Passend zu der erdrückenden Stadthitze hat der Kölnische Kunstverein mit zwei Ausstellungen eine Art temporäre Oase eingerichtet. Einer gigantischen Pool-Landschaft begegnet man in CAVAPOOL, einer von der Direktorin Nikola Dietrich kuratierten Ausstellung des britischen Künstlers John Russell. In Nervous System hingegen hat der aus Honduras stammende Künstler José Montealegre im Studio des 2. OG eine Art Gewächshaus mit fremdartigen Pflanzen eingerichtet. Diese Ausstellung ist das Abschlussprojekt der kuratorischen Assistentin Miriam Bettin. Auf ganz unterschiedliche Weise erkunden und konstruieren beide Künstler parallele Welten, die sehr eng auf die Architektur des Kölnischen Kunstvereines eingehen. Durch ihre jeweilige Ästhetik und spezifischen Themenschwerpunkte bilden sie damit einen interessanten, wenn vermutlich auch gänzlich unintendierten Anschluss an die ausgetrocknete Umgebung und Klimakatastrophe dieses Jahr.
John Russell ist ein Künstler, der intensiv mit Humor und Anekdoten arbeitet. Viele seiner Arbeiten fungieren als Kommentare zu bestimmten gesellschaftskulturellen Begebenheiten, die durch ihre Spontanität und ihren Witz an Memes erinnern. Als Mitglied der Londoner Künstlergruppe BANK kommentierte Russell in den 2000ern etwa ausführlich Pressetexte von Kunstinstitutionen, um der Kunstwelt ihren übersteigerten Jargon zurückzuspiegeln. Die Zusammenarbeit mit Nikola Dietrich begann, als der Künstler 2021 eine Bodenarbeit in der New Yorker Galerie Bridget Donahue zeigte, die den Fußboden in einen aufbrechenden vulkanischen Schlund verwandelte („Well“ 2021). Dietrich sah in dieser Arbeit eine angemessene Reaktion auf die beginnende Krise und die Umbrüche, welche die Corona-Pandemie in der Kunstwelt auslöste. Im Kölnischen Kunstverein folgen nun in Form eines gigantischen Digitaldruckes, der in Vinylbahnen die gesamte Bodenfläche der Ausstellungshalle bedeckt, blau-grüne Wassermassen auf die Flammen. Das ganze ist eine perfekte Illusion, in der man über sich kräuselnde Wellen, versunkene Ruinen, Klippen, Koi-Karpfen und Seerosen schreitet. Dieses Trompe-l’œil in Superlative schließt sogar den Betonfußboden mit ein, der ebenfalls in Klebefolie nahezu exakt nachempfunden ist.
Der Titel der Arbeit „CAVAPOOL“ referiert auf eine spezielle Mischlings-Hunderasse, die unter anderem aus Pudeln besteht und die in England zur Zeit beliebt ist. Solche skurrilen Cavapool-Hunde, die aus modelliertem Papmarché zwischen Erdgeschoss und 1. Etage überall verteilt sind, treten in der Ausstellung zudem als Guides auf , deren Stimmen im Pressetext festgehalten sind. Das humoristische und, im Blick auf Mensch-Tier Beziehungen, ambigue Potential zu (Haus)Tieren spielt überhaupt eine große Rolle für John Russell. So schweben an Drahtstücken fixierte Fliegen an der Wand am anderen Ende der Wasserlandschaft. („Anti-bee“, 2022). In schwarzen, klebrig anmutenden Kunststoff gegossen, kann es sich bei diesen Insekten, die man normalerweise als unangenehm und lästig empfindet, allerdings um alles Mögliche handeln. Der Künstler kreiert hier eine Art Rorscharch-Test, bei dem die Patent*innen gefragt werden, frei aus zufälligen Tintenklecksen Dinge zu erkennen.
