Die Phänomene der Natur sind heute größtenteils wissenschaftlich erfasst. Und dennoch entzieht sich das innere Verhältnis, das wir gegenüber der lebendigen Umwelt empfinden, häufig der objektiven Beschreibung. Die Bedeutung, welche die Natur für jede*n Einzelne*n einnimmt, lässt sich nicht in fixe Kategorien einordnen. Aus eben diesem Grund ist die Entdeckungsreise, die der Surrealist Max Ernst anhand des künstlerischen Entwurfs einer alternativen Naturgeschichte darlegt, so verlockend. In der Ausstellung Max Ernst und die Natur als Erfindung, die zur Zeit im Kunstmuseum Bonn präsentiert wird, erhält man Einblick in seine Naturdarstellungen. Ein unerschöpfliches Werk aus Zeichnungen, Radierungen, Frottagen und Malereien, das er im Verlauf mehrerer Jahrzehnte anfertigte. Aus dem unergründlichem Formenschatz der Natur schuf Max Ernst einen parallelen Kosmos, der sich begrifflich an die Schöpfungskapitel der Genesis anlehnt. Indem sich Max Ernst von der Idee entfernte, Naturelemente lediglich abzubilden, erschuf er neue Wesen, die von der existenten Ordnung abgekoppelt sind.
Die Ausstellung zeichnet die Schöpfungsgeschichte von Max Ernst nach, indem sie sich an den Kapiteln der Histoire Naturelle orientiert, einem Album aus 34 Lichtdrucken nach Frottagen (Abreibungen der Oberfläche von Gegenständen auf Papier), das 1926 von der Pariser Galerie Jeanne Bucher herausgegeben wurde als Initialzündung von Max Ernst Auseinandersetzung mit der Natur betrachtet werden kann. Innerhalb der Ausstellungskapitel findet eine Gegenüberstellung mit Werken moderner und zeitgenössischer Künstler*innen statt, in denen sich immer wieder erstaunliche Parallelen zu Max Ernst künstlerischem Ansatz und seinem Naturbegriff finden. In sukzessiven Etappen haucht der Künstler zuerst den Elementen, dann den Pflanzen, den Bäumen und den Tieren und schließlich dem Menschen Leben ein. Dabei verfolgt er jedoch seinen eigenen Plan, der unmittelbar mit seiner persönlichen Auffassung von der Künstlerrolle in Verbindung steht und die wiederum stark vom Programm des Surrealismus geprägt ist. Max Ernst sieht den Künstler als Vermittler, der seine Bildwelt aus dem Unterbewusstsein schöpft. Die Autorenfunktion, der ein selektiver ästhetischer Entscheidungsprozess zu Grunde liegt, lehnt er hingegen ab. Diese Maxime, nach der sich Kunst nicht kontrollieren lässt, ist spürbar im überbordenden Naturreich von Max Ernst, in dem viele Wesen zufällig entstehen und nie eine eindeutige Gestalt annehmen. Sein Kosmos ist frei von menschlichen Projektionen, als Ausdruck reiner, nicht kanalisierter Schaffenskraft erscheint Natur hier als eine Urmacht, ungebändigt und unromantisch.
Das erste Ausstellungskapitel Anfang der Welt „Das Meer und der Regen“ erzeugt mit hoch-stilisierten Konstellationen der Elemente in Form horizontaler Flächen und Kreise, die man in Frottagen und farbintensiven Malereien bewundern kann, das Fundament von Max Ernsts radikaler Neuformulierung der Naturgeschichte. Das Spiel mit Form- und Farbkontrasten bringt eine fast mythische Schlichtheit und schöpferische Stille hervor. Trotzt des abstrakten Charakter vermitteln diese Bilder den Eindruck jenes elementaren Friedens, der nach biblischer Auffassung am Beginn der göttlichen Schöpfung stand. Die Betrachtung der gestalterischen Mittel, die Max Ernst einsetzt – etwa die Übertragung von Oberflächenstrukturen auf die Leinwand, was dem Verfahren der Frottage in den Papierarbeiten sehr ähnelt – macht daneben noch etwas anderes deutlich. Denn obwohl die Natur-Schöpfungen des Künstlers aufgrund fehlender Referenzen in der Realität oft diffus wirken, herrscht in seinen Werken kein Chaos. Vielmehr baut Max Ernst seine Naturgeschichte sorgsam aus einem relativ fixen Repertoire aus Formen und Kompositionsgesetzen auf, die stetig wiederkehren und auf die er sich immer wieder beruft.
