Nach globaleren Themen wie Postmoderne und Digital Age rückt wieder die eigene Herkunft in den Mittelpunkt des Schaffens junger Künstler*innen. Liegt dieser Turn zurück zum Ich vielleicht am Aufstieg der vielen nationalpopulistischen Strömungen, die versuchen festgefahrene, stark diskriminierende Identitätsmuster kollektiv aufzudrängen? Die eigene Identität als ein Zeichen dagegen? Auf jeden Fall ist für viele in mehreren Kulturen groß gewordener Künstler*innen das Thema ,,Herkunft“ mehr als nur ein Blick in den Pass. ,,Wo kommst Du her“, diese Auseinandersetzung erscheint wie ein ständiges Schweben in einem unscharfem Raum ohne stabile Anhaltspunkte, in den man immer wieder gestoßen wird. Die deutsch-kurdische Künstlerin Melike Kara hat ihre Kunst zur Plattform für diese beständig wiederkehrenden Verhandlungen um die kulturelle Verortung des eigenen Ichs bestimmt. In sicherer Distanz von und trotzdem tiefer Verbindung zur eigenen Persönlichkeit, überlässt Melike in ihren ästhetisch klar und ausdrucksstarken, scheinbar von geheimnisvollen Mythen und Riten durchzogenen Werken die Auslotung des Verhältnisses von ,,Abstammung“ und ,,Identität“ dem Betrachter.
In ,,Speaking in Tongues“, zur Zeit zu sehen in der Galerie Jan Kaps in Köln, begegnet man aufgeteilt auf die beiden an einer Straßenecke gegenüberliegenden Räumlichkeiten der Galerie im Kölner Stadtteil Neustadt/Süd einer Reihe von großformatigen Gemälden, Installationen und einer Videoarbeit. Alle Werke hängen irgendwo mit dem schwindenden kurdisch-alevitischen Erbe ihrer Familie zusammen. Materialien, Farben und Formen befinden sich in diesem Kreis, der in Bezug auf die darüber artikulierte Erzählung jedoch offen bleibt. Die Malereien mit denen sie großzügig bevölkernden seltsamen Gestalten, vertieft in Handlungen die den Riten eines Geheimbunds gleichen, gemalt in sparsamer Linie und einem prägnantem, zwischen Ockergelb und Tieftürkis rangierendem Farbvokabular, bestimmen die Ausstellung. Was meine Sinne aber zunächst fängt, ist eher unscheinbar, es sind in einer Ecke liegende braune, holzig-organisch aussehende Kugeln. Beziehungsweise sind es nicht die Kugeln selber, sondern der süßlich herbe Geruch nach Orangen und Nelken, der in dem Raum hängt und diesen Bällen entströmt, welche in der kurdischen Kultur Willkommensgeschenke sind. Für mich markiert dieses in der gesamten Ausstellung eher subtile Kunstwerk die Anregung, mich auf das Fremde, das Schweben dazwischen, in Melikes Werk einzulassen.
Mit dem Blick auf dieses ,,Fremde“ in den Werken gerichtet, sind es zunächst die die Ausstellung bestimmenden Gemälde, die Rätsel aufgeben. Nicht nur ist ihr ganzes Wesen seltsam. Die Ästhetik erscheint bisweilen orientalisch, osmanisch, die Gesichter mit den großen Augen, den runden Mündern, den zusammengewachsenen Augenbraunen und dem kindlichen Ausdruck erinnern an Figuren der islamischen Malerei. Der kraftvolle Auftritt der Gestalten als Gruppe mit den ineinandergreifenden, entschlossenen Gesten und der auffordernden Mimik erinnert gestalterisch an die epische sozialistische Malerei, wo es immer so einen Drang nach vorne gibt. So stark die Ähnlichkeiten auch sind, die Spur zum kulturellen Erbe irgendwo zwischen Türkei und Kurdistan verliert sich hier. Was wir sehen, ist etwas figürlich Konkretes, aber inhaltlich Unbestimmbares. Geschlechtslos und anonym, aber identitätsstark sollen diese Kleinkollektive laut Melike sein.
