Andreas Gefeller/ Alex Grein/ Alison Jackson - Refik Anadol —NRW Forum und Kunstpalast

Bis heute definiert sich die Fotografie durch ihren Wahrheitsanspruch. Wir fotografieren, um Dinge, Menschen und Ereignisse abzubilden. Unabhängig davon, ob die Intention eine künstlerische oder alltägliche ist: das entstandene Bild dient in erster Linie als Dokument. Mit dem Einzug digitaler Technologien der Bildbearbeitung und -erzeugung wurde die Fotografie jedoch in eine Welt katapultiert, in der solche grundlegenden Prinzipien auf dem Kopf stehen. Mittlerweile können Computerprogramme auf Basis von Algorithmen selbst digitale Bilder erzeugen. Fotografisches Material lässt sich unendlich vervielfältigen und variieren, ohne dass ein einziges Bild durch menschliches Zutun geschossen wurde. Das NRW Forum und der nahegelegene Kunstpalast zeigen zur Zeit mit Andreas Gefeller, Alex Grein, Alison Jackson und Refik Anadol eine Auswahl an fotografischen beziehungsweise fotografiebasierten künstlerischen Positionen, anhand derer sich sehr gut der Möglichkeitsraum erkunden lässt, den digitale Fotokunst gegenwärtig bietet. Von Alison Jacksons satirischen Dekonstruktionen der Bildmacht in „Truth is Dead“ bis zu Refik Anadols Datenskulpturen, „Machine Hallucinations“, die sich lebendig auf Screens winden, brechen alle Künstler*innen auf die ein oder anderen Weise mit dem traditionellen Fotografiebegriff. Dabei schaffen sie Werke, deren höchst unterschiedlicher Bildreiz immer wieder den Blick verführt, bannt und die eigenen Sehgewohnheiten in Frage stellt.

Im NRW Forum spielt Andreas Gefeller mit pauschalen Erwartungen an die Fotografie, digital bearbeitet zu sein. Stellen Bilder Umgebungsphänomene in verfremdeter Form dar, geht man in der Regel davon aus, dass sie nachträglich verändert wurden. Doch bei Andreas Gefellers ephemeren wie imposanten Fotografien, die durch das Licht, was in Ihnen fixiert ist, beinahe leuchten und in denen sich der Künstler mit einer menschlich dominierten Natur beschäftigt, ist dies gerade nicht der Fall. Der Fotograf, von dem hier in einer ersten großen Retrospektive sechzig Werke von 2000 bis heute zu sehen sind, arbeitet ausschließlich mit Techniken der analogen Fotografie wie Langzeit-, Kurzzeit oder Überbelichtung. Auf diese Weise entstehen beeindruckende Aufnahmen von Pflanzen, Bäumen, Sand oder einer Wasseroberfläche mit Regentropfen, deren weiße Helligkeit fast blendet und die dennoch gestochen scharf wirken.

Durch die abstrahierende Wirkung der Belichtung, welche die Regelmäßigkeit naturgegebener Muster ins Zentrum rückt, scheint sich eine innere Perfektion aus den Bildern herauszuschälen, die einem unerklärlich vorkommt und daher so stark an digitale Nachbearbeitung denken lässt. Interessanterweise findet sich dieser Blick, der nach der Magie des Strukturellen sucht, auch in Gefellers Fotografien der menschengemachten Umgebung wieder. Aufgenommen bei Nacht und anschließend stark überbelichtet, werden Gebäude, Raffinerien und Straßenkreuzungen zu mystischen Gebilden, die, reduziert zu Hubs für den Fluss von Menschen, Gütern und Informationen, an Platinen von Computern erinnern. Dieses Wiederfinden von Formationen weit außerhalb der eigentlichen Bilder spielt sich auch in der Serie der Supervisions ab, gigantische Panoramen aus unzähligen Einzelaufnahmen, die wie ein Satellitenbild unglaublich detailgetreue Obersichten auf eine Hühnerfarm, einen Pool oder die schwarzen Steelen des Holocaust Denkmals in Berlin bieten. Andreas Gefeller bietet so einen Einblick in einen wiederkehrenden Rhythmus von Mustern und Sequenzen, der unsere Welt in einer beinahe übernatürlichen Logik durchzieht.

