Agnes Scherer - The Notebook Simulations —Kunstverein Düsseldorf

Notebooks  sind zum Zentrum unseres Lebens geworden. Doch es ist nicht nur die Technik, die uns mit diesen Geräten verbindet. Denn im Moment des Ausklappens eröffnet sich eine ganze imaginäre Welt, in die wir während des Arbeitens einsteigen. Diese Eindrücke kommen irgendwie wieder auf einen zu, wenn man zwischen den neun riesigen, mit mythischen und rätselhaften Szenen bemalten Notebooks in bühnengleichen Ausmaßen hindurchgeht, welche die in Düsseldorf ausgebildeten und mittlerweile in Berlin lebenden Künstlerin Agnes Scherer in ihrer ersten institutionellen Ausstellung The Notebook Simulations im Kunstverein Düsseldorf präsentiert. Wie monumentale Steinblöcke gestaltet und in einer an einen Tempel erinnernden Struktur platziert, werden die Notebooks zu Orten eines fremden Kultes. Auf deren Bildschirmen spielen sich Dinge ab, die durch die figurativen Darstellungen zwar leicht mit dem Blick zu erfassen, aber schwer zu dechiffrieren sind. Diese von der Oberfläche der Erscheinung her leserliche Abbildungsstrategie, die sich dann schleichend in mehr und mehr ambiguen und nebelhaften Konstellationen verzweigt, ist typisch für die von der surrealistischen Malerei inspirierten Arbeiten von Agnes Scherer. Ihr sich stark über Narrative vermittelndes Werk überspannt dabei neben den in The Notebook Simulations zu sehenden Malereien verschiedene künstlerische Kategorien, wie die der Zeichnung, Skulptur, des Theaters, der Performance und Operette.

Ganz den außer-sphärischen Geschehen in ihren Bildern gleich, bietet die Künstlerin mit einem angeblich von ihr erfahrenem astronomischem Ereignis einen Einstieg in den Bildkosmos. Das sich in dem Laptop-Diptychon „Der Perseidenschauer“ (2021)  abspielende physikalische Wunder, ein flackerndes Irrlicht, wird zum Leitmotiv des Rundgangs durch die Ausstellung. Von Bild zu Bild führend, ohne wirklich eine Richtung anzugeben, stellt dieses Truglicht mehr ein mythisches Gerücht dar, doch gerade dies macht es so anziehend, ihm zu folgen. Mit jedem Bildschirm öffnet sich ein Ausblick in ein Epos, das sich bruchstückhaft mit seinen Protagonist*innen vollzieht. Kosmische Reisende, dunkele Engel, Alchimisten, Ritter, Zauberer,  Meerjungfrauen und andere Halbwesen spielen hier die Hauptrolle. Urkräfte wie Sonne, Luft, Berge, Blitze, Meer, Sterne und Wolken bilden in einer gleichklingenden Farbtonskala unterschiedlicher Blau- und Grautöne die Hintergründe der Szenen. Selten nehmen die Darstellungen die ganze Bildfläche ein. Immer wieder tauchen diffuse Windows-Programmfenster, Dateizeichen und sich dramatisch staffelnde Fehlermeldungen auf, welche den in die sagenhafte Welt eintauchenden Blick wieder an die Oberfläche seiner in der Gegenwart verankerten Bühne, die des Notebooks, zurückleiten.

Agnes Scherers besondere künstlerische Taktik besteht darin, aus einem breitem kulturellem und kunsthistorischem Bildschatz immer wieder Fragmente einzustreuen, welche bekannt wirken und so scheinbar konkrete Anhaltspunkte über die Ereignisse im Bild bieten. Dazu zählt etwa die Begegnung mit Gestalten aus der griechischen oder orientalischen Mythologie oder Abbildungen aus mittelalterlichen Wandteppichen und christlichen Fresken. Dass diese Anlehnungen so bestechend übereinstimmend wirken, hat mit dem Hintergrund der Künstlerin in der Archäologie und Kunstgeschichte zu tun. Das Bildvokabular, was Agnes Scherer einsetzt, ist sorgsam ausgewählten Kontexten entnommen, so dass sich in wenigen, stets klar ausgeführten Pinselstrichen fast ein ganzes Lexikon an Referenzen eröffnet. Doch auch diese Hinweise sind nur scheinbar, was Symbol ist und was Verzierung, was Verweis und was Erfindung, diese Fragen kann niemand beantworten. Wer nach einer Geschichte sucht, muss dem Irrlicht folgen.

