Die Sammlung Philara zeigt gerade in der Gruppenausstellung „attempts to be many“ sechs Künstlerinnen der Düsseldorfer Kunstakademie, die in zwei erstaunlichen Gebieten untereinander Schnittflächen gefunden haben. Der eine Bereich betrifft den intensiven, medienübergreifenden Einsatz von Collage- oder Assemblage Technik als künstlerisches Stilmittel. Poetische Auseinandersetzungen mit religiösen Mythen und mythischen Erzählungen konstituieren das andere verbindende Element. Mit Aspekten von Race, Gender, Identität und Kollektivität verhandeln Nara Bak, Jana Buch, Donja Nasseri, Anys Reimann, Arisa Purkpong und Theresa Weber dabei eine Reihe von Themen, die ähnlich wie eine Collage selbst in zahlreiche Fragmente, Diskurse und Plattformen zersplittert sind. Aus der Umformung und Rearrangierung gefundenen oder eigenen Materials schaffen die Künstlerinnen neue Zusammenhänge, die identitätspolitische Fragestellungen aus ihren starren Kontexten entfernen und so frische Perspektiven eröffnen.
Die Technik der Collage als künstlerische Strategie hat eine große Tradition bei den weiblichen Surrealistinnen. In den Achtziger und Neunziger Jahren wurde das Collagieren Teil der Populärkultur, danach fiel diese Methode ein wenig aus der Gunst und wurde nicht selten als künstlerischer Dilettantismus aufgefasst. Digitale Bildbearbeitungsprogramme riefen eine neue Glattheit in der Bild-Repräsentation ins Programm, gegenüber der das händisches Zusammensetzen von Bildelementen aus der Zeit gefallen wirkte. Wie die Positionen in „attempts to be many“ es ankündigen, ist die Kunst aber schon wieder längst an einem neuen Punkt in der Collagetechnik angelangt. Denn es ist paradoxerweise die Flut an digitalen Bildern und Informationen, die gerade wieder den manuellen künstlerischen Eingriff attraktiv macht. Lange als altmodisch konnotierte Techniken wie das Ausschneiden von Bildfragmenten und deren Neuanordnung werden herangezogen, um anhand eigener Konstellationen dem nicht mehr beherrschbaren Bildersturm punktuell habhaft zu werden. Ein Mittel der Vergangenheit bleibt diese Technik dabei nicht. Denn das manuelle Prinzip der Neuzusammensetzung wird oft durch digitale Bildbearbeitung ergänzt oder ins Digitale (rück-)überführt. Und Medien wie Video, Sound oder Installation werden ebenfalls collagiert.
Das monumentale Wandbild von Theresa Weber (*1996), zusammengefügt aus einer ins Unendliche gehenden Wiederholung von einer Fotografie der Büste der mesopotamischen Gottheit Ishtar, gemischt mit verdrehten und verzerrten Selfies der Künstlerin und anderen historischen Elementen, ist ein treffendes Beispiel für diese Verlagerung der Collage ins Digitale. Denn auch diese Arbeit funktioniert weiterhin über die Prinzipien der Selektion und der Neuanordnung, nutzt aber Computertechnologie, um das eingesetzte Material in Dauerschleife derart zu multiplizieren, dass es wie ein gewaltiges Fries oder Muster erscheint, das in seinen Einzelheiten kaum noch zu identifizieren ist. Als Fruchtbarkeit- und Kriegsgöttin sowohl weibliche als auch männliche Prinzipien in sich vereinend, sieht Theresa Weber in der Gottheit Ishtar eine symbolhafte Figur für die Koexistenz von Eigenschaften, die in unsere Kultur normalerweise Gegensätze darstellen. Der in dem Fries ebenfalls auftretende babylonische Löwe sollte später in den monotheistischen Religionen eine bedeutende Rolle spielen. In der unglaublichen Mannigfaltigkeit sich wiederholend, scheint es sich bei dem Ornament beinahe selbst um eine göttliche Botschaft zu handeln, die jedoch schlicht den Rechentechniken des Computers folgt.
