Von Facetime bis Zoom-Meeting sind Videotechnologien zum Ersatz realer Treffen geworden. Doch kommt man durch solche Plattformen wirklich zusammen? Die Ausstellung CLOSER der neuen Direktorin Kathrin Bentele im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen Düsseldorf untersucht in sieben Videoarbeiten internationaler Künstler*innen verschiedener Generationen die ambivalente Qualität dieser Nähe, die das Medium vermeintlich schafft. In einer Überschneidung von Filmräumen und dem physischen Raum der Betrachter*innen bilden die Filmarbeiten über den jeweiligen Einsatz der Kamera unmittelbare Kontaktflächen. Hinter der suggerierten Intimität der Bilder verbergen sich jedoch häufig Momente der Überwachung und Kontrolle, welche die Beschaffenheit der entstehenden Beziehung wieder in Frage stellen. In einer ganz auf die Videoarbeiten konzentrierten modularen Architektur, die alle im 16:9 Bildformat gezeigt werden, entwirft CLOSER einen visuellen Parcours, in dem sich das Verhältnis zwischen Kamera, Künstler*in und Betrachter*in ständig wandelt.
In „Figure 8“, einer Arbeit der in New York lebenden Künstlerin Steffani Jemison (geb. 1981) in Kollaboration mit der Tänzerin Alexis Page, wird der/die Betrachter*in durch die Kameraführung von Page, die mit ihrem Körper mitgeht, während die Tänzerin die Figur einer liegenden Acht ausführt, förmlich in die Bewegung eingesogen. Das Raum- und Zeitgefühl überträgt sich durch dieses immersive visuelle Erlebnis auf den Ort der Tanzenden, deren Körper dennoch eine Barriere bleibt. Jemison beschäftigt sich in ihrem Werk intensiv damit, wie sich gesellschaftliche Normen und Codes auf den menschlichen Körper übertragen. Das wandelbare Potential kultureller Ausdrucksformen wird in ihren Videos zum Ausgangspunkt zur Formulierung von Widerstand und sozialer Transformation. So besteht ein Teil von „Figure 8“ aus einem Gespräch zwischen Jemison und Page, in dem beide darüber sinnieren, wie der Zusammenschluss von Menschen mit gleicher positiver „Wellenlänge“ Energien für die gesellschaftlichen Gleichberechtigung freisetzen kann. Die simulierte Bewegung ohne Anfang und Ende multipliziert diese Botschaft ins Unendliche.
Das intime Verbindungspotential der Kamera, das Produzent*innen und Betrachter*innen jedoch auch beiderseitig mit einer schonungslosen Nähe überlasten kann, wie es häufig in den sozialen Medien der Fall ist, ist das Motiv des Filmes „1“ der Londoner Künstlerin Josiane M.H. Pozi. (geb. 1998).Wie es die besondere Perspektive verrät, die sie für ihre Arbeit gewählt hat, ist sich Pozi als Angehörige der Generation der „Digital Natives“ des trügerischen Charakters der scheinbar unendliche individuelle Entfaltungs- und Vernetzungsmöglichkeiten bietenden Plattformen bewusst. Mit ihrem Smartphone, das sie die ganze Zeit aus von Unten filmt, so dass sich die Aufnahme fast ausschließlich auf eine Untersicht ihres Gesichts konzentriert, lässt Pozi die Betrachter*innen an einer scheinbar endlosen Taxifahrt, dem Einchecken in ein Hotel und dem Aufsuchen eines Spa-Bereiches teilnehmen. Indem sie die Betrachter*innen durch die Kameraperspektive so nah wie nur möglich mit sich mitgehen lässt, uns aber dennoch nichts von dem Umfeld, in dem sie sich bewegt, erfahren lässt, formuliert Pozi eine Art visuelle Metapher, die auf die desillusionierende Einsamkeit hinter dem „Following“ hinweist.
In einer intensiven Vergegenwärtigung längst verblasster Lebensspuren zeigt der amerikanische Avantgarde-Filmemacher James Benning (geb. 1942) in der Videoinstallation „PLACE“ statische Außenaufnahmen von Schaffensorten acht amerikanischer marginalisierter „Outsider“ und „Folk“-Künstler*innen. In den exakt 10-minütigen Einstellungen, für die Benning durch die ganzen USA gereist ist, sieht man nicht viel mehr als die sich im Wind wiegenden Bäume und das Gras einer Landschaft, eine New Yorker Doppelhaushälfte oder eine anonyme Straßenecke mit verrammelten Ladenfronten. Es ist aber gerade diese Leere, die scheinbar stillstehende Zeit, welche durch die Abwesenheit des/der Künstler*in deren Person präsent macht. Mit seinen radikal minimalistischen Arbeiten versucht Benning so eine Sprache für die von der rasant fortschreitenden Mehrheitskultur ausradierten, gebrochenen Biografien außerhalb des „American Dreams“ zu finden. Indem Benning den Film um Werke der ausgewählten Künstler*innen, die von ihm exakt kopiert wurden, und begleitenden Katalogen ergänzt, öffnet die Vidoeinstallation „PLACE“ den Weg zu einer alternativen Erzählung, an deren Anfang der Ort und der/die Betrachter*in stehen.
