Der Bergbau in Deutschland ist heute Teil einer aufwendig kuratierten Industriekultur. 2018 endete die Steinkohleförderung, dennoch hat die Welt des Bergbaus mit ihren eigenen Gesetzen und ihrer eigenen Sprache Spuren hinterlassen. So ist das Eindringen des Bergmanns in das Erdreich weiterhin mit Mythen umrankt. In ihrem konzeptuellen Projekt NACHT IM SCHACHT beschwören die Künstlerinnen JP Langer und Eliza Ballesteros anhand einer Rauminstallation diesen Schatz an Geschichten, kulturellen Praktiken, Sagen und Mythen rund um das Thema Bergbau herauf. In der Rauminstallation, die den Schacht als Ort thematisiert, untersuchen die Künstlerinnen mögliche Bedeutungen dieser untergegangenen Welt für das heute. Dabei behandeln sie das Thema nicht abschließend, sondern erweitern es eher, indem sie im Nails Project Room eine vage, teils unheimliche Atmosphäre erzeugen, die stetig neue Assoziationen weckt.
Ein Schachteingang aus Lehm, flackerndes Licht, Schatten und Ruß. Objekte und der Raum werden zu Erzählern, der Ort der Ausstellung verschiebt sich in der Zeitlichkeit. Tastend nach neuen Konstanten kommt man in diesem halbdunklen Umfeld an. In NACHT IM SCHACHT reagiert jede Künstlerin mit ihrem eigenem Genre auf das Thema Bergbau. Ausgangspunkte sind die Abbaugebieten in der Nähe der Herkunftsorte von JP Langer und Eliza Ballesteros im Erzgebirge und dem Ruhrgebiet. Neben dieser Auseinandersetzung mit den Orten des Abbaus gehen die Künstlerinnen auch der Biografie spezieller Objekte nach. Kommerzielle Produkte treffen dabei auf Relikte aus dem Alltag des Bergmanns, die gemeinsam als Fragmente einer neuartigen Erinnerungskultur positioniert werden. Durch die bewusste Setzung dieser Relikte verfolgen die Künstlerinnen auch den Weg von Objekten von ihrem ursprünglichen Verwendungskontext in die Welt des häuslichen Wohlfühlbereiches. Die Frage nach der Authentizität von Dingen in ihrer Rolle als reale oder fiktive Andenken wird somit zum zentralen Motiv.
Die Installation und die darin eingefügten skulpturalen und angeeigneten Objekte sowie die im Tagebaugebiet Garzweiler und im Erzgebirge entstandene Filmarbeit HAMRY geben somit zunächst Anhaltspunkte vor, die lose um das Thema Bergbau kreisen und sich dann immer weiter zu einer groben Karte verdichten. Die dünne Tonschicht, mit der die Fensterfront des Nails bis auf eine bogenförmige Aussparung vollständig bedeckt ist, bereitet den/die Besucher*in auf das Eintreten in einen von der Außenwelt abgeschirmten Bereich vor, dem Hinabsteigen in den Schacht gleich. Die Form des freigelassenen Sichtfensters (SCHACHTMUND) referiert dabei auf die sogenannten Schwibbögen, Dioramen-ähnliche Kerzenhalter mit Holzfiguren, die in der Weihnachtszeit in vielen Fenstern stehen und traditionell aus dem Erzgebirge stammen. Ursprünglich brannte das Kerzenlicht für die Wiederkehr des Bergarbeiters aus der Grube. Die heute weltweit bekannten Figürchen entstanden als neues Gewerbe, als die Silbererz-Förderung keine Erträge mehr brachte. In solchen feinen Nuancen, wie der Andeutung einer schlichten Bogenform, legen die Künstlerinnen so den mit der Bergbaukultur verbundenen Erinnerungsraum frei.