Das Werk bildet den Hintergrund für eine Deckenhohe Assemblage aus mit Eisenketten wie zu einem Netz oder Vorhang verknüpften Platten aus Silikon, in denen Kunstnägel, Plastikperlen und Glitzer eingegossen sind. Versehen mit geflochtenem Kunsthaar, scheint die Künstlerin im „Transformation Gate“ eine eigene Ethnologie im Punk-Stil zu betreiben. Anstatt Kleidungsstücken und rituelle Gegenstände sammelt Theresa Weber diese bunten Plastikteile und untersucht sie auf ihre identitätsbildende Funktion. Hinter der Fassade dieser oberflächlichen und ästhetisch reizvollen Künstlichkeit stehen für Theresa Weber Praktiken, welche alle eine Erweiterung des Körpers mitbringen und so sehr eng mit der Selbstwahrnehmung und dem sozialen Status verbunden sind. Wie sie anekdotisch einbringt, sind Kunstfingernägel hier in Deutschland etwa ein Zeichen von Unterschicht, während in der Karibik, mit der sie über ihren Herkunftshintergrund verbunden ist, das Tragen von Kunstfingernägeln die soziale Stellung betont, keine schweren manuellen Arbeiten durchführen zu müssen. Zwischen Fetisch, Kleber und Dekor dringt die Künstlerin daher zu sehr sensiblen Fragen von kollektiver Identität und sozialer Hierarchisierung vor.
Die nächsten, im Dialog stehenden Positionen, eine mit einem Soundpiece ergänzte Installation von Nara Bak (*1993) sowie eine Videoarbeit von Jana Buch und Arisa Purkpong, sind hinter einen großen schwarzen Vorhang verborgen. Dahinter eröffnet sich wie eine Bühne ein dunkler, kaum beleuchteter Raum, der eine ganz eigene, fast eigenartige Atmosphäre mit sich bringt. Wie zum Gedenken an Verstorbenen sind auf einem halbrunden Gestell in Wachs gegossene, mit der Zeit abbrennende Porträts Gesichtern asiatischer Frauen aus dem Umkreis der aus Südkorea stammenden Künstlerin aufgestellt. Davor stehen drei runde Tische, auf denen eine Tonskulptur und Kuchen angerichtet ist. Die Ausstrahlung dieses Ambientes ist sehr düster und schwer und bringt unwiederbringlich Erinnerungen an eine Mahn- oder Gedenkwache von Verstorbenen mit, denen man sich kaum entziehen kann. In ihrer künstlerischen Praxis auf der Basis eigener Notizen und Erlebnissen arbeitend, hat Nara Bak hier ein „Trauercafé“ geschaffen, das Gefühle von Schmerz und Verlust inszeniert, wie sie etwa junge Asiatinnen durch alltägliche, subtile Diskriminierung erfahren, die sich in der Pandemie noch verschärft haben. Eine Soundinstallation betrauert auf deutsch und koreanisch den imaginären Tod einer Freundin. Mit sehnsuchtsvollen Ausführungen über vergebliche Bemühen der Selbstrealisierung stehen die geschilderten Trauergefühle für die verlustreiche Suche nach der eigenen Identität. Angelehnt an koreanische Trauerrieten schafft die Künstlerin hier mit symbolhafter Materialität einen Raum, der weit über das eigentlich Sichtbare hinausgeht.
