Gap Years - Loretta Fahrenholz —Kölnischer Kunstverein

Soziales Erneuerungspotential entsteht selten aus einem Umfeld heraus, in dem alles nach Plan läuft. Es brauch eine Unregelmäßigkeit, einen Bruch, um kreative Energien freizusetzen. Und meist sind es übersehene Zwischenräume, von denen aus sich Dynamiken entfalten, welche die Topografie des Gewöhnlichen durchbrechen. In ihrer Fotoserie Gap Years, die zurzeit im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung im Kölnischen Kunstverein zu sehen ist, hat sich die Künstlerin Loretta Fahrenholz genau an einen solchen Ort begeben und die sich dort abspielten  Entwicklungen dokumentiert. Es handelt sich um das Tempelhofer Feld in Berlin mit seinen Wiesen und Asphaltschneisen, die sich bis zum Horizont erstrecken. Bisher vor allem von Sportler*innen und Spaziergänger*innen frequentiert, wurde das geschichtsträchtige Naherholungsgebiet in der Pandemie zu dem Freizeitort und Treffpunkt schlechthin. Aus einer Situation heraus, in der nichts mehr ging, funktionierten Bürger*innen die ehemalige urbane Leerstelle zu einem Ort um, an dem nun Alles möglich war. Loretta Fahrenholz hat sich mit der Kamera unter die zahlreichen Grüppchen und Communities aus Schüler*innen, Feiernden, Skater*innen, Artist*innen, Musiker*innen und Straßenkünstler*innen begeben. Inspiriert von der  Ästhetik des experimentellen Fotografens Gjon Mili ist es der Künstlerin auf beeindruckende Weise gelungen, die rebellische Energie und utopische Atmosphäre der Gemeinschaft dieses Ortes festzuhalten.

Das Glück oder der Kick in eben dieser Sekunde, die vielleicht ein wenig übertriebene Geste, der gewagte Schritt, die gesteigerte Euphorie der Gruppe. Solche Momente wiederholen sich immer wieder in den achtzehn Bildern, die in einer ungewöhnlichen Weise gehängt sind, die sich schwarzer elastischer Bänder, Teleskopstangen und Sportgewichten bedient und die Bilder quasi frei schweben lässt. Diese an Fitnessgeräte und Körperkult erinnernde Inszenierung verstärkt die spezielle kulthafte Anmutung der abgelichteten Personen, deren Handlungen auf den Bildern selbst wie Rituale wirken. Loretta Fahrenholz wendet eine ganz bestimmten Technik an, das Stroboskopblitzlicht, um diese Augenblicke in ihrer Dynamik festzuhalten. Das schnell getaktete Blitzlicht führt während der Aufnahme, wenn sie vor einem dunklen Hintergrund stattfindet, dazu, dass die Bewegung einer Person in einzelnen Fragmenten auf einem Bild festgehalten werden kann. Körper und Körperteile multiplizieren sich dadurch, überlagern sich, werden transparent, so dass es nicht mehr den einen Moment oder das eine Subjekt auf dem Foto gibt, sondern mehrere. Das Ganze erinnert ein wenig an eine Techno-Disko, in der Menschen zu einem Schwarm werden und in der, getragen durch den Beat und das Licht, sich die Konturen in der Übermasse an Eindrücken auflösen.

Die fragmentierten und verwischten Aufnahmen, die einzelne Subjekte in multiple Avatare verwandelnden, passen perfekt in die übersteigerte Bildkultur der Social Natives, doch tatsächlich liegt die Quelle der ästhetischen Inspiration der Gap Years Serie in einer Zeit weit vor der virtuellen Ära. Loretta Fahrenholz hat sich von dem albanisch-amerikanischen Fotografen Gjon Mill (1904–1984) inspirieren lassen, der seit den Vierzigerjahren mit der Stroboskoplichttechnik experimentierte, um in Bereichen wie Theater oder Sport die verschiedenen  Sequenzen einer Bewegung in einem Bild festzuhalten. Mit seinem neuartigen Ansatz  avancierte Mili zu einem der gefragtesten Sport- und Theaterfotografen, der unter anderem berühmte Persönlichkeiten wie Alfred Hitchcock oder Pablo Picasso fotografierte. Seine beeindruckenden Aufnahmen, die natürlichen Bewegungsabläufen folgten, wirken in ihrer gleichzeitigen Dramatik wie Schlichtheit heute noch unglaublich aktuell.

In manchen Aufnahmen hat sich Loretta Fahrenholz sehr eng an den ikonischen Bildern von Mili orientiert, so dass sie wie eine Hommage an den Künstler wirken. Solche Fotografien weisen eine starke Formalität in der abgebildeten Bewegung auf und konzentrieren sich ganz auf den Körper, der hier wie in den Fotografien Milis, zum eleganten Tänzer oder zur Tänzerin wird. Diese Überschneidungen ergeben sich vor allem durch die stark repräsentierte kreative und artistische Szene auf dem Tempelhofer Feld. Trotzt dieser formalen Anlehnungen haben die Gap Years Fotografien dennoch eine ganz andere Ausstrahlung als Gjon Milis Bilder aus Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Denn sie ästhetisieren die abgebildeten Szenen nicht, unterstreichen eher das Chaos, den Regelbruch, die entfesselte Euphorie. Mit Aufnahmen von Parties, Rollerdiscos und Skaterrampen oder einen Elektroroller, der mit Humus begossen wird, halten die Fotografien eine nahezu anarchische Aufbruchstimmung fest. Wie Blitze in der Nacht, die eine immer neue Abnormität aufleuchten lassen.