In ,,Rely on the Words“ bilden fünf in grünlichen Linien wie skizzenhaft ausgeführte Figuren eine eingeschworene Gruppe. Im Zentrum steht mit entschlossenem Blick, aber doch recht unbeteiligt von der Szene um sie herum, eine Person in Rollkragenpullover und Hose. Von links lehnt quer vom Bildrahmen aus eine andere mit sehnsüchtigem Blick ihren Kopf auf die Schulter der zentralen Figur. Vom rechten Bildrand her treten gestaffelt übereinander noch drei Figuren in die Szene, die mittlere setzt wie bei einem ,,schhh…“ den Finger mahnend vor den Mund, der andere Finger ist prophetisch erhoben. Dabei wird ihr von einer oberen Gestalt mit leicht böslichem Gesichtsausdruck ins Gesicht gegriffen, während eine Figur von unteren Bildrand den Blick hoch auf das gesamte Geschehen wie Halt suchend die eine Hand der ,,prophetischen“ Figur ergriffen hat.
In dem gegenüber gehängtem Werk ,,The Long Breath (of History)“ haben zwei geisterhafte Gestalten in türkisen Gewändern ein Affenähnliches Wesen in ihrer Mitte, das wie im Fall inbegriffen seinen einen Arm nach oben streckt und dessen Kopf von der rechten Figur gehalten wird. Die grünlichen Figuren mit den schiefen ovalen Augen und den kleinen Mündern erinnern an Aliens, die oft als nicht gänzlich böse aber auch nicht gute Wesen erscheinen. Ob der braun-bepelzten Figur in der Mitte nun Gewalt angetan wird oder nicht bleibt offen, das weiße Gesicht mit den durchgezogenen Augenbrauen, den Knopfloch-Augen und gespitzten Mund lässt keinerlei Schlüsse zu. Die eben angedeuteten Merkmale dieser Bilder – die schwere Lesbarkeit der Mimik der leicht ulkigen Gesichter, der Eindruck einer starken, verschworen erscheinenden Dynamik innerhalb der Gruppen, angefacht durch akzentuierte Gesten, welche eine Art Schwarmidentität entstehen lassen, die den Einzelnen trotzdem anonym lässt – entwickeln sich in einer noch stringenteren Farb- und Formästhetik in den Werken im größeren Galerieraum weiter.
,,Der Nachgeschmack“ etwa ist das imposanteste der ausgestellten Gemälde. In gewohnter Klarlienigkeit und cleaneren Farbnuancen von Orangegelb, Ocker, über hellem Blau bis Dunkelmarin spielt sich eine Szene beinahe biblischen Ausmaßes ab. Im Zentrum der Ansammlung biegt sich der Oberkörper einer Figur nach unten, begleitet von ihrem ausgestrecktem Arm dessen Zeigefinger bedeutungssuggestiv hinab zeigt. Gehalten wird dieser Körper von einer geheimnisvollen Gestalt mit Kapuze, die wie eingefroren ihren Blick auf den sich windenden Körper gerichtet hat. Drum herum zeugen die Mienen und Gesten der zu einer Masse verschmolzenen anderen Figuren in der Szene von Unbeteiligung, Erstaunen oder Furcht. Die Hände mal vor den Mund geschlagen oder kokettierenden am Kinn platziert, die Augen vom Geschehen weggerichtet, scheint eine Art Mittäterschaft verborgen zu werden. Die Mimik des schwarzen Antlitzes der sich biegenden Figur lässt wieder kein Urteil darüber zu, ob es hier um Qual oder Ritual geht. Nur der Blick einer die Kapuzenfigur an der Schulter haltenden Gestalt trifft den Betrachter, so als ob sie auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen möchte.
Immer ist es diese Atmosphäre eines Geheimbundes, die diese Gemälde ausstrahlen, es ist eine Begegnung mit von nach Außen abgeschirmten Gruppen, die sich sichtbar und unsichtbar zugleich untereinander über sich abstimmen. Mal sind sie begleitet vom Geist einer Ziege (,,Munzur (Like She Shapes Us)“), mal sind ihre Körperformen derart flächig ausgearbeitet, dass die Gruppe zu einem geometrischen Ensemble verschwimmt und anatomisch maximal an Roboter erinnert (,,Waste your Breath“). Für Melike formulieren diese Wesen, deren Kommunikation wir so gerne als menschlich verstehen wollen, eine Identität für sich, die sich nicht nach einer nach außen gerichteten Oberfläche orientiert. So seltsam sie erscheinen mögen mit ihren ovalen Gesichtern und karikierter Mimik, erscheinen sie doch wie ein Appell an die Würdigung von Autonomie und Verbundenheit.
