Selektieren, bedeuten, platzieren – wie Kunstwerke wahrgenommen werden, ist von unzähligen Entscheidungen abhängig. Was bleibt, wenn man die Kunst von all diesen Gesten befreit? Eine unbequeme Frage, vor der die französische Künstlerin Marie Angeletti nicht zurückschreckt. Angeletti, die zur Zeit in einer ersten großen Einzelausstellung im Kölnischen Kunstverein zu sehen ist, sieht ihre Werke nicht als Ergebnisse eines bewussten Auswahlprozesses. Unter dem Prinzip „ram spin cram“ werden stattdessen Zufall, Intuition und kontinuierliche Bewegung zu wiederkehrenden Antriebskräften hinter ihren minimalistischen, manchmal beliebig wirkenden Arbeiten, die dennoch präzise gesetzt sind.
Marie Angeletti reagiert anhand einer Serie skulpturaler und fotografischer Arbeiten auf die besonderen Raumverhältnisse des Kunstvereins, die von völlig unterschiedlichen Dimensionen und Lichtverhältnissen geprägt sind. Die Begebenheit, dass ein großer Teil des Gebäudes wie ein Theaterfoyer konstruiert ist, das vorrangig zum Durchgehen bestimmt ist, interpretiert die Künstlerin raffiniert für sich, indem sie gerade den Ort, der eigentlich für die Präsentation von Kunstwerken gedacht ist, fast leer lässt.
Vier in teils leuchtenden Farben gestrichene Stahlstützen sind als zusätzliche bauliche Elemente versetzt in der Ausstellungshalle im Erdgeschoss platziert (Universal columns, 2023). An unterschiedlichen Stellen die Höhenverhältnisse zwischen Decke und Boden abmessend, haben die Träger an sich keine wirkliche Funktion. Anhand der Stahlsäulen, die ein universell eingesetztes Bauteil der industriellen Moderne darstellen, das in zahlreichen Strukturen in Metropolen weltweit verbaut ist, greift Marie Angeletti hier den urbanen Raum auf. Eine Kulisse von vorbeiziehenden Menschen, Fahrzeugen und Straßenbahnen, von der man sich in der Ausstellungshalle mit ihren transparenten Glasfronten nicht trennen kann.
Die wuchtigen Träger, die mit ihren rundlichen Stahlnieten exakt ihre Vorbilder aus U-Bahn-Stationen, Gebäuden oder Brücken nachempfinden, wurden in einer Metallwerkstatt in Marseille angefertigt und in langwierigen Arbeitsschritten von der Künstlerin vor Ort zusammengesetzt. Die Universal columns verkörpern somit Angelettis Grundsatz der kontinuierlichen Bewegung (ram spin cram), aus der sie ihre Arbeiten heraus generiert. Indem die Stahlstützen sowohl aus einem Prozess des Umherstreifens und Beobachtens hervorgegangen sind, als auch zu neuem Sehen anregen, konzentriert sich in diesen Strukturen eine von der Künstlerin angestoßene Dynamik, die sich über deren momentane Präsenz im Kunstverein fortsetzt.
Während viele Künstler*innen sich gerne auf das Ephemere berufen, bekräftigt Marie Angeletti schonungslos den arbiträren Charakter der Präsentation ihrer Werke. „I don’t think we ever really choose“, sagt sie in bewusster Abgrenzung von jeder gesteuerten Inszenierung und nimmt anstatt dessen die Position einer alles aufnehmenden Beobachterin ein. Eine Veranlagung, die durch ihrer künstlerische Tätigkeit als Fotografin geprägt ist. Marie Angelettis Konzentration auf das Zufällige kehrt in einem Video wider, das auf die Hinterwand der Ausstellungshalle projiziert ist und das die Künstlerin heimlich in der The Menil Collection in Houston, Texas gedreht hat (Laugh, 2023). Aus der versteckten Kameraperspektive tritt auf einmal eine Besucherin in den Fokus, die sich vor lachen nicht mehr halten. Was den Lachanfall bei ihr ausgelöst hat, bleibt angesichts der eher schlichten, minimalistischen Kunst unklar und verstärkt das irritierende Moment des Videos, das durch seine Platzierung im Kunstverein optisch einen Durchgang in weitere Ausstellungsräume suggeriert.
