Die japanische Künstlerin Yuki Kimura hat den Ausstellungsraum des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen Düsseldorf in ein mathematisches Rätsel verwandelt. Ein horizontales, schwarz-weißes Streifenmuster verläuft in einer Endlosschleife entlang sämtlicher Wände. Den Raum selbst durchtrennt eine Achse aus Sockeln mit glänzenden Stahlkugeln, in denen sich wiederum die Umgebung spiegelt. In regelmäßigen Abständen zu diesen mittig platzierten Stelen befinden sich weitere Sockel, auf denen Ready-Made-Arbeiten arrangiert sind. Durch die Kombination von Gegenständen einer Kategorie in unterschiedlichen Größen bestimmen auch hier stringente Muster das Bild. Der farbliche schwarz-weiß Code, den die Wandbemalung vorgibt, wird dabei in allen anderen Objekten und Raumelementen beibehalten. Der Gedanke an Mathematik liegt bei Yuki Kimuras ortsspezifischer Installation (COL SPORCAR SI TROVA, 2022) so nahe, weil die Künstlerin eindeutig mit Dimensionen von Raum und Fläche, Geometrie, Skalierung, Regelmäßigkeit und Wiederholung arbeitet. Wie in einer Welt in einer Welt betreffen diese Kriterien den Gesamtraum, finden sich aber auch in jeder einzelnen der Ready-Made-Skulpturen wieder.
Optische Illusionen und die Verschiebung der Wahrnehmung, die man als Betrachter*in im Raum erfährt, sind die Vehikel, anhand derer sich die Formel beginnt zu enthüllen, die Kimura diesem Raum wie ein Schachbrettmuster auferlegt hat. Die Entscheidung, die Wände mit horizontalen Streifen zu versehen (Stripes, 2022), hat die Künstlerin unter dem Eindruck der dominierenden Querstrukturen des Ausstellungsaals beeinflusst, die an der Decke entlanglaufen und in denen das Lüftungssystem des Kunstvereins untergebracht ist. Das Streifenmuster ist somit als Reaktion auf die brutalistische Architektur des Gebäudes von 1967 angelegt. Diese kommt nun wieder selbstständig zur Geltung, seitdem sich die Direktorin Kathrin Bentele dazu entschlossen hat, die Lichtschächte an der Decke wieder freizulegen, die bis dato mit Paneelen bedeckt waren.
Die horizontalen Streifen erzeugen einen optischen Täuschungseffekt, der wissenschaftlich dokumentiert ist und den Raum viel kompakter erscheinen lässt, als er eigentlich ist. Dieses einfache, sehr grafisch erscheinende Muster aus schwarzen und weißen Mustern bringt ein eigenes kulturhistorisches Erbe mit, das aber in der Regel übergangen wird. Es evoziert teuflische Konnotation, ist von der Kleidung von Häftlingen und Clowns bekannt, findet sich aber auch auf Fassaden von Bauten und Kathedralen der norditalienischen und hochviktorianischen Gotik wieder, was als Phänomen allerdings bisher kaum erforscht wurde. Daneben beruft sich Yuki Kimura auf eine weitere, konkrete Referenz. Der Wiener Architekt Adolf Loos entwarf 1927 für die Tänzerin Josephine Baker ein exzentrisches Gebäude mit ebenso einer schwarz-weiß gestreiften Außenfassade, das allerdings nie realisiert wurde. Indem Kimura das ursprüngliche Außendesign in das Gebäude des Kunstvereins transportiert, kehrt sie das Verhältnis von Gebäudehülle und Innenraum um. Positiv- und Negativraum, festgehalten in dem Kontrast von Schwarz und Weiß, invertieren.
Die schwarz-weiße Streifenbemalung gibt mit den Positiv-Negativ Kontrasten so das alles umfassende Thema vor, in das auch die Objekte und Sockel eingefügt sind. Die Künstlerin lotet die Möglichkeiten und Grenzen aus, welche die Gegenstände in ihrer Materie und ihren Abmessungen selbst mitbringen. Indem sie präzise perlmuttglänzende Muschelschalen ineinanderlegt (Abalones, 2022), das selbe Glasmodells nach Größe aufreiht (Perfection, 2022) oder Desertgläser kunstvoll verschachtelt (Charms, 2022), entstehen dekorative Arrangements, die durch die strikte Regelmäßigkeit, die sie befolgen, auf seltsame Weise befriedigend für das Auge sind. Gleichzeitig destabilisieren die ständigen Wiederholungen den Status eines Objektes als etwas Eigenständiges. In den Anordnungen wird ein Gegenstand so zum bloßen Repräsentant eines skalierenden Systems, das weit in den Raum hinausgreift.
