Verankert in der Technologie der vor-digitalen Welt, konstruiert die amerikanische Künstlerin Julia Scher aus Kabeln, Monitoren und Kameralinsen einen Mechanismus, der zugleich immateriell wie zeitlos ist – den überwachenden Blick. Ausgehend von der Supervisionstechnik, wie sie ihren Höhepunkt in den Achtziger- und Neunzigerjahren hatte, verfolgt Julia Scher detektivisch die Transformation westlicher Demokratien in „Hochsicherheitsgesellschaften“, deren Subjekte sich bereitwillig überwachen lassen. Für die Abgabe von Autonomie wird uns Sicherheit und Sorgenfreiheit versprochen. Doch ist es die Sache Wert?
„I am sorry, but you might be already trapped“ – so in etwa könnte die Botschaft lauten, die Julia Scher in ihrer neusten Ausstellung „JULIA SCHER – Hochsicherheitsgesellschaft“ im Museum Abteiberg Mönchengladbach dem Publikum vermittelt. Eine autoritäre Stimme, welche den Besucher*innen im Eingangsbereich die Diskretion und Verlässlichkeit des allumfassenden Kameraüberwachungssystems versichert, das die Künstlerin im Erdgeschoss des Museums installiert hat, gibt es jedenfalls (Don’t Worry (Excerpt), 1994). Der Parcours einzelner Stationen aus Kabeln, Bildschirmen und Kameras reicht vom Foyer bis in die hintersten Ausstellungsräume, in denen eine Übersicht von Schers Arbeiten zu sehen ist, die von ihren Anfängen in den Siebzigerjahren bis in die Gegenwart datiert.
In Kooperation mit der Kunsthalle Zürich zeigt das Museum Abteiberg eine umfassende Werksschau der Künstlerin, die anhand der Repräsentation sämtlicher Bestandteile ihres diversen Schaffens – Close-Circuit Installationen, Skulpturen, Websites, Performances sowie eine eigene Marke und Sicherheitsfirma zählen u.A. dazu – eine bisher einmalige Transparenz über die Entwicklung ihrer Motive und Strategien schafft. Das oberflächliche Bild von Scher als Technik-vernarrte Künstlerin tritt in Hochsicherheitsgesellschaft zunehmen in den Hintergrund. Anstatt dessen liegt die Betonung auf Julia Schers langandauerndem gesellschaftlichen Engagement und ihrem Kampf für zivile Freiheits- und Grundrechte.
Dieses Grundanliegen aus Zivilcourage, Protest und Aktivismus durchdringt alle ihre Installationen, wo es sich in einer Dystopie aus Elektronik-Modulen und glänzenden, kalten Gerüsten aus Metall, Glas und Spiegeln manifestiert. Während die Präsenz von Überwachungstechnologie in öffentlichen Räumen mittlerweile längst alltäglich ist, verschafft Julia Scher dem verdrängten Gefühl, beobachtet zu werden, durch ihre Simulation des allsehenden Blicks, der nichts verpasst und nichts vergisst, wieder Raum.
Prediktive Engineering Moenchengladbach, eine Art Tunnel aus Stahlgerüsten, Kameras und Bildschirmen, der in der Hohen Galerie des Museums installiert ist, steht beispielhaft für die Zonen der Live-Überwachung, in welche die Künstlerin die Betrachter*innen involviert. Mit etwas Zeitverzögerung erscheinen auf den Bildschirmen, die über den Köpfen der Besucher*innen angebracht sind, Aufnahmen aus der Galerie, in denen man ich selbst wiedererkennt. Während man auf einen großen Spiegel am Ende des Flurs zugeht, in dem sich die eigene Gestalt ebenfalls reflektiert. Zwischen den Bildern aus der Galerie werden Videosequenzen aus anderen, für die Besucher*innen unzugänglichen Räumlichkeiten des Museums gezeigt, in denen die Kameras kuriose Geschehnisse aufzeichnen.
Die Installation Prediktive Enginnering, welche die Künstlerin 1993 erstmals für das San Francisco Museum of Modern Art konzipiert hatte, vereint damit zwei wesentliche Aspekte. Zum einen baut die Installation wie viele weitere auf der Verführung der Betrachter*innen auf, die sich auf ein supervisiertes Szenario einlassen. Zum anderen findet hier mittels Videotechnik eine Kritik an der Institution Museum statt, indem der alles durchleuchtende Fokus der Kamera den Absolutheits- und Deutungsanspruch von Museumseinrichtungen enttarnt. Überwachung wird in Julia Schers Werken so zu eine Art Spiel, das zunächst niemanden schadet, da es im künstlerischen Rahmen stattfindet und man sich in der Sicherheit einer neutralisierenden Ausstellungsumgebung befindet. Als Besucher*in neigt man daher dazu, sich immer wieder zu beschwichtigen, die ständig wiederkehrende Überwachungsinfrastruktur sei harmlos – denn das aufgezeichnete Material betrifft ja niemanden. Aber was wäre, wenn doch?