So bleibt man als Betrachter*in in einer Gleichzeitigkeit verschiedener magischer und eigentümlicher, bisweilen leicht grausam veranlagter Vorgänge gefangen, die sich nicht nur in den Laptop-Diptychen selbst, sondern auch im Bezugsraum zwischen ihnen abspielen. Ein Priester, der eine Schere in einen Stein hämmert, schwebende Hirten auf Wolken und versklavte Menschen an Puppenfäden gehören genauso zu diesem unglaublich weitem Potpourri an Ereignissen wie ein Kartenhaus vor einer frühitalienischen Stadt oder beflügelte Fischmenschen auf Perlenjagd. Währenddessen schwimmen rosenähnliche Pflanzen kopfüber in leeren Getränkeflaschen der Marke Club Mate, die in Windows-Fenstern eingefasst sind. Variationen der teils zu Wörtern und Chiffren zusammengesetzten Tasten der Keyboards, auf deren Touchpads auch mal ein umgedrehtes Smartphone mit von Stickern verzierter Hülle liegt, weisen auf die Autorschaft der Künstlerin hin. Embleme über den Diptychen in der Form von Fledermausflügeln, griechischen Masken, Schlittschuhen und eine an die Himmelsscheibe von Nebra erinnernde Platte bilden eine Kontaktstelle zwischen Notebook und Wand, den mythischen Geschehen und dem Ausstellungsraum.

Die Anachronismen zwischen den Plattformen des Dargestelltem, gebrauchsübliche Laptops, und den gemalten, sich in einem fremdem und realitätsfernem Kosmos abspielenden Ereignissen, sind denkbar groß. Scheinbar gefangen zwischen Welten, lassen diese Gegensätze den Betrachter nie einen fixen Standpunkt finden, von dem er zu einer verlässlichen Interpretation gelangt. Dennoch scheinen  all diese Aspekte, die wirre Bilderflut und die ineinander verschachtelten Ebenen von Sinn und Bedeutung, das hinaus-Blicken in eine Welt voller sich gleichzeitig öffnender Fenster, die tief und zugleich flächig, transparent wie auch unergründlich ist, doch irgendwie auch kollektive Erfahrungen mit der unser Leben steuernden Laptop-Technologie zu spiegeln. Die von Agnes Scherer abgebildeten Geschehen sind damit nicht so entrückt, wie man auf dem ersten Blick meint. Denn sie bilden einen großen Teil der Architektur unserer Wahrnehmung nach, die an computergesteuerte Anwendungen gebundenen ist. Mit der Inszenierung des (scheinbar) Alltäglichem und Bekanntem auf dem Parkett des Wunderlichem und der Erzählung einer daraus hervorgehenden unendlichen Geschichte gelangt Agnes Scherer zu einer neuen Form von Surrealismus in ihren Bildern. Dieser erreicht die Betrachter*innen, da er uns, anders als sein allseits bekannter, heute zum Kuriosen verkommener Vorgänger von Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, betrifft. Simulationen, die nicht in die Irre führen, sondern ins Licht.

 

Agnes Scherer, The Notebook Simulations, Installationsansicht Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021  |  Foto: Mareike Tocha

Agnes Scherer, Der Perseidenschauer (2021), Installationsansicht Agnes Scherer – The Notebook Simulations, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021  |  Foto: Mareike Tocha

An unnamed file contains an incorrect path, 2021, Installationsansicht Agnes Scherer – The Notebook Simulations, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021  |  Foto: Mareike Tocha

Agnes Scherer, Plan B(ernard), (Detail), 2021, Installationsansicht Agnes Scherer – The Notebook Simulations, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021  |  Foto: Mareike Tocha

Agnes Scherer, Smile (Les Pleurantes), 2021, Installationsansicht Agnes Scherer – The Notebook Simulations, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021  |  Foto: Mareike Tocha

Agnes Scherer, Verhängnisvolle Geschenke (Detail), 2021, Installationsansicht Agnes Scherer – The Notebook Simulations, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 2021  |  Foto: Mareike Tocha