In den letzten Jahren hat Marc Augets Theorie der Nicht-Orte in der zeitgenössischen Kunst Wellen geschlagen. Urbane Leerstelle wie Einkaufszentren oder Parkplätze, die dennoch existieren, gewinnen an Interesse. Aber kann es auch Nicht-Objekte geben? Diese Frage habe ich mir immer wieder in der Begegnung mit Denise Werths Skulpturen gestellt. Obwohl in ihren Werken zahlreiche Referenzen zu bestehenden Dingen miteinander verschmelzen, lassen sie sich, weder eindeutig abstrakt noch gegenständlich, keiner Kategorie zuordnen. Trotzt dieser Widersprüche existieren sie wie Augets Nicht-Orte aber. Doch während Augets Theorie die kommunikative Armut menschengemachter Umgebungen hervorhebt, tendieren Denise Werths Skulpturen als „Nicht-Objekte“ genau ins Gegenteil. Denn gerade in ihrer Bezugslosigkeit bringen sie eine Fülle von bereichernden Assoziationen und Geschichten mit.
Von irgendwo her entlehnte Formen – organisch, plastisch, architektonisch, künstlich – erzeugen ein Gefühl der Familiarität. Bevor sie auf einer undefinierbaren Schwelle stehen bleiben, von der aus sie sich nie konkretisieren, aber – und hier liegt der besondere Clou – auch nie ins Abstrakte kippen. Wie Denise Werth dieser schmale Grad gelingt, ist ein Geheimnis, das auch die Werke in ihrer neusten Ausstellung Where are you tonight? im Kunstverein Recklinghausen umgibt. Der als Frage formulierte Ausstellungstitel, entlehnt aus Songtexten von Bob Dylan und Tom Johnston (bekannt aus Dirty Dancing), eröffnet einen Raum, der ebenso klar umgrenzt wie spekulativ erscheint und als ein Impuls zur Beschäftigung mit Denise Werths Arbeiten gelesen werden kann.
Die 14 Werke der Ausstellung – Skulpturen, Installationen und Vorstudien – fallen zunächst durch die stringente Farbauswahl auf. Alles ist konsequent in Blau- und Rottönen sowie in Schwarz gehalten, eine stilistische Entscheidung, die Denise Werths Werke genauso wie deren Perfektion und Gesetztheit in die Nähe der industriellen Fertigung und des High-End Designs rücken. Doch Unabhängig von der Perspektive, aus der man sich ihnen annähert, erfüllen ihre Arbeiten diese Versprechen nie. Solche Eindrücke sind auch mit Helmet (2023) verbunden, die mit 2,40 m Höhe die imposanteste Arbeit der Ausstellung darstellt und die Besucher*innen direkt im Eingangsbereich konfrontiert. Die im Sockel abgerundete, königsblau gestrichene Skulptur aus Styropor scheint aus zwei Modulen zu bestehen: Servierglocken gleichende, ausbuchtende Formen im unteren Bereich und eine schmale Platte im oberen Teil, die ein wenig wie die Silhouette eines Vogels geschnitten ist und am obersten Punkt mit einer weißen Öse versehen ist, an der eine dicke rote Quaste hängt.
Obgleich die Künstlerin in Helmet in strenger Präzision die Konturen bestimmter Dinge verfolgt, ergibt dies Alles keinen Sinn. Dass diese Skulptur wie alle anderen dennoch wie selbstverständlich ihren Platz einnimmt, als „Objektbehauptung“, wie Denise Werth es formuliert, macht ihren besonderen Reiz aus. So sind auch Underboob I + II, welche an die Form von Stuckelementen an klassizistischen Fassaden angelehnt sind und hier als Ablage dienende Wandfriese fungieren, keine reine Nachempfindungen eines architektonischen Vorbildes. Denn die Oberfläche ist leicht geknickt, während zwei halbrunde Formen an der Unterseite der Struktur hervorgucken, die an den Instagram-Trend erinnern, neckisch einen Teil der unteren Partie der weiblichen Brust aus dem Oberteil herausschauen zu lassen (engl. „Underboob“). Doch auch vor dem Hintergrund solcher Anspielungen sind die Stuckfriese weder eine Hommage an noch eine reine Abbildung des modischen Hypes. Sie hinterlassen in erster Linie eine Unsicherheit in dem, was man sieht und verstärken den seltsamen Drang, die perfekten Nicht-Objekte berühren und besitzen zu wollen.
Die Frage, warum die Arbeiten so ein so großes materielles Begehren auslösen, lässt einen nicht los. Ihre Attraktion stammt zum Teil sicherlich von der Existenz ungewöhnlicher Formen und glatter, symmetrischer Oberflächen, auf deren Wertschätzung wir als Konsument*innen gepolt sind. Den Aspekt des Konsums lässt die Künstlerin dadurch einfließen, dass sie die Objekte zum Teil mit Ösen und Quasten versieht, die suggerieren, dass man sie wie Schlüsselanhänger mitnehmen könnte, nur dass sie dafür viel zu groß sind. Dies ist auch der Fall bei Guilty Pleasure (2023), eine orange-rote Box mit abgerundeten Ecken und schräg verlaufenden Kanten, in denen in ausgeschnittenen Fenstern, welche jeweils die Form eines Halbkreises und dreieckiger Strukturen annehmen, grafische Videos flimmern. Der Werkstitel Guilty Pleasure fängt den haptisch-visuellen Reiz der Skulptur ein, die mit ihren animierten Fenstern wie ein verführerisches Gadget wirkt. Die Titelwahl erscheint somit wie ein verdecktes Eingeständnis gegenüber der Wahrnehmung, dass sich die Arbeiten auf Objekte der Konsumwelt beziehen.