Auf schelmische Weise spielt Russell so in einem Mix aus High- und Low-Art mit dem offenen assoziativen Potential alltäglicher Zeichen. Ein wenig an René Magrittes Serie der Sprachbilder, in welchen der Künstler Signifikat und Signifikanten entkoppelte, erinnern Plakate im Treppenhaus. Auf diesen sind Lebensmittel mit Begriffen abgedruckt sind, die nicht zu ihren gehören oder durch Sprachspiele („Pain“) auch gleichzeitig auf etwas anderes referieren. Im Untergeschoss entdeckt man einen goldig gelb glänzenden Ziegenbock auf einem Podest, der mit Blick Richtung Decke in seiner erhabenen Haltung an einen religiösen Fetisch erinnert („Scapegoat (transfer))“. Durch seine Affinität für Anekdoten interessiert sich der Künstler besonders für die „Verdammung“ des Tieres als „Sündenbock“, das in allen monotheistischen Religionen besteht und höchst unterschiedliche Kulturen sowohl im Okzident als im Orient bis heute prägt. Die Tatsache, dass der Ziegenbock in Köln als Maskottchen des 1. FC Köln einen ganz zentralen Platz einnimmt, hat den Fußballfan Russell dazu angeregt, dieses Thema hier aufzugreifen.
Für den John Russell läuft irgendetwas schief, wenn wir Menschen ein einziges Tier spezifische dafür auswählen, es mit unseren Sünden zu belasten und dann zur vernichten. Als „Läuterung“ für den Ziegenbock hat er daher in Anlehnung an Oscar Wilde’s ikonischen Roman „The Picture of Dorian Gray“ eine Projektionsfläche für das Tier entworfen. Ähnlich wie sich Dorian Gray’s Porträt durch die Aufnahme seiner Sünden verfremdete, kann die Ziege nun die Sünden, mit der sie belastet ist, in ein „Gemälde“ aus Fiberglas, Harz und Acrylfarbe projizieren. In dem etwas märchenhaft gehaltenen Bild sieht man nun konturlose schwarze Schatten, die so etwas wie einen Ziegenkopf vorgaukeln. Wie mit den Fliegen, die zugleich ein berühmtes Vanitas-Motiv in der Kunstgeschichte darstellen, löst John Russell hier spielerisch die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur auf.
José Montealegre hat im Studio des Kölnischen Kunstvereines einen Garten aus kupfernen Pflanzen angelegt, die wie in einem Gewächshaus ordentlich in Reihen auf Podesten verankert sind. Hinter dieser Installation, die zunächst wie eine fantasievolle Beschäftigung mit botanischen Strukturen wirkt, steckt jedoch eine ganze Welt. Anhand seiner Pflanzen-Skulpturen arbeitet der Künstler die in vielen Teilen noch unreflektierte koloniale Vergangenheit Südamerikas auf. Durch eigene künstlerische Übersetzungsversuche greift er dabei die Frage auf, wie sich vergessene Informationen und Weltansichten aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren lassen. José stellt vor allem zur Diskussion, welchen Erkenntniswert der übertragene Inhalt solcher Quellen für die heutige gesellschaftliche Situation hat.
Seine seit 2020 bestehende Werkserie „Páginas“, die aus Pflanzen besteht, die in kunstvoller Handarbeit aus Kupfer gefertigt sind, nimmt ein spezifisches historisches Werk als Ausgangspunkt, das 1628 während der frühen Kolonialisierung Mexikos entstandene Planatarum Animalium et Mimeralium Mexicanorum. Als Archiv erfasst das Buch hunderte einheimische Pflanzen, die damals von einer Expedition erfasst wurden, um sie nach ihrem Potential zur wirtschaftlichen Nutzung zu untersuchen und das für die spanische Krone erstellt wurde. Für Wissenschaftler ist dieses Buch heute ein Rätsel, da sich weder die Namen der Gewächse noch die Zeichnungen existierenden Arten zuordnen lassen. Die Abbildungen gehen teils auf aztekische Maler*innen zurück, ansonsten liegen die genauen Entstehungsbedingungen dieses Buches im Dunkeln. Vor allem aber gibt es ein großes Manko an diesem Werk: die minuziös gesammelten Daten darin sind für Botaniker quasi unbrauchbar, was das Buch damit in großen Teilen unbrauchbar macht.
