Steinerne Monumente prägen unser Stadtbild. Als Symbole von Nationalismus und weißem Überlegenheitsanspruch stehen diese Denkmäler jedoch oft nicht mehr im Einklang mit dem aktuellen Geschichtsverständnis. Und viel zu häufig gedenken sie gerade solchen Personen und Ereignissen, die im Zusammenhang mit der Unterdrückung Anderer stehen. Jetzt ist wieder Krieg in Europa und stellt die Erinnerungskultur vor neue Herausforderungen. Was gestern noch undenkbar war und zum Bereich des Mahnen und Gedenkens gehörte, ist bittere Realität geworden. Vermutlich konnten die Kuratorinnen Katharina Klang und Julika Bosch von ADJUSTABLE MONUMENTS, einer Gruppenausstellungen internationaler Künstler*innen in der Sammlung Philara, in der Vetreter*innen einer jüngeren Generation eigene Modi des Erinnerns entwerfen, die das Monumentale umgehen, nicht voraussehen, wie sehr sie mit ihrem Konzept das Zeitgeschehen treffen. Das Anliegen der Ausstellung, eine Kultur des Gedenkens vorzuschlagen, welche Erfahrungen und Identitäten von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen in ihr Zentrum setzt, anstatt immer die gleiche lineare, sämtliche Pluralität ausklammernde und auch zu großen Teilen diskriminierende (westliche) Mehrheitsgeschichte nachzuerzählen, ist vor dem Hintergrund der durch Putins Angriffskrieg eingeleiteten Zeitenwende wichtiger denn je.
ADJUSTABLE MONUMENTS gelingt es durch eine Vielfalt von Positionen, die vom Blickwinkel und der Ästhetik her sehr unterschiedlich gelagerter sind, die Praxis der Erinnerung kritisch zu hinterfragen und auch ganz klar Probleme der mangelnden Repräsentation und politischer Verdrängung zu thematisieren, ohne dabei den Optimismus zu verlieren. Und obwohl manche Werke sich durch eine ausgefallene Bildsprache auszeichnen, vermeidet es die Ausstellung, mit ihren Denkmalkonzepten in neue Utopien zu verfallen. Diese Kombination kontrastierender Elemente – visuell spannende, vom kreativem Ansatz her diverser Werke, die von einem sich über die Positionen erstreckenden Subtext ergänzt werden, der immer wieder auf die ernsten Implikationen hinweist, welche die In- oder Exkulsion von Ereignissen und Subjekten in die Gedenkkultur mit sich bringen – macht die Besonderheit der Ausstellung aus.
Eben diesen heiklen Aspekt des Gedenkens, möglicherweise den Personen, die im Fokus stehen, gar nicht gerecht werden zu können, thematisiert die Künstlerin Azra Akšamija (*1976 in Sarajevo) im Rahmen ihrer raumgreifenden Installation The Future to be Rewritten. Akšamija, die im Rahmen ihrer Professur am MIT das Future Heritage Lab gründete und aktiv das transformative politische Potential von Kunst und Architektur untersucht, zog 2020 ihren Siegesentwurf für ein Denkmal, das der Frauenbewegung in Cambridge, Massachusetts gewidmet werden sollte, kurzfristig zurück. In einer Vitrine kann man aus ihrer abgedruckten ausführlichen Stellungnahme entnehmen, dass sie ihre Auszeichnung auf Grund der fehlenden Berücksichtigung von People of Color und anderen diversen Minderheiten im Vergabe- und Partizipationsprozess nicht annehmen konnte. Als Fragmente eines möglichen Denkmals sind nun Zitate von Vertreterinnen der Sufragettenbewegung in Form goldener Plaketten auf einer lila gestrichenen Wand angebracht.