Dass irgendwo im Entfernten der Bereich des Häuslichen eine Rolle spielt, ist ein Eindruck, dem Denise Werth zustimmt. So wie sie eigentlich alle Assoziationen, die ihre Werke auslösen, zulässt. Gegeben der Komplexität, die dem Prozess der Formfindung vorhergeht, ist dies eigentlich überraschend, da man meint, dass die Künstlerin mit der Gestalt ihrer akkurat komponierten, so durchdacht wirkenden Werke irgendeine Art der konkreten Erkenntnis anstoßen möchte. Eine klare Referenz zu einer bestehenden Abbildung findet man in den beiden identischen Arbeiten Gigantic Days 1+2 (2023), Schablonen aus gefrästem MDF, welche in Blau die Konturen einer undefinierbaren Person nachempfinden und als durchsichtige Raumteiler an ebenfalls blauen Tauen von der Decke im 1. Obergeschoss hängen. Mit gesenktem Kopf, gehobenem Knie und angewinkeltem Arm befindet sich die Figuren in einer Art Ausweichbewegung, als würde sie etwas Unsichtbares jagen oder quälen.
Gigantic Days ist von René Magrittes Malerei Les jours gigantesques (1928) inspiriert, die eine nackte Frau zeigt, deren Silhouette sich mit einer männlichen, sie mit den Händen umschlingenden Gestalt überschneidet, die sie verzweifelt von sich abzustoßen versucht. Die Verschmelzung der beiden Personen, die das Rätselhafte an Magrittes Bild ausmacht, ist ohne Vorwissen nur noch entfernt in Denise Werths Übersetzung dieses Motivs erkennbar. Was Gigantic Days dennoch wie sein Vorbild anhand der Ausschnitte innerhalb der Skulpturen transportiert, ist die Atmosphäre von Gewalt und Verzweiflung, deren Quelle sich anders als in Magrittes Malerei hier nicht offenbart. Wie so oft führen die Linien und Konturen, welche die Künstlerin sorgfältig für uns auslegt, ad absurdum.
„Was mich interessiert, ist die Genese der Formen“, sagt Denise Werth über ihre Werke. Was sie beschäftigt, ist nicht der Gedanke an ein fertiges Objekt, sondern der Prozess, wie bestimmte Formen sich kulturell durchsetzen und sich in unser kollektives Gedächtnis einprägen. Jedes ihrer Werke kann durch seine individuelle Ambiguität damit als Anstoß genommen werden, in diesen Prozess erneut einzusteigen und die eigenen Wahrnehmungskategorien zu hinterfragen. Dafür muss man dem Gehirn jedoch etwas Anderes anbieten, als es bereits kennt, das gleichzeitig wiederum auch nicht so abstrakt ist, als dass es aus dem kognitiven Prozess des Wiedererkennens herausfällt.
Die Evolution von Formen erkundet die Künstlerin am Beispiel sogenannter „composition notebooks“, die dank Jean-Michel Basquiat besonders in den USA bekannt sind und durch ihren schwarz-weiß marmorierten Einband bestechen. Denise Werth transferiert dieses prägnante Muster in gigantische Dimensionen, indem sie im Erdgeschoss eine ganze Wand mit den rundlichen schwarzen Partikeln bemalt hat (Composition Wall, 2023). Im Obergeschoss präsentiert sie eine auf dem Boden ausgelegte Plane mit dem selben Muster (Composition Carpet, 2023), das in den unterschiedlichen Skalierungen dem Auge entweder Formen vorgaukelt, oder ein fast unerträgliches Flirren produziert, wie auf dem Bildschirm eines Röhrenfernsehers mit Empfangsstörung. Während das mittlerweile als Emoji verewigte, emblematisch für Notizbücher stehende Alltagsobjekt kaum noch Geheimnisse zu bergen scheint, thematisiert Denise Werth durch den Transfer des Musters dessen mysteriöse Geschichte, die bis auf jahrhundertealte Techniken der Marmorierung aus China und Japan zurückreicht. Im 19. Jahrhundert von europäischen Buchbindern entdeckt, gelangte das Verfahren schließlich nach Amerika, wo es in vereinfachter Form bis heute im schwarz-weißen Rauschen der composition notebooks weiterlebt.
Anhand von Objekten, welche konsequent behaupten, Gegenstände zu sein, hat Denise Werth somit eine weitgehend neue Kategorie in die zeitgenössischen Kunst eingebracht. Und nicht allein das, denn auch in die Alltagswelt der Betrachter*innen passen die Strukturen nie ganz – so als würde man an jenem früh-kindlichen Spiel scheitern, bei dem man bestimmte Formen in die dafür vorhergesehenen Aussparungen setzen muss. Indem ihre Körper alle über eine innere Achse verfügen, anhand der sie sich spiegeln lassen, folgen ihre Werke einer symmetrischen Logik. Dennoch ist es nicht möglich, sie ausschließlich anhand geometrischer Kategorien zu beschreiben, da ab einem gewissen Punkt immer das vage, unbestimmte Ding aus ihnen hervortritt. Was Denise Werth zuletzt vor allem illustriert, ist die recht pauschale Funktionsweise unserer Wahrnehmung, die häufig nur im Abgleich die Welt erfasst. Als dingliche Halluzinationen bieten Denise Werths Skulpturen und Installationen somit eine willkommene Bewusstseinserweiterung. Wie bei Magritte oder Dali, nur mehr an die Realität unserer hypervisuellen und konsumgesteuerten Welt angepasst.