Ähnlich wie Andreas Gefeller beschäftig auch Alex Grein, Preisträgerin des Landsberg-Preises 2022, die Idee der Hyperrealität. In bestechend reduzierten Bildern und Videos taucht die Künstlerin tief in die Materie der digitalen Bildtechnologien ein, deren immateriellen Spuren sie fotografisch hinterherspürt. Schon seit Langem empfindet Alex Grein ein großes Unbehagen hinsichtlich der Tatsache, dass uns die Kontrolle über die Milliarden an Bildern, die über Smartphones oder KI-Tools erzeugt werden, zunehmend entrinnt. Durch einen Filter persönlich konzipierter analoger Techniken selektiert Alex Grein dieses digitale Material erneut und macht es so wieder fassbar. Diesem Ansatz folgt etwa die Serie Pictures on a Screen, glatte digitale Kompositionen aus schwebenden Gegenständen und anonymen aufpolierten Interieurs. Doch der Schein täuscht, die Bilder sind durch das Abfotografieren von Miniaturobjekten auf dem Screen eines Smartphones entstanden. In ihren Rückübersetzungen dekuvriert Alex Grein mittels analoger Werkzeuge so den verqueren Wahrheitsanspruch von millionenfach vorhandenem, künstlich generiertem Bildmaterial im Internet.

Im NRW Forum schließt die neue Werksserie Anonymous Collection thematisch an Greins Aufarbeitung und Transformation von Bildarchiven an. Die Frage, welche Rolle Fotografien für die kollektive Erinnerung spielen und wie sie diese Funktion über Jahrzehnte beibehalten, ist ein zentraler Aspekt in ihrem Schaffen. In einem ähnlichen Verfahren wie in Pictures on the Screen hat die Künstlerin Fotografien aus einer Sammlung anonymer Uhrheber von Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts aus den Beständen des Kunstpalastes ausgewählt und unter Auflegen minimaler Ergänzungen neu abfotografiert. Kleine Irritationen, die sich dennoch poetisch einfügen, wie eine fallende Feder im Vordergrund einer Hinabsicht auf Hochhausfassaden, tanzende Menschen in Badeanzügen am Strand, die nun mit einer roten Kordel Tauziehen, oder eine Plastiktüte, die der Wind vor einer historischen Ansicht über die Dächer von Köln weht, rücken spielerisch die Überlegung nach der heutigen Bedeutung dieser Fotografien ins Zentrum, deren Kontext durch fehlende Informationen zu den Urheber*innen nicht überliefert ist.

In ein ganz anderes Archiv, nämlich den aus unzähligen Satellitenaufnahmen zusammengesetzten Kosmos von Google Maps begibt sich die Künstlerin in ihrer Videoarbeit, deren einzelne Module die zoologischen Namen von Faltern und Schmetterlingen tragen. Auf großen Screens folgt man den Insektenpräparaten bei einem scheinbaren Flug über die Erdoberfläche, geleitet vom  Scrollen der Künstlerin durch Google Maps auf einem Tabletscreen. Während des Fluges nähern sich die Falter immer wieder bestimmten, größtenteils menschengemachten Gebieten und Strukturen an, bis sie an ihrem Heimatort ankommen. Indem die Arbeit den unglaublichen Detailreichtum des Programmes mit der Aufdeckung deutlicher Fehlern und Unschärfen kontrastiert, stellt Alex Grein wieder den Authentizitätsbegriff zur Disposition, den wir mit solchen Anwendungen verbinden. Gleichzeitig lässt sich die Videoarbeit aber auch als einen warnenden Hinweis auf den menschlichen Unterwerfungsdrang lesen, der mit digitalen Tools versucht einen Planeten lückenlos zu erfassen, dessen Natur sukzessive ausgelöscht wird.