In ihrem Film Happy Birthday (2022) wählt die Künstlerin nochmal eine andere, fließendere und weichere Perspektive, um im Licht der untergehenden Sonne das Tempelhofer Feld, seine Stimmung und Communities anhand des Streifzuges eines einsamen Protagonisten einzufangen. Wie in einem Videospiel begleitet die Kamera die Person, die laut Skript an diesem Tag Geburtstag hat, eng dabei, wie sie scheinbar ohne festes Ziel über das Feld und durch Urban-Gardening Kolonien streift. Dabei gerät der emotional ausdruckslose Protagonist immer wieder in die Nähe verschiedener Gruppen und Aktivitäten, die er jedoch ignoriert. Wohlmöglich handelt es sich um eine selbstgewählte Einsamkeit, denn eingeblendete Geburtstagswünsche, die von mehr oder weniger bekannten Socialmedia-Stars gekauft sind und ziemlich selbstdarstellerisch wirken, ziehen ebenfalls unbemerkt vorbei. Diese Isolation, in der die Person sich befindet, steht im starken Kontrast zu ihrem Umfeld, das stark von der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften geprägt ist, und wo Einsamkeit eigentlich ein Unding ist. Mit Happy Birthday deckt Loretta Fahrenholz damit auch die sozialen Konventionen auf, die in dem vermeintlich „freiem“ Raum dennoch vorherrschen.

Der Film documenta Dream (2021), der im Kino des Kunstvereins gezeigt wird, ist gegenüber den Arbeiten zum Tempelhofer Feld thematisch ganz anders gelagert, aber in der Wahl der inszenierenden Mittel nicht unähnlich. Angelehnt an das Home Movie Disneyland Dream aus den Fünfzigerjahren, das von der United States Film Registry archiviert wurde, zeigt documenta Dream einen Zusammenschnitt verschiedener Amateuraufnahmen von der documenta in Kassel, die von Mitte der Sechziger- bis Ende der Siebzigerjahre entstanden sind. Mit unspezifischen Aufnahmen von Menschen, die sich sowohl auf Freiflächen sowohl des Außengeländes der documenta als auch im städtischen Raum tummeln, bricht der Film jedoch mit den Erwartungen, wirklich etwas von der documenta zu zeigen. Aufnahmen, in denen Ausstellungsräume oder Kunstwerke zu sehen sind, wirken durch den in der typischen Mode der Sechziger und Siebziger gekleideten Besucherstrom fremdartig. Diesen Eindruck verstärkt die Künstlerin zusätzlich durch eine nahezu psychedelisch anmutende Verfremdung der Aufnahmen durch Wolken und Kaskaden von Flüssigkeiten, die, begleitet von sphärischen Klängen, über die Bilder wabern. Obwohl die Künstlerin in das Amateurfilmmaterial selbst nicht eingreift sondern dieses lediglich überblendet, erreicht sie eine ganz andersartige Wirkung dieser Aufnahmen.

Mit Gap Years stößt Loretta Fahrenholz in eine Nische der Pandemie-Erfahrung in Deutschland vor, die nun einen ganzen Raum füllt. Und vielleicht werden soziale alternative Räume wie das Tempelhofer Feld, die versuchen, neue Bereiche der Selbstentfaltung zu finden, künftig zur Regel werden. Von seiner eigentlichen Bedeutung her sieht der Begriff des „gap years“, die spontane Freiheit, welche die Künstlerin in ihren Bildern festgehalten hat, jedoch gar nicht vor. Als wohl überlegte und geplante Auszeit, die sich nahtlos in den Lebenslauf einfügen lässt, folgt das gap year in Wahrheit der kapitalistischen Logik der Selbstoptimierung. Eine Pause zu machen, um produktiver zu werden – es ist auch dieser, hinter der Freizeitidee versteckte  regulierte Zweck, den die Künstlerin aufdeckt. Zu welchem Grad werden Freiräume geschaffen und zu welchem Grad werden sie lediglich gewährt? Diesen wichtigen Gedanken geben die Gap Years mit auf den Weg.

 

Loretta Fahrenholz: Gap Years, 2021/2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz. Foto: Mareike Tocha.

Loretta Fahrenholz: Gap Years, 2021/2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz. Foto: Mareike Tocha.

Loretta Fahrenholz: Happy Birthday, 2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz. Foto: Mareike Tocha.

Loretta Fahrenholz: Gap Years 10, 2021/2022  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz.

Loretta Fahrenholz: Gap Years, 2021/2022. Installationsansicht Kölnischer Kunstverein, 2022  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz. Foto: Mareike Tocha.

Loretta Fahrenholz: Gap Years 15, 2021/2022  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz.

Loretta Fahrenholz: Documenta Dreams, 2021. Filmstill  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz.

Loretta Fahrenholz: Documenta Dreams, 2021. Filmstill  |  Courtesy: die Künstlerin und Galerie Buchholz.