Marie Angelettis Entscheidung, gegenüber ihren Werken als allwissendes künstlerisches Subjekt zurückzutreten, wirkt daher wie ihre persönliche Antriebskraft. Eines der Gebiete, in das es sie dabei regelmäßig verschlägt und das sie erkundet, ist die Straße. So hat sie in verschiedenen Städten immer wieder Bauarbeiter fotografiert, die am Straßenrand arbeiten (Men at work, 2008–2023). Während man als Passant*in aus Diskretion den Blick häufig abwendet, durchbricht Angeletti diese Distanz, indem sie die Kamera direkt auf die Arbeiter richtet, die häufig mit entschiedenem Blick zurückschauen. Die Diashow ist nicht aus einem bewussten Suchen nach fotografischen Subjekten hervorgegangen, sondern Produkt jener planlosen Streifzüge, die sie immer wieder zur Herstellung von Werken führen. So wie ein mit einer Liste von Städtenamen beschriebenes, entsorgtes Whiteboard, das die Künstlerin in New York von der Straße aufgelesen hat. Hier taucht es als Readymade wieder auf, dessen Beschriftung kurioserweise persönliche Stationen aus ihrem Leben wiederholt (White Board, 2023).
Reflektionen, erzeugt durch silberne, spiegelnde oder gläserne Oberflächen, scheinen in den hier zu sehenden Werken ein bedeutendes ästhetisches Element zu sein. Sie begegnen einem in den großflächigen Silbergelatinedrucken im Studio des 2. Obergeschosses, in die sowohl von der Künstlerin selbst aufgenommene als auch angeignete Motive auf fast malerische Weise in Schwarz einimprägniert sind. In der Tatsache, dass es zwischen den einzelnen Bildern – einem Stier, einem Revolver, Orgelpfeifen, einer medizinischen Abbildung von Gehirn und Rückenmark (u.A.)– fast keinen thematischen Zusammenhang gibt, wiederholt sich Angelettis Fokussierung auf das Subjektive und ihre Ablehnung jeglichen kuratorischen Framings. Die – möglicherweise – symbolhaften Motive stehen in gewisser Weise für sich. Sie geben Erfahrungen und ästhetische Präferenzen der Künstlerin wieder, die sie weder teilen noch voraussetzen möchte – „I want my works to remain open“.
Als Potenzierung des reflektierenden Elements zeigen zwei der Drucke zerbrochenes Glas und referieren damit auf eine Installation der Künstlerin auf dem Flachdach des Kunstvereins, die für die Besucher*innen allerdings nicht zugänglich ist. Spiegelnd glänzen auch insgesamt über 400 Pétanque-Kugeln der französischen Sportgeschäftkette Decathlon im Untergeschoss, welche die Künstlerin in einem zeitintensiven und mühseligen Prozess auf Hochglanz poliert hat. Ein ordinäres Freizeitobjekt erhält hier die Aura minimalistischer Kunst, die ein wenig an die ZERO-Bewegung oder Op-Art erinnert und die man gerne als kinetische Installation in Bewegung sehen würde. Marie Angeletti interessiert jedoch weniger, als was ihre Werke im Kontext der zeitgenössischen Kunst erscheinen mögen. Was sie mit den Kugeln verbindet, sind die Erlebnisse der Produktion, minuziös festgehalten anhand der Daten ihrer Fertigstellung. Zum Beispiel das spezifische Geräusch, eine Art befriedigendes „Klack“ oder „Klong“ das eine Kugel macht, wenn sie beim Polieren aus der Hand fällt.
Mit Marie Angeletti beendet Nikola Dietrich ihre Amtszeit als Direktorin am Kölnischen Kunstverein. Und sicherlich hätte es gängigere Alternativen für eine Abschlussausstellung gegeben, als eine Künstlerin einzuladen, die sich dem museal-institutionellen Kontext so klug und geschmeidig widersetzt, wie Angeletti. Doch sich nach möglichen Erwartungen zu richten, was programmtechnisch in einen Kölner Kunstverein passt, gehörte nie zum Stil von Nikola Dietrich – zum Glück! Denn durch ihre Auswahl internationaler junger Künstler*innen und heißdiskutierter Themen sowie den Entwurf experimenteller Ausstellungsformaten bot Dietrich dem Publikum einiges erstaunlich Unerwartetes. Neben dem visuellen Erlebnis stand immer die Fähigkeit der Positionen im Mittelpunkt, gesellschaftlich und politisch anknüpfen zu können. Auf diese Weise eröffneten Nikola Dietrichs Ausstellungen erhellende Einblicke in verschiedene Länder und Kontinente sowie deren künstlerische Fragestellungen, Diskurse und Kämpfe. Auch ein Kunstverein ist nie ein konfliktfreies, unbestrittenes Feld. Eine wichtige Einsicht, die man gleichzeitig als Essenz von Nikola Dietrichs Wirken bezeichnen kann. Marie Angeletti setzt anhand ihrer offenen und bewusst unbestimmten künstlerischen Verfahrensweise daher einen stimmigen Schlusspunkt – oder den Anfang einer aufgeschlossenen Klammer, die es erst noch zu füllen gilt.