Auch Maximiliane Baumgartner (*1986 in Lindenberg) und Alex Wissel (*1983 in Aschaffenburg) geht es in ihrer gemeinsamen Arbeit Courtroom in erster Linie um die Lücken der Erinnerungskultur. In einer beeindruckend detaillierten, in der Tiefe fast journalistischen Installation aus Zeichnungen, Gemälden, Skizzen und Texten, die von Publikationen ergänzt werden, beleuchten sie die Ereignisse in Medien, Politik und während der Gerichtsprozesse rund um das dem NSU zugerechneten Nagelbombenattentat am Bahnhof Wehrhahn, bei dem im Jahr 2000 nur einen Steinwurf von der Philara entfernt zehn Sprachschüler*innen aus osteuropäischen Ländern, die sich mehrheitlich als jüdisch identifizierten, schwer verletzt wurden und ein ungeborenes Baby starb. In einer Kombination aus sprachlicher Analyse und mehrdeutiger, eine rechtsradikale Gesinnung andeutender Symbolik, deren Enttarnung zum typischen stilistischen Repertoire von Alex Wissel zählt, zeigen beide Künstler*innen, wie durch die fehlende mediale Präsenz der Opfer und die Verschleppung der Verfahren das Gerichtswesen und die Berichterstattung unterschwellig rechte politische Haltungen zulassen und begünstigen. Diese Tatsache, dass wir uns längst in einer Situation befinden, in der eine aktive und bewusste Erinnerungskultur dringend notwendig ist, damit das Gedenken nicht von Gedankengut verdrängt wird, das rechte Haltungen favorisiert, nimmt auch die in Istanbul geborene Künstlerin Ülkü Süngün (*1970) zum Anlass ihrer Videoarbeit TAKDIR.DIE ANERKENNUNG. In einem partizipatorischen Format lädt sie die Betrachter*innen dazu ein, sich ihr gegenüberzusetzen und dabei zuzuhören, wie sie in dem Video die Namen von 10 Personen vorliest, die vom NSU ermordet wurden. Indem die Künstlerin einen Fokus auf die korrekte Aussprache der mehrheitlich türkischen Namen der Bürger*innen legt, ruft sie dem Betrachter nicht nur die Personen ins Gedächtnis sondern regt auch zur Frage an, wie eine angemessen Erinnerungsgeste für diese Individuen ausschauen könnte.
Eine andere Gruppe von Künstler*innen wiederum beschäftigt sich vor allem mit der historischen und ideologischen Last, welche die Denkmalskultur im Westen mit sich bringt, indem sie versuchen, das Denkmal von seinem historischen Pathos zu befreien. Zu diesen Positionen zählt beispielsweise die Skulptur der Künstlerin und Professorin Zusanna Czebatul (*1986 in Międzyrzecz, Polen), die aus zwei Miniatur-Obelisken besteht, die auf einer Matratze eng ineinander verschlungen „kuscheln“. In ihrer Arbeit Daze hebt die Künstlerin damit gleich mehrere Prinzipien dieser Monumente auf, nämlich ihre Größe, ihre Unnahbarkeit und ihre Eigenschaft, alleine zu stehen, ohne andere Bauwerke als Konkurrenz. Damit deckt sie auf subtile Weise auch auf männliche Dominanz und Vorherrschaft zielende Symbolik dieser Bauwerke hin, die rückblickend recht platt und durchschaubar erscheint. Gemeinsam mit Studierenden von der Brno University of Technology hat Czebatul eine Installation mit einzelnen Skulpturen entwickelt, in der die Künstler*innen individuelle Entwürfe eines Gedenkens vorschlagen, das ihrer Meinung nach aus gesellschaftlicher Sicht angebracht ist. Umfassende Wandtexte, in denen sich jede*r Studierende persönlich mit zentralen Fragen des Erinnerns auseinandersetzt, ergänzen die Skulpturen und laden zum Weiterdenken ein.