Solche Überlegungen bestimmen auch die Begegnung mit fünf kleinformatigen, flimmernden und surrenden schwarz-weiß Monitoren, die auf Halterungen an einer hinteren Wand im Erdgeschoss montiert sind und mit vier NTSC-Überwachungskameras, einem VHS Recorder und einem Videodrucker verkabelt sind. Als datensammelnder Prototyp von Sprachassistent–Systemen wie Alexa lieferte The Schürmann Haus (1991–2017) als Organ der (Selbst)Überwachung Bilder aus verschiedenen Räumen des Hauses des gleichnamigen Ehepaars. Die schwer identifizierbaren Aufnahmen, die in der Installation vor Ort zu sehen sind und zeitweise in Papierform ausgespuckt werden, lassen einen jedoch über den eigenen Standpunkt in dieser Überwachungssituation in Ungewissheit.
Wie auch Danger Dirty Data oder Don’t Worry verwickeln Julia Schers Umgebungen der Live-Überwachung das Publikum in Szenarios, in denen dieses für den kurzen Thrill, an der Reproduktion des eigenen Bildes mitzuwirken, jegliche Bedenken über die Verwendung des aufgenommenen Videomaterials aufgibt. Vor Social Media machte schon Danger Dirty Data (1991) die Erfassung der eigenen Anwesenheit und die Aneignung der resultierenden Bilder in einem interaktiven Parcours zum Thema. Don‘t Worry (1994) bestand in seiner Erstversion im Kunstverein Köln aus einem umfassenden Überwachungssystem mit Kameras und Bildschirmen. Weder die verdreckten PCs, welche in Danger Dirty Data auf die Gefahr fehlerhafter Daten und das schmutzige Geschäft mit diesen hinwiesen, noch die Transparenz anbietende Führung von Julia Scher durch ihre Kamerainstallation im Kölner Kunstverein ließen die Besucher*innen jedoch zögern, mitzuwirken.
In ihren Installationen nimmt Julia Scher damit einen Mechanismus vorweg, der unserem Verhalten im Internet, wo wir ständig blind der Verwendung unserer Daten zustimmen, um das ersehnte Produkt bzw. Service oder Status zu erhalten, sehr ähnelt. Nur betrifft die Bedenkenlosigkeit hier nicht, wie in Schers Fall, einen materiell existierenden Apparat, der sich an und ausschalten lässt und dessen Bilder im lokalen System bleiben, sondern die unsichtbaren Logarithmen staatenloser Datenkonzern-Riesen wie Google oder Meta. Aufgrund dieser Parallelen im Prozess der Einwilligung und des lustvollen Gewähren-Lassens wird Julia Schers Werk häufig als visionäre Vorahnung des heute regierenden Überwachungskapitalismus gedeutet, der eng an eine global operierende, organisatorisch stark zentralisierte, alles aufzeichnende Internet-Infrastruktur gebunden ist, die zu der Zeit, wo Scher ihre Supervisions-kritischen Arbeit schuf, noch gar nicht existierte.
Obwohl die verlockende Verwicklung, sich in ein System einzulassen, dem man stillschweigend die Hoheit über die eigenen Bilder gewährt, vom Ablauf her der häufig als Kollateralschaden verharmlosten Autoritätsabgabe über die eigenen Daten im Internet sehr ähnelt, könnte der Gegensatz zwischen mittlerweile veralteter Videotechnik einerseits und der immateriellen Beschaffenheit des digitalen Raums andererseits, nicht größer sein. In der Zusammenbringung mit Begriffen gegenwärtiger konsumkritischer Debatten wie „Überwachungskapitalismus“ wirken Julia Schers Live-Situationen der Überwachung daher eher statisch. Sie mögen in ihrer Aussage aktuelle Freiheitseinschränkungen vorhersehen, doch sie schließen in keinem Punkt ästhetisch an die heutige Realität der Observation an, in der sich Bürger*innen und Konsument*innen wiederfinden.
Dennoch ist Julia Schers Freiheitsbegriff ein umfassender und ihre Forderung nach individueller Autonomie als Grundlage demokratischer Gesellschaften jenseits der von ihr eingesetzten Technologie gültig. Wenn Scher es gelingt, durch den Umweg der Errichtung begehbarer Überwachungszonen uns daran zu erinnern, dass wir letzen Endes die Autorität über die Bilder besitzen, die wir preisgeben, warum setzen wir diese Macht nicht gegenüber Unternehmen wie Google, Amazon oder Meta ein, die massenhaft Daten abziehen? Die Situation, welche die Künstlerin in JULIA SCHER – Hochsicherheitsgesellschaft simuliert, ist daher in etwa die gleiche, wie wenn Kund*innen an der Supermarktkasse irritiert auf ihr Erscheinen in der Videoaufzeichnung reagieren, während gedankenlos die Payback-Karte gezückt wird. Die Aktualität von Julia Schers Werken, wie sie im Moment im Museum Abteiberg Mönchengladbach zu sehen sind, liegt somit darin, dass sie uns zum Nachdenken bringen. Warum stören die Kameras und Bildschirme eigentlich, wenn wir uns zu jeder Tageszeit, Stunde, Minute und Sekunde über einfache Devises wie das Smartphone überwachen lassen?
JULIA SCHERHochsicherheitsgesellschaft26. März – 20. August 2023