Die Werksserie MINER`S APRON [Arschleder] von Eliza Ballesteros, auf Wasserstrahl geschnittene, sternförmige Glasdisplays aufgespannte weiße Lederstücke, greift ein weiteres Relikt aus dem Bergbau auf. Mit ihren Schnallen und Riemen einem Fetisch-Kleidungsstück nicht unähnlich, handelt es sich bei den Arschledern um einen Teil der Bergmannsbekleidung, die zum Schutz des Hosenbodens umgeschnallt wurde. Wie auf mittelalterliches Pergament aufgezeichnete Verwischungen und Ornamente in Tinte und Graphit verleihen den Objekten eine geheimnisvolle Patina. Diese Bearbeitungen rücken die MINER‘S APRON durch scheinbare Spuren und Abdrücke von Ruß wieder in ihren ursprünglichen Gebrauchskontext. Doch sie öffnen mit ihren wirbelsäulenartigen Verzierungen, die aus einem schwarz-grauem Nebel hervortreten, auch ein geheimnisvolles Fenster in eine dunkle, unergründliche Welt. Die Flamme einer unter der Decke hängenden alten Grubenlampe, FRENCH FROG, taucht die Szenerie in ein warmes, gleichzeitig auch irgendwie unheimliches Flackern. Versetzt positioniert zu den Arschledern sind Sternenkörper- und Fragmente aus von Heftzwecken zusammengehaltenem Papier, die wie Kristalle wirken. Bei diesen Sternen BASHFUL, DOPEY und DOC, die JP Langer als Versatzstücke gesetzt hat und nach Charakteren der Sieben Zwerge benannt sind, handelt es sich um sogenannte Herrnhuter-Sterne, die auf eine Erfindung eines Mathematiklehrers des gleichnamigen Ortes in Sachsen zurückgehen. Nach der Wende hat sich aus der in der DDR wenig einträglichen Manufaktur ein erfolgreiches Unternehmen entwickelt. Als authentisches weihnachtliches Dekorationsobjekt aus dem Osten mit einem prekären Herstellungshintergrund nehmen die zum gehobenen Deko-Objekt aufgestiegenen Herrnhuter-Sterne eine ähnliche Stellung wie die Erzgebirgefiguren ein. Im Erzgebirge hängen nun diese Sterne anstelle der den Bergmann begrüßenden Lichter in den Fenstern.
Der Titel des kooperativ entstandenen Filmes HAMRY bedeutet „Hammer“ auf Tschechisch und referiert auf die grenzübergreifende Ausbreitung des Bergbaus im Erzgebirge. In einem stetigen Wechsel der Kameraführung begeben sich Eliza Ballesteros und JP Langer auf eine Art Erkundungsreise zu populären Orten des Berg- und Tagebaus in NRW. Die Destinationen umfassen dabei sowohl touristische Ausflugsziele wie die Zeche Zollverein und das Bergbaumuseum in Bochum als auch die Ausflugsplattform und die verlassene Gegend um den Tagebau Garzweiler. Gleichgültig, gelangweilt, sich treiben lassend auf der Suche nach einem ansprechenden Motiv, wird jeder Ort zur Bühne für die Protagonistinnen. Die eigentliche Bedeutung der Umgebung wird nebensächlich. Scheinbar ziel- und richtungslos streifen beide durch ein menschenleeres Gebiet in der Nähe der Braunkohlegrube in Garzweiler, NRW. Die karge Situation am Rand eines Abbaugebietes wird im Film zum Setting, in das die Frauen wie Figuren performativ einfügen. Wo immer sie erscheinen, verhalten sich die Protagonistinnen diametral zur Geschichtlichkeit der Orte. Als könnten sie nichts damit anfangen, äußern sie die Lust etwas zu zerstören, die tatsächlichen Dimensionen des Gesehenen kommentieren sie mit keinem Wort. In der Zeche Zollverein wird die beleuchtete Rolltreppe zur Selfie-Kulisse. Das indifferente, auf sich selbst zentrierte Verhalten der Beiden wirkt deplatziert, wirft aber gerade dadurch die kritische Frage auf, was uns als Gesellschaft heute mit diesen Orten des Berg- und Tagebaus verbindet.
Das Nachspüren von Geschichten und die Verfolgung narrativer Strukturen bilden die gemeinsamen Aspekte zwischen den Werken der Künstlerinnen, die sich beide seit ihrem gemeinsamen Grundstudium in Leipzig in einem engen künstlerischen Austausch befinden. Eliza Ballesteros hat 2019 als Meisterschülerin von Rita McBride an der Kunstakademie in Düsseldorf abgeschlossen. Ihre Arbeit bewegt sich zwischen Raum, Material und Skulptur. Anhand von Eingriffen oder Manipulationen deckt die Künstlerin eingeschriebene Bedeutungen auf, um diese um zusätzliche Konnotationen zu erweitern. JP Langer, die 2021 bei Clemens von Wedemeyer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig graduierte, arbeitet stark mit dem filmischen Element und beschäftigt sich mit dem symbolischen Potential von Objekten, die sie in szenischen Konstellationen zusammenbringt.