Fürsorge als eine ganz besondere Form von Nähe, die familiär, freundschaftlich, aber auch durch körperliche Einschränkungen lebensnotwendig sein kann, ist das Thema der kollaborativen Arbeit „Scores for Carolyn“ von Park McArthur & Constantina Zavitsanos. Während das Bild die ganze Zeit auf ein Stück Asphalt gerichtet ist, vermittelt sich die Arbeit durch die hypnotisierende Tonspur, in der in verzerrter Langsamkeit ein poetischer Text vorgelesen wird, der Handlungsanweisungen zum fürsorgenden Umgang formuliert. Die Personen und die genaue Beziehung, um die es sich hier handelt, bleibt dabei im Unklaren. Durch die opaken Hinweise der Stimme, bei der die Grenzen zwischen Du und Wir, Abstand und Intimität verschwimmen, entwerfen die Künstler*innen einen Begriff der Fürsorgearbeit, der weit über ein Arbeits- oder Zweckverhältnis hinausgeht. „Scores for Carolyn“ hat ein gesamtgesellschaftliches, inklusives Anliegen, das dem Motiv von McArthur und Zavitsanos folgt, beeinträchtigte, aus dem Produktivitätsideal herausfallende Körper zu repräsentieren. Eine Erfahrung, die beide Künstler*innen selbst teilen.
In seiner Videoarbeit „Mirrored Portrait“ hinterfragt Alejandro Cesarco (geb. 1975) die scheinbare Eindeutigkeit und Unbefangenheit, die mit der Geste des Richtens einer Kameralinse auf jemanden verbunden ist. Cesarco filmt bei einem Wiedertreffen nach 16 Jahren seinen ersten Fotografie-Lehrer Panta Astiazarán in einem Café dabei wie dieser versucht, ein Porträt von ihm zu schießen. Die Annäherung zwischen beiden findet allein über die Kameralinsen statt. Die Wahl des Objektives, der Perspektive und der Einstellung fungieren in dieser minimalistischen Arbeit als Stellvertreter für die fehlende verbale Kommunikation. Nicht Worte, sondern „technische“ Gesten weisen somit auf die in den Zwischenjahren entstandene Entfremdung zwischen dem Lehrer und seinem ehemaligen Schüler hin, samt möglicherweise völlig unterschiedlicher Auffassungen des Fotografie-Begriffs, die Beide mittlerweile vertreten. „Mirrored Portrait“ fügt sich durch den Abstand, der hier über die Kameralinsen ertastet wird, in Cesarcos künstlerische Praxis ein, vermeidlich verpassten oder vergangene Versionen des Selbst nachzuspüren, indem er die Lücke zum Potential macht.
Die Technik des Video-Livestreams, bei der man als Zuschauer in Echtzeit das Umfeld mitbekommt, durch das sich die hinter der Kamera befindende Person bewegt, wird häufig von Influencer*innen für inszenierte Alltagseinblicke benutzt. Die in Hong Kong geborene Künstlerin Tiffany Sia (geb. 1988) hingegen hat während der Proteste gegen das Eingreifen chinesischer Sicherheitsbehörden in Hong Kong im Jahr 2019 das politische Potential dieser Technik, live Geschehnisse zu dokumentieren, für ihre filmische Praxis angeeignet. In „A Road Movie Is Impossible in Hong Kong“ befragt Sia die Verlässlichkeit und die Möglichkeiten und Grenzen der Ästhetik des Livestreams. Mit der eng am Körper getragenen Kamera, die bei jeder Bewegung das Bild mitruckeln lässt, hat die Künstlerin sieben Spaziergänge zu Sonnenaufgang auf der Hong Kong vorgelagerten Insel Lamma Island dokumentiert und die Episoden für den Kunstverein zu einer einnehmenden 7-Kanal-Filminstallation kombiniert. Begleitet von Umgebungsgeräuschen, Atem- und Schrittgeräuschen folgt man durch die Perspektive der Kamera Sia auf unzähligen Pfaden durch eine subtropische Landschaft, an Strände, Aussichtspunkte, Stege und durch Siedlungen. Trotzt der Vielfalt der erkundeten Terrains kommt man als Betrachter*in durch die Aufnahmen nirgendwo wirklich an, die Kartierung durch die Schritte schließt sich an keinem Punkt. Lamma Island wird hier zu einem Testgelände für die politische Anwendung des Livestreams in Hong-Kong, das als Ort nur über subtile Verweise in der Ferne angedeutet wird, jedoch für die Filmende ausser Reichweite bleibt.
Die Positionen in CLOSER vermitteln schließlich eine Botschaft, die eigentlich von Anfang an klar ist: das Nähe keine Frage der Technik ist. Nähe lässt sich durch Videotechnik simulieren, aber nicht herstellen. Doch in dieser Fähigkeit zur Simulation liegt ein großes künstlerisches Potential, Botschaften zu vermitteln, indem die Betrachter*innen über die Kameraeinstellung in das Video miteinbezogen werden. CLOSER zeigt in einer ruhigen, fast minimalistischen Art, dass für das Bieten solcher Kontaktzonen zwischen den Raum des Films und dem Raum der Besucher*innen nicht die aufgeregte Virtual Reality Technologie notwendig ist, die immer mehr Ausstellungsräume erobert. Man erfährt anstatt, dass die Aushandlung von Nähe mit all ihren Ambivalenzen und Fallstricken dem Medium Video durch den Einsatz der Kamera von Anfang an immanent ist.