Kunst hat die Kraft Menschen eine Stimme zu verleihen. Partizipatorische Ansätze, wo der/die Künstler*in Menschen oder soziale Gruppen einlädt, ein gemeinsames Werk herzustellen, erhalten zunehmend Plattformen in der Gegenwartskunst. Selten tritt man aber den Personen hinter diesen Projekten so unmittelbar entgegen wie in den Videos der polnischen Künstlerin Alicja Rogalska. In den gemeinsam mit marginalisierten Gemeinschaften erarbeiteten Filmstücken ist die Vergabe der Stimme nicht nur eine Metapher. Ein ganzes Stimmengeflecht an Gesängen, intimen Eingeständnissen und spielerischen Verhandlungen prasselt neben Bildern, die auch ohne Ton für sich selbst sprechen, auf die Besucher*innen ein. Unter dem Titel „From Ground to Horizon“ ist eine Auswahl von Werken zurzeit in der ersten institutionellen Einzelausstellung der Künstlerin in der Temporary Gallery zu sehen. Die Videoarbeiten sind in eine immersive Architektur aus gelblich-grünem Neonlicht und mit Stroh gefüllten Kissen integriert. In einem Überblick ihrer bedeutendsten Arbeiten der letzten zehn Jahre zeigt sich, wie die Alicja Rogalska Menschen zusammenbringt, die in den Videoprojekten nicht nur unbekannte Situationen der strukturellen Ausgrenzung oder Benachteiligung näher bringen. Die partizipativen Prozesse regen die Teilnehmer*innen auch dazu an, sich selbst als Subjekte neu wahrzunehmen und Perspektiven zu entwickeln, mit der sie als Kollektiv gestärkt ihrer Lage entgegentreten können.
Die Menschen, welche die Künstlerin für ihre Aktionen einlädt, haben die Gemeinsamkeit, dass sie oberflächlich gesehen häufig gar nicht offen ausgeschlossen oder diskriminiert werden, sondern mit ihren Problemen auf eine nicht sichtbare Weise unsichtbar sind. Dies hat oft damit zu tun, dass diese Gruppen mit Bereichen zu tun haben, die uns als privilegierten, mitteleuropäischen Betrachter*in fremd sind. Dazu zählen prekäre Tätigkeiten in der Landwirtschaft und das Leben in ländlichen, post-kommunistischen Gegenden genauso wie Erfahrungen von institutioneller Ausgrenzung, von denen kaum berichtet wird. Die Fähigkeit von Alicja, solche Personen und deren Misslagen aufzuspüren und sich mit ihnen zu verbinden, liegt vielleicht zu einem Teil darin begründet, dass sie selbst aus einer ländlichen Gegend stammt und während ihres Studiums die gegenseitigen Vorurteile und Fehlannahmen zwischen den Menschen von Stadt und Land mitbekam. In den Videoarbeiten beobachtet man so eine erstaunliche Kompetenz der Künstlerin, Dichotomien zu untergraben. Obwohl fremde Individuen in ihren bis dato unbeachteten persönlichen Problemlagen auftreten, ist es nicht das große Andere oder Fremde was Alicja hier präsentiert, sondern Ausschnitte menschlicher Netzwerke, mit denen wir selbst verbunden sind und die wir bisher nicht sehen konnten oder wollten.
Ausgangssituation für die Zusammenarbeit mit den Gemeinschaften ist immer ein spezifisches, offenes Setting in Form eines Workshops oder Spiels. Innerhalb dieser Projekte werden die Teilnehmer*innen zu Akteuren, die auf Grundlage einer von der Künstlerin eingebrachten Idee, Konzeptes oder Fragestellung eigenständig dazu beitragen, in welche Richtung das Endergebnis gehen soll und wie weit sie sich dabei persönlich öffnen. Das von der Künstlerin gewählte Format ist so was wie ein Vehikel, eine Ausdrucksform, die das Potential weckt und kanalisiert. Die Arbeit „NEWS MEDLEY“ (2020) im ersten Raum, der dem Thema Landleben und Landwirtschaft gewidmet ist, ist mit Frauen unterschiedlicher Generationen aus einem örtlichen Chor im ländlichem Ungarn entstanden und illustriert so die typische Herangehensweise der Künstlerin. In lokale Tracht gekleidet, singen die Frauen in einprägsamen Formationen aufgestellt im Stil traditioneller Volkslieder über ihre aktuellen Lebensumstände und den Schwierigkeiten, den sie im Leben in einer Region, die vom Strukturwandel nach dem Niedergang Kommunismus abgehängt wurde, ausgesetzt sind. Das den beständigen, mäandernden Klang der Worte getragenen Video, in dem sich die Sängerinnen in der Umgebung eines trostlosen Agrargeländes vor Hallen, Geräten und Traktoren aufstellen, ist ein eindrucksvolles Porträt generationsübergreifender Themen der Gemeinschaft, wie der harte Alltag, finanzielle Not, Alkoholismus und Isolierung durch die Politik. Gleichzeitig berücksichtig der Liedtext dabei auch die höchst unterschiedlichen Erfahrungen zwischen jungen und älteren Frauen, die in getrennten Welten aufgewachsen sind. Die Aktion ist somit auch als eine Form von alternativer kollektiver Grassroots- Nachrichtensendung konzipiert, die für eine Pluralität der gehörten Stimmen einsteht.