Auf diese Weise entsteht auch in den folgenden Abschnitten Die Flora „Die Sitten der Blätter“ und Die Wälder „Die Linde ist gelehrig“, die jedes Mal mit einer Auswahl aus Frottagen der Histoire Naturelle eröffnet werden, große stilistische Übereinstimmungen zwischen den Bildern. Auch wenn die Werke manchmal Jahrzehnte auseinanderliegen, berufen sie sich auf die gleichen künstlerischen Prinzipien. Indem der Künstler Blätter oder Baumrinde als Material benutzt, entsprechen die auf Frottagen basierenden Pflanzen noch am ehesten natürlichen Vorbildern. Gleichzeitig entpuppen sich viele pflanzenähnlichen Strukturen und Konstellationen nachträglich als Illusion. Die Gewächse erreichen durch die Übernahme organischer Muster eine unglaubliche Plastizität, was ihnen trotzt ihres fiktiven Charakters eine eigene Daseinsberechtigung verschafft. Die innere Perfektion dieses Systems kommt erneut in den Blumenbildern zum Ausdruck, die mehrheitlich Ende der Zwanzigerjahre entstanden sind und in denen Max Ernst ein wahres Feuerwerk aus Blüten kreierte, die er mit einem Spachtel kreisrund und transparent auf die Leinwand bannte.
Im Werk von Max Ernst zeigt sich somit eine gestalterische Prinzipientreue, die seinem Anspruch, als Künstler mit objektivem Schöpfungsdrang gänzlich hinter seine Arbeiten zurückzutreten, entgegensteht. Und dennoch wird deutlich, dass es sich bei den zeichnerischen und malerischen Werken nicht um seine Interpretation der Natur handelt, die er hier offenbart. Das wiederkehrende Set von Gestaltungsmitteln ist für Max Ernst lediglich ein Instrument, um aus jener unendlichen Quelle an Möglichkeiten zu schöpfen und Dinge und Wesen uneingeschränkt zu Papier zu bringen, die aus einer verborgenen Intuition entstehen. In den Bildern der Wälder und Bäume wird dabei deutlich, dass seine Werke nie völlig abstrakt sind. Max Ernst spielt mit dem Bedürfnis, existierende Naturelemente in den Bildern erkennen zu wollen, indem er Scheinwesen erschafft, die konkrete Strukturen und Lebewesen der realen Umwelt mimen. Da gibt es beispielsweise den Jardin peuplé de chimères (1936), ein Urwald aus leuchtenden, sattgrünen Farben, eine fantastische Mischung aus verschiedenen Blatt- und Grasformen, in dessen Dickicht sich insektenähnliche Fabelwesen tummeln.
Eine ganz andere Wirkung erzeugt die Malerei La fôret est fermée (1927), in der sich ein „Wald“ aus dunklen, gerillten Säulen, der einem undurchdringlichen Hochhaus-Jungle gleicht, vor einem Himmel im deprimierenden Grau vor einem aufbaut. Zwei weiße Vögel erscheinen wie gefangen in diesem finsteren Block, der im starken Kontrast zu idealisierten Ideen des Waldes steht, wie sie heute noch durch die Dichter und Maler der Romantik bekannt ist. Es sind gerade diese überlieferten Zuschreibungen, die Max Ernst am wenigsten interessieren und mit denen er im Rahmen seiner Naturgeschichte bricht. Für ihn ist die Natur, wie Menschen sie wahrnehmen, voller Ambivalenzen, die nicht nur Frieden und Ordnung fördern, sondern auch Ängste und Traumata schüren. In seinen rätselhaften Werken bringt Max Ernst somit das Gefühl zum Ausdruck, sich der Dinge nicht ganz gewahr zu sein, das für die Beziehung zwischen Mensch und Natur so kennzeichnend ist.