Doch gerade diese vermeintliche Redundanz macht die Enzyklopädie aus dem 17. Jahrhundert für José Montealegre so wertvoll. Die offensichtlich misslungenen Übertragungen der Pflanzen bieten für den Künstler eine reizvolle Gelegenheit, anhand von eigenen Interpretationen der Abbildungen in Form fragiler Kupferskulpturen die Übersetzungskette weiterzuführen und ins 21. Jahrhundert zu transportieren. Wie Montealegre es schildert, erfordert es eine enorme Beobachtungsgabe und Vorstellungskraft, Abbildungen von Pflanzen, für die es keine Referenz in der Realität gibt, in einem anderem Medium künstlerisch umzusetzen. In den Skulpturen versucht er insbesondere die unglaublichen Details der Zeichnungen der Pflanzen zu berücksichtigen. Diese technische und ästhetische Präzision beeindruckt an den Objekten, die sich in einem Schwebezustand zwischen Fantasie und Realität befinden.
Doch José Montealegre interessiert auch nicht so sehr die reale Flora, die hier von spanischen Eroberern erfasst wurde und zu der man nie wieder gelangen wird. Was den Künstler aus post-kolonialer Perspektive beschäftigt, ist der Prozess der Übersetzung und die damit verknüpften Absichten und Probleme. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist Nova Plantarum ein Beispiel für alle diejenigen Spuren, welche kolonialisierende Prozesse über Jahrhunderte hinterlassen haben und die, wenn auch marginal und misslungen wirkend, ein ultimatives Ziel anstrebten: die systematische Ausbeutung mit Gewalt unterworfener Länder. José Montealgres Serie „Páginas“ ist ein Anstoß, diese Spuren aufzugreifen und nicht als abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit zu belassen. Die Deutungsmacht lässt sich nur aus den Hände der hegemonialen, ex-kolonialen Parteien reißen, wenn man sich diese Geschichte so (rück)aneignet. So poetisch Josés Montealegres mühevolle Beschäftigung mit den Pflanzenabbildungen auch erscheint, ist es diese größere Absicht, die sein Vorhaben als Hondurianer antreibt. Denn wie in den meisten südamerikanischen Staaten ist auch die gesellschaftliche Realität seines Landes tief von dem Einfluss der spanischen Eroberer geprägt.
Die Auffassung vom Boden als Ausgangspunkt für die Selbstwahrnehmung des Individuums im Raum bildet eine Parallele zwischen den Werken von John Russell und José Montealegre. Während Russell in seiner Bodeninstallation eine völlig neue Ebene erschafft, symbolisiert der Einsatz verschiedener Materialen, wie Keramikfließen, Buntglas und Pflastersteine, aus den die Sockel der Pflanzenobjekte gefertigt sind, für Montealegre den Gedanken, dass die eigene Identität immer mit dem Boden, auf dem man steht, verbunden ist. Schließlich fällt der Blick auf Ensembles aus mit Wasser gefüllten bunten Kunststoffschlüsseln, auf deren Wasseroberfläche zarte silberne Blüten treiben. In solchen Schüsseln fängt man in Honduras Regenwasser zum Waschen und Kochen auf. Im Kölnischen Kunstverein warten die Gefäße vergeblich auf Regen. Gemeinsam mit John Russells Atlantis-gleicher Pool-Landschaft stellen beide Ausstellungen so eine Verbindung zur Außenwelt her, die eine sanfte, zugleich aber auch beunruhigende Melancholie auslösen.