„Truth is dead“ – diese drastische Aussage, die sich wie in Andreas Gefellers und Alex Greins Werken erneut auf den Wahrheitsanspruch der Fotografie bezieht, untermauert die britische Fotografin Alison Jackson mit Aufnahmen, die man leicht als Klamauk abtuen könnte. Mithilfe von Schauspieler*innen und Doppelgänger*innen inszeniert die Künstlerin vermeintliche Paparazzi- oder Dokumentaraufnahmen berühmter Persönlichkeiten wie Donald Trump, Marilyn Monroe, der Royal Family, Justin Bieber oder Angela Merkel. Alison Jackson lichtet ihre Subjekte dabei in Situationen ab, die tief in das vermeintliche Privatleben dieser Prominenten eindringen und höchst komisch, peinlich oder manchmal sogar ein bisschen anstößig sind. Neben dem hohen Unterhaltungswert, den diese perfekt entworfenen, alternativen Realitäten aus der Welt der Stars, Politiker und Royals bieten, zeigt sich in der Begegnung mit den Fotografien aber noch etwas ganz anders.

Denn in erster Linie entlarvt Alison Jackson das Verlangen der Betrachter*innen nach intimen Einblicken in den Alltag dieser Personen, deren Leben wir durch ihre teils selbst-forcierte Dauerpräsenz in den Medien meinen zu kennen. Während der Starkult und die damit einhergehende Sucht nach sensationellen Bildern nichts Neues ist, wird diese heimliche Leidenschaft unserer Gesellschaft zunehmend problematisch in einer Umgebung, wo, Stichwort „deep fake“ und „fake news“, Fotografien und Nachrichten durch digitale Tools beliebig verändert und manipuliert werden können. Wann empfinden wir ein Bild als authentisch? Wo ist die Grenze zwischen real und fake?  Indem sie mit analogen Mitteln – minuziös ausgesuchten Doppelgänger*innern, jede Menge Schminke und Kostüme sowie sorgfältig konzipierten Szenen – humorvoll überspitzte alternative Prominentenleben entwirft, lässt Alison Jackson die Betrachter*innen über den Wahrheitsgehalt reflektieren, den wir von millionenfach verbreitete Bilder in den Medien verlangen.

Bis noch vor wenigen Jahren klang die Bezeichnung „Pionier der Datenkunst“ wie ein hohler Satz. Mit der Präsentation der immersiven Datenskulpturen auf teils meterhohen Screens des international profilierten KI-Künstlers Refik Anadol schließt auch der Kunstpalast an die neue Welt der digitalen Kunst an. Im Studio des 1985 in Istanbul geborenen Künstlers berechnen Algorithmen aus einem Archiv von Millionen einzelnen Bilddateien, die ein mehrköpfiges Team sammelt, eigenständige und ästhetisch völlig neuartige Werke, in der eine KI ihre eigene Interpretation des Ausgangsmaterials offenbart. Unzählige kleine Bälle in Milliarden von Farben, die ständig changieren, werden in Wellen über die Bildschirme gespült. Ein Rhythmus von auftürmen, hinabstürzen, versenken und wieder emporsteigen, der unendlich erscheint.

Die monumentale Datenskulptur Machine Hallucinations Satellite Simulations: B (2021) etwa wurde aus 2 Millionen Bildern, die von verschiedenen Weltraumteleskopen aufgezeichnet wurden, durch sogenannte GAN Algorithmen generiert, ein Machine Learning Modell, in dem zwei Netzwerke gegeneinander antreten und aus deren Interaktion ein kreatives Produkt entsteht. Die resultierende, sich zu sphärischen Klängen beständig verändernde Landschaft aus Partikelwellen in Rosa- und Rottönen zieht einen vollständig in ihren Bann. In seinem meditativen, sinnlichen Flow wirkt Refik Anadols Werk in einer Weise übernatürlich und erhaben, wie man es von der Gegenwartskunst im Moment noch nicht kennt. Aber wird sich dieser Neuheitseffekt nicht irgendwann abnutzen?