Der Titel für das nächste Kapitel der Fauna „Der Stall der Sphinx“ kündigt bereits an, dass hier nicht die zoogleiche Auswahl sympathischer Tierarten zu finden ist, mit der man sich gerne identifiziert. Max Ernsts Tierwesen scheinen vielmehr einem Albtraum zu entspringen, sie sind unheimlich und bringen eine autonome Präsenz an den Tag, die irritiert. Vögel, denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist (Die Vögel „Gepaarte Diamanten“) spielen in dieser Tierwelt eine besondere Rolle. Der Künstler setzt sie oft als Alter Ego ein, um auf verdeckte Weise in das Bildgeschehen eingreifen zu können. Vogelwesen werden dadurch zu eigenständigen Akteuren, die verborgene Begehren und Ängste personifizieren, majestätische Erscheinungen, die Respekt auslösen, auch wenn sie bisweilen skurril erscheinen. Das Rätsel vom Huhn und Ei greift Max Ernst in der Radierung A l’intérieur de la vue: L’oeuf (1972) auf, in der eingepasst in eine ovale Form mit wenigen Strichen gezeichnet eine Vogelmutter mit ihren Kindern erscheint, die seltsam menschlich porträtiert wirken.
So wie Tierwesen manchmal menschliche Züge tragen, tritt auch der Mensch bei Max Ernst nicht wirklich als solcher auf, sondern mehr als mondgesichtige, abstrahierte Erscheinung, als lächelnde Maske, für welche die Menschendarstellungen des Künstlers berühmt sind. Wie die Überschrift „Eva. unsere letzte Hoffnung“ andeutet, will Max Ernst in seiner Histoire Naturelle gar nicht beim heutigen Menschen ankommen, sondern fordert mehr einen radikalen Neuanfang. Weswegen Eva, eine biblische Figur ganz vom Anfang, die in einer Frottage mit kurzem welligen Haar mit dem Gesicht von den Betrachter*innen dargestellt ist, nun zum Lichtblick wird. Die Lücke, die im Parcours aufgrund einer fehlenden Konkretisierung vom Max Ernsts Menschenbild entsteht, wird in den nächsten Kapiteln Kleiner Kosmos „Blitze unter vierzehn Jahren“ und Großer Kosmos „Sonnengeld-System“ wieder geschlossen. Hier spannt die Ausstellung einen beeindruckenden Bogen zwischen Darstellungen des Mikrokosmos einerseits und Planetenbildern andererseits. Das vielfach naturwissenschaftlich beobachtete Phänomen, wie sich kleinste Zellstrukturen in großen Mustern der Umwelt und bis zum Sternenhimmel wiederholen, erforscht Max Ernst hier in unglaublich sensiblen Malereien und Lithografien.
Die Mischung aus Rätsel und Klarheit, die alle Werke seiner Naturgeschichte prägt, kommt in den Bildern des Kosmos erneut zur Geltung. Die gestalterischen Elemente orientieren sich zum Teil stark an den Malereien von Himmel und Meer vom Beginn der Histoire Naturelle. So vollzieht sich in den letzten Kapiteln der Ausstellung gleichsam eine Rückkehr zum Anfang. Gleichzeitig schafft sich Max Ernst in seinen Abhandlungen über die Himmelssphäre Raum, spekulative Welten zu erschaffen, in denen auf einmal mythische Wesen dominieren, die ein wenig an frühmenschliche Höhlenmalereien erinnern. 1964 brachte Max Ernst unter dem Titel 65 Maximiliana ou l‘exercice illégal de l’astronomie ein Set von 34 Radierungen heraus, in denen er, eingebettet in eine Geheimschrift, durch eigene grafische Entwürfe kosmische Erscheinungen kommentierte, die auf den Entdeckungen des Astronomen Wilhelm Tempel (1821–1889)basierten.
Max Ernst und die Natur als Erfindung zeigt als Ausstellung, dass imaginäre Naturkonzepte nicht etwa von der wissenschaftlichen Faktenlage ablenken, sondern paradoxerweise neuartige Perspektiven zurück auf die Realität eröffnen. Künstlerische Fantasie tritt hier als Kraft auf, Naturphänomene neu zu erkunden und im Experimentieren mit Formen Dinge von alternativen Standpunkten aus zu denken. Damit stößt Max Ernst wie viele seiner Zeitgenoss*innen und Nachfolger*innen, die sich mit Natur aus freien, jedoch nie ganz freimütigen Blickwinkeln auseinandersetzen, in einen undurchsichtigen Bereich vor, wo intuitive Vision und sachliche Erkenntnis ineinander übergehen. Und wenn sich, wie die Ausstellung eindrucksvoll zeigt, viele Elemente der lebendigen Umwelt anders darstellen lassen mögen, als sie nach physischen Prinzipen sind, wird doch eins deutlich. Natur gänzlich zu erfinden ist unmöglich, da alles was wir sind – und daher in der Lage sind zu erschaffen sind – „Natur“ ist.