In Carmen Herreras (* 1951 in Havanna, Cuba) Bildern treffen die Farben mit großer Skepsis aufeinander. Zu nicht mehr als zu zweit, angebracht auf den Canvas in ausfüllenden Flächen in strenger Geometrie, scheint es, als würde die Existenz der Einen die der Andere bedingen, diese gerade akzeptieren, aber am liebsten würde das sich quadratisch ausbreitende Schwarz das sich zackig ergänzende Blau verdrängen. Flächen und Linien so zu beleben, dass sie – obwohl im Aufbau einer statischen Geometrie gehorchend, die uns nicht als Formen erkennen lässt – lebendig wie Charaktere erscheinen lässt, ist vielleicht eines der größten Verdienste der 102 jährigen Künstlerin Herrera, die ein Leben solche Werke, die heute verwundern, gemalt hat. Heute zählt sie zur Riege der großen abstrakten Maler und Malerinnen des 20. Jahrhunderts. In einer Retrospektive, wie sie 2016 im Whitney Museum of American Art, New York, zu sehen war, zeigt die Kunstsammlung NRW in Kooperation mit der oben genannten Institution unter dem ,,Titel Lines of Sight“ 70 ihrer Werke aus der Zeit von 1947 bis 2017. Es ist die erste große und international gezeigte Retrospektive der Künstlerin.
Die Rolle als eine Pionierin der geometrischen Abstraktion in Amerika wurde ihr jedoch erst spät anerkannt. Lange wurde sie ignoriert. Weil sie eine Frau war und darüberhinaus malte, was nicht in das Bild von einer weiblichen Künstlerin in den 1960er und 70ern passte. So geriet sie aus dem Blickfeld. Herrera wurde 1915 in Havanna als Tochter und siebtes Kind in ein gebildetes und gesellschaftliches engagiertes Elternhaus geboren, das ihr schon als Kind und Jugendliche eine künstlerische Ausbildung und ein Studienjahr in Paris ermöglichte. Herrera studierte zunächst Architektur in Havanna, bevor sie dann 1939 den Sprachlehrer Jesse Loewenthal heiratet und mit ihm nach New York zieht. Hier versucht sie das erste Mal sich als Malerin durchzusetzen, was ihr jedoch in der männlich dominierten Kunstsphäre schwer fiel. 1948 bis 1954 ziehen Herrera und ihr Mann in eines der Epizentren der Kunst, Paris, dessen intellektuelle Kreise weiter gespannt waren. Dort finden beide in die Kreise von Künstlern wie Yves Klein, Herrera findet Anregungen bei der historischen abstrakten Avantgarde, sie tritt dem Salon des Réalités Nouvelles bei in dem sie neben berühmten Künstlern der Pariser Avantgarde ausstellt. Nach der Rückkehr nach New York 1954 entwickelt Herrera aus den Einflüssen der Pariser Zeit ihren eigenen, unverkennbaren markanten Stil. Erst 2005 tritt ihr Werk wieder durch eine erste Retroperspektive ,,Five Decades of Painting“ bei Latincollector in New York in den Blick der Öffentlichkeit, durch das ihr heutiger Weltruhm begründet wird.
Herreras erste radikal abstrakte Arbeiten erscheinen früh in ihrer Schaffensphase und plötzlich nach Werken, die mit einem spielerischen Einsatz abstrakter Formen in weichen Konturen, breitem Farbspektrum und fließenden Kompositionen noch sehr an die spielerische Formensprache der ,,klassischen“ Moderne wie Kandinsky angelegt erscheinen. 1950 schafft sie ein Bild (,,Thrust“) mit sich kräftig von einander abhebenden Streifen in Blau und Weiß, die den Bildraum durchziehen und an Kondensstreifen auf einem blauem Himmel erinnert. Es steht im starken Kontrast zu der vorigen Formen und Farbenchoreografie nach Monier der Moderne. Schon hier zeigt sich das Rätsel von Hinten und Vorne, der Unmöglichkeit eine dominierenden Perspektive aus einer Komposition von 2 Farben herauszulesen, das sich in allen folgenden Bildern zeigen wird und zu Herreras Alleinstellungsmerkmal wird. Von da an verfolgt sie ihren Stil weiter, der aber von Anfang an präsent, bereits entwickelt und nun nur noch zur vollständigen Artikulation stehend erscheint.