Aleksandra Domanović (*1981 in Novi Sad, Serbien, ehemals Jugoslawien) beschäftigt sich in ihrem collagierten Video-Essay Turbo Sculpture mit den Absurditäten der Denkmalkultur. In ihrem Herkunftsland Serbien wurden in den 2010ern an öffentlichen Orten Statuen für Helden und Figuren aus Hollywood wie Rocky Balboa oder Jonny Depp errichtet. Diese positive Geste der Behörden, die durch den Einzug amerikanischer kultureller Ideologie nicht so neutral ist, wie sie erscheinen mag, kann auch als Überdeckung eines weitaus problematischeren Erinnerungsdiskurses gelesen werden. Fotografien der Star-Statuen werden überschnitten durch Material aus den Medien, mit dem die Künstlerin das popkulturelle Phänomen des Turbo Folk dokumentiert, einer Musikrichtung, die Folk-Elemente mit Pop, Elektro und Techno mischt und vor allem in Serbien beliebt ist. Domanović verfolgt so die Frage, wie apolitisch Popkultur tatsächlich ist. Die Betrachtung eben dieser Grenze zwischen harmloser Unterhaltungskultur und ideologischer Beeinflussung betrachtet auch der israelische Künstler Michael Blum (*1966 in Jerusalem) anhand eines weißen quadratischen Steinsockels, an dessen Seiten in vier Sprachen „Das Gerücht“ eingefräst ist. Das „leere“ Monument The Rumour (Or How Samantha Fox Helped Cacak Reach Fame) bezieht sich auf ein Gerücht, nachdem der serbische Präsident 2007 der Popsängerin Samantha Fox ein Denkmal errichten wollte. Blum weist hier auf das Spekulative der Denkmalkultur hin, deren Manifestationen häufig auf letztendlich fragilen Entscheidungen beruhen und die auch durch einen vermeintlich apolitischen Charakter Schaden auslösen können.
Die Arbeiten des Kollektivs Black Quantum Futurism, von Danielle Brathwaite-Schirley und Ayrson Heráclito bilden so etwas wie eine thematische Einheit, da sie sich alle, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Schwerpunkten und Ästhetik, mit der Geschichte der Unterdrückung schwarzer Personen und Communities auseinandersetzen, für die sie jeweils eigene Modi der Erinnerung entwerfen. Das Kollektiv Black Quantum Futurism (mit Sitz in Philadelphia, Pennsylvania, USA) um die Künstlerinnen Camae Ayewa und Rasheedah Phillips basiert seine Arbeiten und Aktionen auf einem eigenen Zeitbegriff, in dem Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nicht voneinander getrennt sind, sondern ineinander fließen. Auf diese Weise können die Mitglieder des BQF sich Elemente der schwarzen Geschichte und Erinnerung rück-aneignen, die verschüttet oder verdrängt wurden, und neue Gestaltungsräume schaffen, um diesen Momenten auf eigene Weise eine Bedeutung für die Gegenwart zu verleihen. Dies ist in etwa das Prinzip der hier präsentierten Videoarbeit Write No History, welche die amerikanische Kultur der Zeitkapseln aufgreift. In einem Video füllen, vergraben und öffnen Kollektivmitglieder eine solche Zeitkapsel in zeitlich nicht hierachisierten Aufnahmen und feiern so den selbst kreierten Freiraum, ihre eigene Geschichte und Gedenkkultur erschaffen zu können.