Durch die mit einem Flaschenzug beschwerte Tür zum hinteren Raum, an dem als Gewicht eine eiserne Trinkflasche hängt, dringt nur ein schwacher Lichtstrahl in den halbdunklen Ausstellungsraum. Dahinter begegnet einem eine ganz andere Situation, die grell erleuchtet ist. An der rechten Wand hängen wie in einer Waschstube drei lehmverkrustete Grubentücher, betitelt HERRENSAUNA, Zeugen eines harten Arbeitsalltags der gerade erst aus dem Schacht entstiegenen Männer. Das Karomuster dieser Tücher sollte beim Abwischen optisch den Schmutz der Grube verbergen. Heute sind solche Handtücher in der Gastronomie verbreitet und in jeder besser ausgestatteten Küche. Ein besonderes Detail sind die goldenen Handtuchhalter, die Kreuzhacken nachempfunden sind. Wie die MINER‘S APRON mit ihren ledernen Riemen haben die spitzen, glänzenden Hacken zusammen mit den erstarkten „verschmutzten“ Tüchern etwas Faszinierendes. Bei den Hacken handelt es sich allerdings um ganz herkömmliche Souvenirs aus dem Bergbaumuseum Bochum. Am Eröffnungsabend gibt es in diesem Raum zudem eine nostalgische Verköstigung: Grubenfusel, stilvoll in Schnapsgläschen in Glasstiefelform serviert, und den DDR-Kuchen Kalter Hund. Verborgen in einer linken Raumecke ist ein großer Nussknacker von der Wand diagonal in den Raum abstehend angebracht (SHAGGY FUR). In dieser schwebenden Position und mit seinem weit geöffneten Mund tritt die zwielichtige, bedrohliche Natur eines Nussknackers plötzlich hervor.
Wie auch bei diesem Nussknacker beschwören JP Langer und Eliza Ballesteros in ihrem Projekt die geheimnisvollen, unheimlichen Seiten von Gebrauchsgegenständen aus der Welt des Bergbaus hervor. Große Verfremdungen finden dabei nicht statt, die eigentliche Funktion der Objekte wird weder verdeckt noch verschleiert. Doch von diesen Dingen aus öffnet sich durch den künstlerischen Eingriff auf einmal eine Tür, eine Öffnung zu einer möglichen tieferen, verborgenen Bedeutung, die fiktiv erscheint, aber nie willkürlich angelegt ist. Indem sie Facetten der Bergbaukultur wieder an die Oberfläche holen, setzen die Künstlerinnen auch indirekt bei der in den letzten Jahren vorangeschrittenen Verdrängung dieser Kultur an. Das dies so glaubhaft gelingt, ist nicht selbstverständlich. Denn die Frage, was man heute noch über den Bergbau vermitteln kann, ist vor dem Hintergrund der dominierenden (umwelt)politischen und gesellschaftlichen Debatten nicht einfach zu beantworten.Eliza Ballesteros und JP Langer stoßen in NACHT IM SCHACHT ebenfalls in dieses Feld vor, fördern dabei jedoch etwas ganz anderes zu Tage. Sie lassen die Betrachter:innen auf Spuren einer Folklore stoßen, die bis heute nachwirkt, indem sie heimliche Faszinationen wecken, die unbewusst mit der Grubenarbeit verbunden sind. Der Eindruck, dass in der sensiblen Kombination von Raum und Objekten das Gezeigte stets Schemenhaft bleibt, macht den besonderen Reiz der Installation aus.
Dass diese geheimnisvolle, spekulative Welt des Bergbaus in NACHT IM SCHACHT einen als Betrachter*in nicht loslässt, hat auch mit dem Befinden in der derzeitigen Lage zu tun. Lange war das Bild vom Bergbau mit Gefahr, Schmutz und einer gewissen Tristesse verbunden sowie einem dominant heteronormativen männlichen Rollenbild. In einer postmodernen, pandemiegeschüttelten Welt, die an uns vorbeirasend sich zunehmend unserer Kontrolle entzieht, bekommt das Eintreten in das schützende Erdreich, abgekoppelt vom grellem Lärm der Oberwelt, auf einmal eine ganz andere Bedeutung. Vielleicht ein Grund, tiefer zu graben.