Illusionistische Wirkungen finden sich nicht nur in der an Opt-Art erinnernden Wandbemalung wieder, sondern auch in den Sockeln der Ready-Made-Skulpturen. Durch die Imitation von Marmor-Maserungen durch feine Pinselstriche, die von spezialisierten Dekorationsmaler*innen in einem Brüssler Atelier angefertigt wurden, produzieren die Säulen einen „klassischen“ Trompe-l’œil Effekt. Durch die Integration dieser Technik in die Rauminstallation, die in allen Teilen mit dem Dekorativen und Artifiziellen spielt, verweist Yuki Kimura auch auf die fortlaufende Diskussion der Rolle von Dekoration und Handwerk in der Kunst, die auch heute noch umstritten ist. Sie beruft sich dabei auf Ansätze, die entgegen des kunsttheoretischen Mainstreams, der von Dematrialisierung und Konzeptualismus geprägt ist und handwerkliches Können abwertet, den Wert des Dekorativen und des Kunsthandwerks hervorheben. Einer der Vertreter dieser Denkrichtung ist der Universalkünstler Piranesi, der mit seiner Aussage Col sporcar si trova (wer im Dreck wühlt, der findet) Namensgeber der Ausstellung ist. In der Hinterfragung der Grenze zwischen „High“ und „Low“, Konzeptuellem und Dekorativem findet innerhalb der Rauminstallation so noch eine weitere Verschiebung statt.
Im Zwischenspiel all dieser sauber sortierten Gegensätze gerät die eigene Position ins Schwanken. Diesen Vorgang macht kein anderes Objekt mehr klar, als die Spiegelkugeln (Mirror Balls, 2022), die je nach Standpunkt der Betrachter*innen, in absteigenden oder aufsteigenden Größen entlang einer Achse in der Mitte des Raumes aufgereiht sind. Diese „magischen“ Kugeln bieten abhängig von ihrer Größe eine verkleinerte oder vergrößerte Ansicht des Raumes, in der sich, wenn auch in stark verzerrter Form, die gesamte Umgebung des/der Betrachter*in zu reflektieren scheint. Erneut begegnet man so einem rätselhaften Welt-in-der-Welt Effekt, der eine Illusion in zweierlei Hinsicht ist. Nicht nur entsprechen die Dimensionen, welche der Blick in die Kugeln suggeriert, nicht der Realität. Auch die Tatsache, dass die Spiegelkugeln in der Größe variieren, ist für die Wahrnehmung des Auges aus bestimmten Blickwinkeln zunächst nicht erkennbar.
Yuki Kimuras Rauminstallation erinnert mich an ein ganz bestimmtes modernes Kunstwerk. 1934 erschuf die surrealistische Künstlerin Dora Maar die Fotomontage Sans Titre (Main-coquillage), auf der vor düsterem Himmel eine zarte Frauenhand aus einer Muschel herausgreift. Dieses Bild mit seiner opaken Atmosphäre und Yuki Kimuras Werk im Kunstverein haben für mich in etwa die gleiche Ausstrahlung. Anhand der Verwendung von Ready-Mades, dem Spiel mit Kontrasten, der Umkehrung von High und Low-Art sowie der prominenten Rolle eines schwarz-weißen, natürlichen Streifenmusters auf der Muschelschale, das sich unendlich windet, finden sich erstaunliche Parallelen zwischen Maars Main-coquillage und Yuki Kimuras Arbeit. Legt man diese beiden Werke vor dem inneren Auge nebeneinander, entsteht eine neue Ebene, der zu Folge COL SPORCAR SI TROVA auch als surrealistische Collage gedeutet werden kann, als Inversion von Regel und Zufall, die als Werk eigentlich nie abgeschlossen ist und sich endlos fortsetzen lässt.