1952 entstehen mit einer Serie schwarz-weißer Streifenbilder die ersten konsequente Sequenz radikal geometrischen Abstraktionen, welche wie eine Vorwegnahme der erst in den 1960ern entstehenden Opt-Art wirken. Nichts als parallele vertikale schwarze und weiße Streifen, identisch in der Form füllen den Bildraum von ,,Untitled, 1952“ wie ein Raster aus. Da sie aber den Bildraum nicht vollständig durchziehen, sondern von der Gegenfarbe in unterschiedlicher Höhe unterbrochen werden, entsteht ein versetztes Muster, das 2 nach unten gekehrte Dreiecke erkennen lässt. Die geometrischen Mittel sind einfach, doch der Bildeindruck ist komplex. Nach dieser Serie erweitert sie ihr abstraktes Farbspektrum. Weiß und Schwarz bleiben in Kombination mit kräftigen, eindeutigen, fast mathematisch anmutenden Primärfarben Hauptakteure.
Die Flächen und Farben sind oft so in einander ins Verhältnis gesetzt, dass das Bild dreidimensional erscheint, eine scheinbare Tiefe entsteht. In der Werksserie ,,Blanco y Verde“ (1959) durchziehen sich zu Dreiecken verjüngenden grüne Flächen so die sonst Weiß getünchte Leinwand so, als würde es sich um Papier handeln, das sich gerade dabei befindet, geknickt zu werden, sich zu entfalten und uns entgegenzukommen. Wieder erscheinen beide Farbflächen nicht auf der gleichen Ebene zu sein. Obwohl alles Linie und Geometrie ist, suchen wir in Herreras Arbeiten ein Vorne und ein Hinten. Herreras Arbeiten erscheinen in ihrer Konstruktion klar – wenn nicht sogar banal – und doch bleiben sie, zu verschiedenen Graden, optische Rätsel. ,,Alternativen“ nennt Herrera die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten. In allen Arbeiten lassen sich auf die Grundprinzipien ihrer Malerei zurückführen: Reduktion, Einheit von Farbe und Form, Mehrdeutigkeit der räumlichen Ebenen, Verständnis des Bildes im dreidimensionalen Raum. ,,Days of the Week“ (1975-78) ist eine Werksserie, in der sich zeigt wie Herrera die Bandbreite des Zwischenspiels starker Farben fortführend erweitert. Wie die Kanten eines Blitzes stoßen Farbflächen von Gelb, Hellgelb, Orange, Petrolgrün und einem leuchtenden Rot auf schwarze Flächen die die farbigen begrenzen. Durch die Lage der Bildelemente entsteht Dynamik, die sich durch die gekippte Optik der Flächen verstärkt. Durch die spannungsgeladenen Kontraste in Farbe und Fläche lassen sich Herreras Bilder wie Skulpturen erfahren.
Herrera hat in ihrem bis heute ununterbrochenen, ein Lebensalter umspannenden Schaffen eine eigene Mathematik für ihre Arbeit entwickelt, die bis in ihr heutiges Werk reicht. In ,,Verde de Noche“ (2017), ihrem jüngsten Werk, heben sich zwei Bahnen eines matten Grüns wie Strahlen eines Scheinwerfers in die Höhe. Sie sind nur marginal begrenzt von dunkelblauen Zwischenräumen. Ein geometrisch simpler Aufbau, der jedoch wieder nach der durchgängigen Ästhetik Herreras Farben als Akteure in den Bildraum schickt, der auch nur wie eine partielle Begrenzung darzustellen scheint – könnten sie es, würden die Farben, entschlossen wie sie sind, das Universum erobern.
Dass Herrera so lange als Künstlerin ausgegrenzt blieb, obwohl ihre Arbeiten die Formensprache der damals aufkommenden Opt Art und Farbfeldmalerei entwickelten, spricht ein generelles, gerade unter der Feminismus Debatte wieder aufkeimende Diskussion über Marginalisierung weiblicher Künstlerinnen in der Kunstwelt. Vor diesem Hintergrund gelesen entwickeln die Bilder Herreras, die immer nur für sich malen konnte unter vollem Bewusstsein einer Nichtsichtbarkeit, eine noch ganz andere, selbstbewusste Sprache. So scheint es als würden die Farben um Selbstbehauptung kämpfen: ,,hier, das bin ich, ich bleibe, bis hier ist meine Grenze“ – es scheint, als reflektieren sie Herreras Erleben. Ihre Bilder erzählen von Herreras Kampf, wahrgenommen zu werden, seinen Platz zu bekommen, nicht verdrängt zu werden. Herreras Stärke, sich nicht marginalisieren zu lassen, beständig weiterzuarbeiten und den Druck auszuhalten, spürt man in ihren Bildern. Es ist die selbe Stärke, die viele Frauen heute noch täglich in unserer Gesellschaft aufwenden müssen, um sich zu realisieren. In diesem Sinne vermitteln ihre Arbeiten für mich eine zutiefst gegenwärtige Botschaft. Sie sind Zeugnis des Kämpfens und Ermutigung zugleich.