Sprechen, ohne das Gemeinte dabei schutzlos offen zu legen, dieses Muster entdecke ich auch in Melikes Installation aus in zwei Wände gebohrten 288 Keramikbechern mit Kaffeeresten (,,fal (a) bakmak“). Durch die Optik der vom Kaffee geschwärzten Böden der Becher muss ich zunächst an Schusslöcher denken. Die strenge quadratische Struktur der Anbringung lässt einen zuerst dunkle Vertiefungen sehen, bevor man die körnigen Reste in den Mulden der Becher entdeckt, die eindeutig Kaffee sein müssen und in jedem der kleinen Gefäße anders verlaufen, so als wären sie durch tatsächlichen Gebrauch entstanden. Die Becher enthalten jedoch mehr als nur Reste: das in ihnen angesammelte Pulver verweist in Melikes Installation auf die Wahrsagetradition des Kaffeesatzlesens, die in der Heimat ihrer Familie verbreitet ist. Die Becher sind folglich als Relikte einer Performance der Künstlerin anzusehen, die sie in Anlehnung an dieses Ritual geschaffen hat. Jeder dieser Becher enthält damit eine Botschaft, die für uns jedoch unverständlich. Was ist nun Melikes Verhältnis zu dieser Praxis? Hat sie in der Herstellung etwas nachperformt, das ihr selbst nah ist? Wo befindet sich die Schnittstelle zu ihrer Identität? Aber vielleicht sind nur wir diejenigen, die voraussetzten, dass die eigene Identität lesbar sein muss.
In ,,Speaking in tongues“ lässt Melike ein weiteres Annähern an in ihre persönliche Erfahrung zu. Es handelt sich um die Begegnung mit ihrer noch in der kurdischen Heimat großgewordenen Großmutter in ihrem acht minütigem Film ,,Emine“. Eine Kamera verfolgt die alte Frau in der lila Strickjacke und mit einer turbanförmigen Kopfbedeckung bei verschiedenen alltäglichen Tätigkeiten durch eine deutsche Wohnung. Das Gehabe der Frau mit dem vom Leben geprägten und vom Wetter gegerbten Gesicht ist ein wenig seltsam, sie scheint ständig etwas in ihrer Muttersprache zu murmeln, das an Rezitationen erinnert. Manchmal wirkt sie verwirrt und senil, wenn sie sich wiegend auf dem Bett sitzend vor sich her singt oder mit den Personen einer laufenden Fernsehshow spricht. Die alte Frau, von der wir wissen, dass sie in ihrer kurdischen Heimat als Heilerin tätig war, wirkt fremd in der modernen, komfortabel ausgestatteten Wohnung mit den weißlackierten Möbeln. Obwohl es an nichts fehlt, scheint etwas nicht da und unwiederbringlich verloren zu sein. Es ist ein im cleanen Alltag einer deutschen Umgebung sich abspielender nur unterschwellig auszumachender Bruch im Wesen dieser Familienangehörigen, dem Melike hier nachspürt, und der sie und ihre eigene Selbstfindung für immer prägen wird. Eine Nachbildung des Geburtshauses der Großmutter in Form eines braunen Blockes aus Keramik, der im Videoraum platziert ist, erscheint wie ein verkleinertes Monument für die Unmöglichkeit der Verbindung der beiden Welten.
Die Werke in ,,Speaking in tongues“ erzählen von der Auseinandersetzung der Künstlerin mit einer Form von kulturellem Ausdruck, der sich für sie nah anfühlt aber der keinerlei Existenz mehr in der Gegenwart hat. Man scheint teilzuhaben an dem Aufgehen Melikes in einer Muttersprache, die nicht mehr gesprochen wird, was auch immer für eine Art von Selbstanteilen die Künstlerin hier für sich findet. ,,Speaking in Tongues“, das ,,Zungenreden“ ist ein biblischer Begriff mit zweierlei Bedeutung: einmal bezeichnet er unverständliches Reden im Gebet von Gläubigern, die göttliche Vision erfahren, im zweiten Sinn die Fähigkeit, ohne Kenntnis derselben in fremden Sprachen zu sprechen. ,,Speaking in tongues“ ist Ausdruck einer tief gehenden Verbundenheitserfahrung Melikes mit ihren kulturellen Wurzeln, die wie eine Offenbahrung von ihr als tiefst wahr empfunden wird, aber sprachlich eben nur in ihrer persönlichen, unübertragbaren Vision verständlich ist. Was am Ende zählt, so sehe ich es als Melikes Botschaft, ist, auch wenn es von der kulturellen Abstammung her nicht mehr nachvollziehbar ist, die Artikulation eines als für sich selbst authentisch empfundenen Ichs.