Die Wiedergabe ehrlicher Stimmen, die Zugang geben zu einer im Verborgenem liegenden Realität, steht auch im Zentrum des Filmprojektes „THE ROYALS“ (2017-2018). Hervorgegangen aus einem künstlerischen Workshop mit osteuropäischen Gastarbeitern, die temporär auf der britischen Kanalinsel Jersey bei der Ernte der Edel-Kartoffelsorte „Jersey Royal“ mitarbeiteten, sind es diesmal keine Gesänge, sondern während des Workshops aufgezeichnete Äußerungen der Teilnehmer*innen über die schweren Arbeitsbedingungen, die mitgeteilt werden. Alicja ist es gelungen, diese sehr kontaktscheue Gruppe und gesellschaftlich isolierte Gruppe über die Ausschreibung von Ton-Workshops auf Facebook zu erreichen. Aufgabe der Sessions war es, aus eigener Erinnerung Kartoffeln aus Ton zu formen, von denen die schönste prämiert wurde. In dem Video sieht man allein die Hände der mit dem Formen der Tonklumpen beschäftigten Teilnehmer*innen. Die besondere Sorgfalt, die hier einer einzigen Knolle gewidmet wird, macht auf subtile Weise auf die tausenden von Kartoffeln aufmerksam, die unter enormen Zeitdruck und auszehrendem physischem Einsatz jedes Jahr durch die Hände der Saisonarbeiter gehen. Der Preis an den besten Arbeitgeber in Jersey, dem eine in Bronze gegossene Kartoffel überreicht werden sollte, blieb symbolisch, da es keinen geeigneter Kandidaten gab. Das Projekt gibt einer in Europa teils enormen sozialen Missständen und Ausbeutung ausgesetzten Gruppe eine Präsenz, die über den Zeitraum der Workshops hinaus wirkt.
Die Videoarbeiten im nächstem großem, der Zukunft gewidmetem Raum geben anhand von Aktionen, welche die Individuen stets auf eine verhältnisgerechte Form auf Augenhöhe einbinden und repräsentieren, einen genaueren Einblick in die sensible gemeinschaftliche Arbeitsweise der Künstlerin mit Gruppen, die von gesellschaftlicher Ausschließung betroffen sind. Das Videoprojekt „The Aliens Act“ (2017) dokumentiert einen Kostümschneider-Workshop, der gemeinsam mit der slowenischen Selbsthilfegruppe „The Erased“ durchgeführt wurde. Die Gruppe wurde von Personen gegründet, welche durch territoriale Umbildungsprozesse in den Neunziger Jahren in Slowenien ihre Staatsbürgerschaft verloren hatten und somit, in den offiziellen Registern unsichtbar, keinen Anspruch mehr auf irgendwelche Grundrechte hatten. Die Videodokumentation zeigt die Teilnehmer*innen bei der Anfertigung von Kostümen, die ihren Aktivismus und ihr Selbstverständnis reflektieren sollen und von ihren Schaffer*innen getragen in einer Fotoserie gezeigt werden. Vor allem kommen erneut die Ausgegrenzten selbst mit ihren eigenen Erfahrungen und teils bewegenden Schicksalen zu Wort. „THE ALIENS ACT“ stellt damit erneut die Frage, inwiefern der Staat und unsere Gesellschaft dazu in der Lage und auch bereit ist, solche Formen marginalisierten Protestes zu integrieren.