Die Emanzipation aus der „weißen“ Erinnerung und die Rückeroberung der Zeit, die geraubt und der eigenen Erzählung entzogen wurde, sind auch wesentliche Prinzipien der Videoarbeit O Sacudimentoda Maison des Esclaves em Gorée von Ayrson Heráclito (*1986 in Macaúbas, Brasilien). An ehemaligen Orten des transatlantischen Sklavenhandels in Senegal und Brasilien führt der Künstler in den ehemaligen Festungen und Verwaltungsgebäuden in weißer Kleidung und mit Zweigen in den Hände Reinigungsrituale durch. Die Rituale, welcher einer brasilianischen Heilsreligion entstammen, sollen die andauernden Trauma, die mit der Verschiffung der versklavten Individuen einhergingen, heilen. Bis heute in der postkolonialen Theorie unter dem Begriffskonzept des „Black Atlantik“ zusammengefasst, soll der mit diesen Ereignissen verbundenen Ohnmacht eine positive Handlungsmacht entgegensetzt werden. Innerhalb dieses weiten Komplexes von Sklavenhandel und Migration widmet sich Danielle Brathwaite-Shirley (*1995 in London) in einem ästhetisch herausstechenden Ansatz, der sich des Stils und der Technologie bedient, insbesondere der Identität Schwarzer Trans Personen. Wie in der hier gezeigten partizipatorischen Arbeit WE ARE HERE BECAUSE OF THOSE THAT ARE NOT erschafft die Künstlerin immersive, visuell intensive Welten, in denen sich Fragmente umprogrammierten Bildmaterials zu surrealen, futuristischen Strukturen formen und türmen und die man als Spieler*in auch tatsächlich virtuell begehen kann. Die Challenge ist, an der Seite einer Trans Person zu bleiben, diese Person zu schützen und zu verstehen. In ihrem Design von Animationen, Performances, Videospielen und digitalen Theaterstücken schafft Brathwaite-Shirley so ein virtuelles Archiv Schwarzer Trans Erfahrung, das sich über die Einbeziehung der Besucher*innen stetig erweitert.
Die wie ein schwebendes Bühnenbild hinter einander gehängten, überdimensionierten Figuren und Formen in Filzstoff, ein Baum, ein Vogelschwarm, ein Stück Land und eine Sonne, des aus dem Kosovo stammenden Künstlers Petrit Halilaj (*1986, Kostërrc, Kosovo) mögen auf den ersten Blick kindlich und harmlos erscheinen, doch sie deuten wie kein anderes Werk der Ausstellung auf das Leid hin, was das die Menschen zur Zeit in der Ukraine erfahren. Denn die Filzobjekte mit dem Titel Very volcanic over this green feather sind auf der Basis von Zeichnungen entstanden, die der Künstler als Kind während des Kosovo-Krieges (1998-99) in einem Flüchtlingslager als Teil der Trauma-Therapie geschaffen hat. Schon als Kind hat Halilaj Soldaten und Flüchtlingstrecks gemalt, ohne Brutalität oder Schuldzuweisung, doch man ahnt, dass die kindliche Unschuld dahinter nicht mehr vorhanden ist. Mit der Übernahme der Perspektive eines Kindes auf ein Kriegsgeschehen bilden seine in raumeinnehmende Objekte transformierten Zeichnungen einen universellen, zutiefst humanen Entwurf des Gedenkens, der Hoffnung und Mahnung miteinander vereint.
Beim Rundgang durch die Ausstellung wird es einem bewusst, dass das Gedenken immer an eine gewisse Materialität gebunden ist, ein Objekt, einen Ort, etwas, das sich physisch manifestiert, besuch- und berührbar ist. Der Gedanke des Anspruches für die Ewigkeit ist so schwer abzulegen, da wir tief von einem nostalgischen Geschichtsverständnis geprägt sind. ADJUSTABLE MONUMENTS will uns diese „nostalgischen“ Orte oder Statuen auch nicht nehmen. Die Kuratorinnen machen zusammen mit den Künstler*innen jedoch darauf aufmerksam, dass eine inklusive Gedenkkultur neue flexible, anpassbare Praktiken und Konzepte erfordert und auch neue Räume neben den klassischen Szenerien, die je nach Bedürfnissen auch virtuell sein können. Vor allem macht die Ausstellung deutlich, dass das Erinnern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, an der wir alle uns beteiligen müssen. Und gerade die, die das Privileg haben, von der Mehrheitserzählung abgedeckt zu werden, haben die Verantwortung, ausgegrenzte Gruppen und Individuen in die Gedenkkultur miteinzubeziehen. Denn auch angesichts der sich in wuchtigen Monumenten manifestierenden Gedenkkultur ist, wie ADJUSTABLE MONUMENTS eindrucksvoll zeigt, nichts für immer in Stein gemeisselt.