Refik Anadol geht es nicht darum, mit Algorithmen die uns bekannte „materielle“ Kunst ästhetisch zu überbieten. Vielmehr sieht sich der Künstler berufen, den zig-Millionen von Bilddaten, die, für die meisten unsichtbar, in digitalen Archiven bereits vorhanden sind, ein künstlerisch erfahrbares Gesicht zu geben. Damit möchte er – nicht viel anders als Alex Grein– zum  Nachdenken über den Wert dieser kollektiven Archive anregen. Angestoßen durch die Alzheimererkrankung seines Onkels überträgt Refik Anadol den lückenhaften und durch die Lebenszeit terminierten Prozess der menschlichen Erinnerung in ein datenbasiertes Netzwerk. Refik Anadols Animationen sind faszinierende Wunder aus flirrenden Farben, die man ohne jegliche Hintergrundinformation genießen kann. Doch sie sind gleichzeitig auch momenthafte Verkörperungen des Annäherungsprozesses zwischen Mensch und Maschine, mit seinen vielen Chancen für die Menschheit, vor dem Refik Anadol uns durch seine Kunst die Angst nehmen möchte.

Archiv, Daten, Transformation und Wahrheitsanspruch: so unterschiedlich die medienbasierten Positionen im NRW Forum und Kunstpalast auch erscheinen, verhandeln sie alle diese Aspekte der zeitgenössischen Fotografie. Denn auch Refik Anadols Datenskulpturen kommen nicht ohne Naturfotografien aus, wie etwa Andreas Gefeller sie tätigt. Um jenes Gefühl der „Otherworldliness“ zu erfahren, braucht man wiederum keine KIs: es begegnet einem ebenso in Andreas Gefellers mysteriösen Bildern, denen analoge Techniken zu Grunde legen. Welchen Status wiederum hat Datenkunst, in der das ursprüngliche Bildmaterial gar nicht mehr erkennbar ist? Diese Frage nach dem vermeintlich echten oder authentischen Bild stellen, wenn auch auf künstlerisch divergente Weise, Alex Grein und Alison Jackson. Wer also etwas über Fotografie in der Gegenwart erfahren möchte, dem empfehle ich dringend alle vier Ausstellungen zu besuchen, die sich – vermutlich ohne dahinterliegende Intention – auf wundersame Weise ergänzen.

 

Out of Sight, Andreas Gefeller Fotografien. Kuratiert von Judith Winterhager.

Truth is Dead, Alison Jackson. Kuratiert von Anke Degenhard.

Umlauf, Alex Grein. Landsberg-Preis

https://www.nrw-forum.de/ausstellungen

Machine Hallucinations, Refik Anadol. Kuratiert von Alain Bieber, Sammlungsleiter zeitbasierte Medien

https://www.kunstpalast.de/de/museum/ausstellung/aktuell/refik-anadol

 

Andreas-GefeAndreas Gefeller, The Other Side of Light, 013 (Araukarie), 2017  |  © Andreas Gefeller / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Courtesy Thomas Rehbein Galerie

Andreas Gefeller, Soma 002, 2000  |  © Andreas Gefeller / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Courtesy Thomas Rehbein Galerie

Alex Grein, Aglais io, Frankreich. 2021 (Videostill, Detail), 1-Kanal HD-Video  |  Courtesy Galerie Gisela Clement, Bonn

Alex Grein Tauziehen, 2023, Inkjet-Print / Unbekannt Ohne Titel (Tanz am Strand), 1920er Jahre Silbergelatineabzug  |  

Alison Jackson: Trump Money. THIS IS NOT DONALD TRUMP  |  © Alison Jackson

Alison Jackson: Diana Finger Up  |  © Alison Jackson

Refik Anadol Maschinen Halluzinationen - Satelliten Simulationen B, 2021  |  © Refik Anadol Studio / Courtesy Art Collection Telekom. Foto: Anne Orthen

Portrait Refik Anadol  |  Foto: © Efsun Erkilic