff als Thema der zeitgenössischen Kunst im Rahmen des Ausstellungsprogrammes.
Der Pyramidenbau von Mario Asef zeigt, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Akteure des extraktivistischen Wirtschaftsmodells handeln, zu wanken beginnt, sobald die ausgeschlossenen Betroffenen ihre Passivität abstreifen und in irgendeiner Weise die Dinge selbst in die Hand nehmen. The Change in Pattern zeigt – und hier passt der Titel eigentlich sehr gut – wie es der Gegenwartskunst gelingt, diese erste Schwelle der Resignation zu überwinden und Passivität in Aktivität umzuwandeln. Wie Barbara Marcels Dokumentation zeigt, ist die Vermittlung von Wissen um die Umstände der Ausbeutung ein zentraler Faktor in der Ermächtigung. Die Positionen der Ausstellung zeigen in diesem Kontext, dass zeitgenössische Kunst durch ihr Potential, eine selbstständige ästhetische Sprache zu entwickeln, Sachverhalte auf eine übergeordnete Weise erfahrbar machen kann.
Die Ausstellung schließt mit der poetischen Arbeit Driftless (2012–2019) des Künstlers Felipe Castelblanco ab, den man bei einer scheinbar unendlichen Fahrt über verschiedene Wasseroberflächen in sowohl urbanen als auch natürlichen Umgebungen verfolgt. Die ruhigen Paddelbewegungen auf einem fragilen Floß, zusammengeschraubt aus einer Platte und einem Stuhl, die den Künstler nur sehr langsam vorankommen lassen, haben etwas Meditatives und lassen sehr gut die Dimensionen der von ihm bereisten Wasserläufe und Küstengewässer wie den Kanälen von Venedig, Norwegen oder der Pazifikküste Kolumbiens nachempfinden. Die Arbeit ist einerseits aus der Idee des Wassers als umkämpfte Ressource entstanden, gründet aber auch auf einer persönlichen Erfahrung des Künstlers, der 2012 ein Stück Land in Kolumbien erworben hatte, das aber zum Zeitpunkt der Grundstücksübergabe fast vollständig von Meerwasser überflutet war.
Felipe Castelblancos minimalistische Arbeit findet in der langsamen Bewegung und ruhigen Bildern damit einen eigenen aktivistischen Ausdruck, der sich in der Adressierung bestimmter Zusammenhänge auf die Interpretation der Betrachter*innen verlässt. So kann die prekäre Fortbewegung ohne klares Ziel auch als Hinweis auf die steigenden Meeresspiegel gelesen werden. Die stille Wasseroberfläche wiederum bildeten einen Gegenpol zu der zerstörerischen Gewalt, die Konflikte um diese Ressource bereits auslösen. Felipe Castelblancos Video somit eine versteckte Warnung auf das, was uns durch den Extraktivismus von Wasser bevorstehen wird.
In Brandenburg benötigt Tesla für die Produktion von E-Autos große Mengen an Wasser aus lokalen Ressourcen. Kalifornien ist seit ein paar Jahren wiederholt von Dürren und Überschwemmungen betroffen. Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck reisen Anfang 2023 nach Südamerika, um Partner für die Förderung von Lithium zur Sicherung der E-Mobilität in Deutschland zu gewinnen. Die Kristallisation von Lithium braucht Unmengen an Wasser – (Neo)extraktivismus ist ein Thema, dass die Menschheit heute im Kern bewegt, da dieses Modell, wie Hauke Ohls es darlegt, besorgniserregender Weise durch gerade solche „grüne Technologien“, welche das Klima stabilisieren sollen, einen neuen Boom erlebt. Mit gravierenden sozialen, klimatischen und ökologischen Folgen, allen voran für die Trinkwasserressourcen. The Change in Patterns im Wildpalms gelingt es, diese komplexen Zusammenhänge durch Kunst zu vermitteln – und wandelt unsere Wahrnehmung zu allererst.
Dr. Hauke Ohls ist Kunstwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen von theoretischen, soziologischen und philosophischen Fragestellungen der modernen und zeitgenössischen Kunst [Quelle: transcript].
https://wild-palms.com/the-change-in-patterns/