An der gesamten Wand gegenüber angestrahlt, verfolgt das Filmprojekt „Notizen aus Stein“ von Jana Buch (*1988) und Arisa Purkpong (*1995) zeitübergreifend das Schicksal zweier mythischer Figuren, der altgriechischen Göttin Medusa und der sagenhafte Khmer-Prinzessin Arabimba. Beide Figuren werden in dem Film in jeweils neues Licht gesetzt. Die als scheussliches Monster dargestellte Medusa wird als Opfer von Neid, Machtsucht und Neid dargestellt, während im Fall der Figur der schönen Arabimba ihre erstaunliche Fähigkeit, ihr Geschlecht abzulegen und sich für eine gewisse Zeit in einen Mönch zu transformieren, hervorgehoben wird. Der Film selbst knüpft abgesehen von wiederholten Aufnahmen einer Bronzestatue des Medusa-Töters Perseus wenig direkten Bezug zu den Geschichten der beiden Figuren. Wie in einem visuellen Reisetagebuch rauschen Landschaften und Straßenlichter vorbei, einzelne markante Bilder stechen hervor, die vermutlich in einem asiatischen Land aufgenommen worden sind, sich ansonsten aber jeder präzisen Verortung entziehen. Immer wieder unterbrechen fragmentierte Notizseiten, die mitlaufende Reiseerzählung, welche von einer lyrischen Erzählstimme und sphärischen Klängen begleitet wird. Der Film sucht mehr, als das er findet. Dieser Eindruck gibt recht treffend das Motiv des Filmprojektes wieder, nämlich die Suche nach neuen Bedeutungen für jahrtausendealte Mythen, die bis heute in ihrer einseitig interpretierten misogynen Botschaft weiterwirken.
Dieser Ansatz der Collagierung von Sequenzen, Eindrücken und Bildern findet sich erneut in einer aus viertausend einzelnen ausgedruckten Bildern zusammengesetzten Wandinstallation von Arisa Purkpong wieder. In dichten Schichten übereinander gelagert, gedreht und übermalt, scheint man vor einem undurchdringlichen Wald an Bildern zu stehen. Die ursprüngliche Ausgangssituation, nämlich die Verarbeitung eines weiten Fundus von Bildmaterials, das während einer Reise der Künstlerin zu einer feministischen thailändischen Frauenorganisation entstanden ist, ist in der Installation kaum noch zu erkennen. Subjektive Erfahrungen und objektive Informationen vermischen sich ununterscheidbar, Nebensächliches und Bedeutendes erscheinen auf gleicher Ebene. Arisa Purkpongs fotografische Collage teilt vielleicht wenig Greifbares über ihre Erlebnisse mit der Friends of Women Foundation in Thailand mit, doch sie entzieht sich auch jeglicher etablierter Narrative, die linear-chronologische Darstellungsweisen automatisch mitbringen. Anstatt dessen verkörpert die fotografische Installation die Komplexität des persönlichen Erinnerungsvorgangs, die bei der Konfrontation mit der Flut an digitalen Daten zu Tage tritt, aus der sich unmöglich ein akkurates Bild machen lässt. Mit ihrer anti-chronologischen Installation erlaubt die Künstlerin so wieder eine kollektive Lesart ihrer Erfahrungen.
Anys Reimann (*1965) arbeitet ebenfalls mit der Technik der Collage, doch setzen sich ihre Bilder aus einer sehr präzisen Komposition von Ausschnitten zusammen, deren Zusammensetzung auf einen maximalen Effekt von Ausdruck und Dramatik aus ist. Ein wenig wie Vampire, voller Lebensdurst und dem/der Betrachter*in überlegen wirken diese ausschliesslich schwarze Personen darstellenden Figuren und Gesichter, die sich teils vervollständigt durch malerische Ergänzungen, in selbstbewusste Posen werfen. Die figürlichen Collagen, welche aus Zeitschriften entnommenen, sehr modisch wirkenden Augen, Mündern, Körperteilen und Gesichtsmerkmalen komponiert sind, übergehen jegliche Gender-Grenzen. Obwohl sie schwarze Identität zu inszenieren scheinen, entziehen sie sich jeglicher finaler Zuschreibung. Starke Affirmation stehen verzerrten, stereotypen Bildern gegenüber, die den „weißen Blick“ zurückzuspiegeln. Anys Reimann weist mit ihren Collagen damit auf ein fluides Konzept von Race und Gender hin, das sich nicht an Merkmalen festmachen lässt. Einen Modellnachbau zur Illustration der Machtwirkungen, die eine „weiße“ gesellschaftliche oder institutionelle Umgebung hat, simuliert die Künstlerin im anliegendem Raum durch einen Garten aus „schwarzen“ Zimmerpflanzen mit dunkler Blatt-Optik, die nun der Situation eines White-Cubes „ausgesetzt“ sind. Mit dieser optisch sehr geheimnisvollen Installation regt Anys Reimann dazu an, als selbstverständlich wahrgenommene Settings in ihren Auswirkungen zu hinterfragen.