Alicja Rogalska gelingt es so immer wieder, Menschen und Themen zu erspüren und Formate der Sichtbarkeit für diese zu entwicklen, die trotzt ihrer Präsenz in mitten der globalen Gesellschaft leicht übersehen werden. So hat die Künstlerin in „MY FRIENDS JOB“ (2016-17) mit der Gewerkschaft der Straßenmusiker in der indonesischen Hauptstadt Jakarta zusammen eine Performance konzipiert und ein Lied komponiert. Das Gesicht verdeckende, die Passant*innen und das umgebende Straßenleben spiegelnde Kuben und ein ironischer Text über die harten Arbeitsbedingungen der Musiker, welche oft durch Prekarität in diese Tätigkeit gewechselt sind, korrigieren das Stereotyp der Sänger als Tunichtgute, die als Hippies ein Lotterleben führen auf drastische Weise. Einen eher entrückten und menschenfernen Eindruck vermittelt die Arbeit „DARK FIBRES“ (2015-2021), die Videoaufnahmen aus einem deutschen Labor zeigt, in dem Glasfaserkabel in einem visuell beeindruckendem Prozess hergestellt werden. Diese überirdische technologische Erhabenheit wird hervorgehoben durch den harmonischen, tiefen Gesang eines georgischen Chors, dessen Liedtext sich jedoch mit allem Anderen als der hier zu sehenden außerweltlichen Ästhetik beschäftigt. Der Männerchor singt einen Klagegesang über strukturelle Ungerechtigkeiten und die Abkopplung vom „Netz“, die in den Randstaaten Europas zu einer kollektiven Erfahrung zählt. Ausgangspunkt des Liedes ist ein Vorfall, der sich 2011 angeblich in einem georgischen Dorf ereignet hat, als eine alte Frau auf der Suche nach Metall versehentliche die nationale Glasfaserleitung durchtrennte.
Das in seiner emotionalen Wirkung eindringlichste und vielleicht kontroverseste Projekt der Künstlerin ist sicherlich „TEAR DEALER“ (2014). Anders als in den anderen kooperativen Aktionen liegt dieser Videodokumentation nicht ein Workshop oder eine gemeinsam ausgemachte Handlung zu Grunde, sondern ein konkretes, monetär geregeltes Geschäft, der Ankauf von Tränen von handelswilligen Anbieter*innen. In einem Pop-up Laden, der für wenige Tage in der von Arbeitslosigkeit geprägten polnischen Stadt Lublin in einer Einkaufsstraße öffnete, erhielten Personen für mit filigranen Glaszylindern gesammelte Tränenflüssigkeit umgerechnet 25€. Die Videoaufnahmen zeigen bizarre Szenen von jungen Frauen, die sich darauf konzentrieren, Emotionen wachzurufen, die sie zum Weinen bringen. Die Manipulation intimster Körperäußerungen für Geld ist quälend anzuschauen und als Setting moralisch fragwürdig. Dennoch illustriert dieses Video so drastisch wie kein anderes der Projekte die Möglichkeiten und Grenzen partizipativ angelegter Videokunst vor dem Hintergrund des an Nichts halt machendem Kommerzialisierungsdranges der kapitalistischen Gesellschaften.
Unter Berufung auf den Theoretiker Max Haiven und seinem Ansatz der „radical imagination“, welcher über die Entwicklung einer Vorstellungskraft im Kapitalismus sinniert, die sich nur scheinbar Räume „außerhalb“ des kapitalistischen Systems angeeignet hat (Wie Internet, Urban Gardening, Spiritualität) diesem aber eigentlich unterworfen ist, sieht die Kuratorin der Ausstellung Aneta Roskowka in Alicja Rogalskas Projekten Foren, in denen eine freie imaginäre Kraft mobilisiert wird. Diese Macht entzieht sich nicht nur der Systemlogik, sondern macht es tatsächlich möglich, eine andere Welt als die bekannte zu erdenken. Die kooperativen Aktionen der Künstlerin sind in der Alltagserfahrung der Eingebundenen verwurzelt, und dennoch gehen die Szenarien ein Stück über die Realität hinaus, indem sie einen Raum von Möglichkeiten entwerfen, in dem die Teilnehmer*innen sich und ihre Kompetenz neu erfahren und so gestärkt in ihr altes Leben zurückkehren können. So gibt Alicja Rogalskas Werk zuletzt zu denken, dass es diese Zwischenräume der freien Entwicklung und Imagination nicht nur durch die exklusive Interaktion einer Künstlerin geben sollte. Wir alle sollten uns in unserer Fähigkeit, andere mögliche Welten zu entwerfen, nicht kleinreden oder täuschen lassen, und als solidarische Gemeinschaften solche Räume finden und aufrechterhalten.