In einer digitale und analoge Aspekte vereinenden, technisch versierten Herangehensweise erforscht Donja Nasseri (*1990) Konzepte von Genderfluidität und Queerness, welche sich aus symbolisch-sakralen Repräsentationen von Statuen des Pharaos Echnatons und der Königin Hatshepsut ableiten lassen. Der Gegensatz zwischen der sonst gewohnten Monumentalität des eingebrachten Materials und dessen Überführung in ein flaches, 2-Dimensionales Format anhand von Collagen aus archivarischem Bildmaterial irritiert zunächst. Eine Deckeninstallation aus bedrucktem Stoff, welche den/die Betrachter*in zwingt, den Blick empor zu richten, verwandelt einen Raum in einen Tempel. Zwischen Blitzen und Wolken erblickt man sich überlagernde Fragmente von Statuen Echnatons, die mit sanften Züge und weichen Körperrundungen weibliche Charakteristika tragen. Wie an einer Pinnwand werden diese fotografischen Ausschnitte von Nägeln zusammengehalten, welche auf den brachialen Umgang hinweisen, den diese Statuen als Museumsstücke ausgeliefert waren. Eine weitere Werkserie collagierten Fotografien, die wirkungsvoll in neon-orange Kunststoffrahmen eingefasst sind, zeigt erneut fotografische Fragmente von Statuen, teils verdoppelt, teils gefaltet und von Nägeln durchstoßen, welche diesmal der Königin Hatshepsut angehören, die anhand der Aneignung heiliger, männlicher Insignien als Pharao auftrat. In sehr glatt wirkenden und scheinbar digital manipulierten Collagen, die mit einem schrillen Farbspektrum spielen und dennoch manuell entstanden sind, überführt Donja Nasseri altes Bildmaterial und historische Themen in einen neuen Zusammenhang.
Wie Donja Nasseri fassen viele der in „attempts to be many“ zu sehenden Künstlerinnen Themenkomplexe wie Identität, Race oder Gender zeitübergreifend auf. Hinweise auf eine solche Pluralität finden sich auch bei Theresa Weber, Arisa Pukpong und Jana Buch in antiken Religionen, göttlichen Konzepten und Mythen. Die Künstlerinnen nutzen bewusst die irritierende Wirkung, welche eine plötzliche Erscheinung solcher Jahrtausende Jahre alter Momente fluider Identität in der Gegenwart auslösen. Ihre Botschaft ist damit auch, dass man Bestrebungen von Diversität und Emanzipation an einer Werte-Skala anstatt an einer Zeitachse messen sollte. Denn gerade solche zeitlichen oder geographischen Hierarchien stehen bei der Umsetzung diverser und identitätspluraler Lebenskonzepte weiterhin im Weg. In der Fusion von persönlicher Erfahrungen mit kollektiven Vermittlungsansätzen betten die Künstlerinnen eigene Prozesse der Selbstfindung in größere gesellschaftliche Situationen und Fragestellungen ein. Das Stilmittel der Collage bringt durch gleichzeitig unendliche wie auch höchst individuelle Möglichkeiten der Neuzusammensetzung die Freiheit mit sich, eigene Konstellationen zu entwerfen, die nicht unbedingt den Gesetzen und Gewohnheiten der identitätspolitischen Diskurse entsprechen müssen. Die Positionen in „attempts to be many“ bilden somit eine Gesamtcollage, die schon längst über das Stadium des „Versuchen“ hinausgegangen ist.