Für viele Künstler*innen sind unterdrückte oder ausgegrenzte Identitäten zum Thema geworden. Dabei ist es häufig eine schwierige Entscheidung, individuelle Erlebnisse der Identitätssuche vor dem Hintergrund kollektiver Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob man als Künstler*in dazu ermächtigt ist, für Jene zu sprechen, deren Problemen einen gar nicht unmittelbar betreffen. Die zurzeit im Kölnischen Kunstverein in zwei Einzelausstellungen präsentierten jungen Künstlerinnen Daniela Ortiz und Melike Kara haben in ihren ästhetisch und medial höchst unterschiedlichen Werken künstlerische Strategien gefunden, Entwürfe des Widerstandes für marginalisierte Identitäten zu formulieren. Dabei zeigen sie Unterdrückungsmechanismen auf, wie sie etwa durch das strukturelle Erbe der Kolonialherrschaft und andere Überbleibsel imperialer Macht weiterhin fortbestehen.
Daniela Ortiz – Nurtured by the defeat of the colonizers our seeds will raise
Die Aufarbeitung kolonialer Machtverhältnisse und Kritik weiterandauernder Strukturen bilden heute Gesprächsforen, die der Westen den Angehörigen ehemalig kolonialisierter Gemeinschaften großzügig gewährt. Vormals Unterdrückte dürfen jetzt ihre eigene Stimme äußern. Aber ändert das etwas an den globalen Gefällen zwischen den Parteien? Wer den Werken der peruanischen Künstlerin Daniela Ortiz begegnet, versteht, dass nur die Existenz eines postkolonialen Diskurses allein nicht die Erfahrung der Personen ändert, die durch Praktiken des Kolonialismus und seines andauernden Erbes entmächtigt wurden und weiterhin marginalisiert sind. In enger Auseinandersetzung mit Themen des strukturellen Kolonialismus, der Migration und systematischen Ausgrenzung entwirft die Künstlerin antirassistische und antikoloniale Erzählungen. Dabei gibt sie nicht nur die Namen der Betroffenen und Geschädigten wieder, sondern benennt auch explizit solche Akteur*innen, die in der Gegenwart für Diskriminierung und Unterdrückung verantwortlich sind.
In ihren erzählerischen Werken entwickelt Daniela Ortiz eine fantasievolle Bildsprache, die stilistisch an Sagen, Volkserzählungen, Mythen und Märchen angelehnt ist. So besteht das Hauptwerk der Ausstellung „The Rebellion of the Roots“ (2020) aus einzelnen, auf Holzplatten gemalten figürlichen Szenen, die mit kommentierendem Text versehen sind und entlang zwei Seiten einer Wand präsentiert werden. Drei bis vier Paneele ergeben eine Geschichte, die sich im immer gleichen inhaltlichen Takt weiterentwickelt. In der Rebellion schlagen die Nachkommen der kolonialen Subjekte zurück. Aus der desaströsen Situation, die ihnen von den Kolonialherrschern hinterlassen wurde, entwickeln sie durch die Unterstützung heilender Pflanzen, Bäume und Tiere ihrer Länder und dem Geist ermordeter Opfer und Revolutionäre ungekannte Kräfte, welche die Erben ihrer Widersacher aus dem Weg räumen. Die auf das Wesentliche reduzierten Darstellungen, welche nicht selten grausame Geschehnisse beinhalten, bringen eine Vielfalt stilistischer und kunsthistorischer Referenzen mit. Die simple, stark narrative Malweise erinnert an indigene Volkskunst, wie sie häufig in der Selbstermächtigung eingesetzt wird. In den drastisch gestischen Abbildungen finden sich ebenso Anlehnungen an handgezeichnete Karikaturen oder Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert wieder. Die Darstellung „magischer“ Pflanzen sowie das Topos der wiederkehrenden „Heilsgeschichten“ in Daniela Ortiz‘ Erzählungen scheinen christlicher mittelalterlichen Handschriften entnommen zu sein. In „The Rebellion of the Roots“ fließen so verschiedene Darstellungstraditionen zusammen, deren ambigue, in ihrer Herkunft im Einzelnen nicht nachverfolgbare, rätselhafte Fusion den wesentlichen Reiz der Arbeit ausmacht.
In Daniela Ortiz‘ Erzählungen lassen kongolesische Mütter, welche von der Ntundulu Frucht gegessen haben, deren Wurzel genährt war vom Geist des unter Komplizenschaft belgischen Militärs ermordeten Premierministers Patrice Lumumba, widerstandsfähige Jugendliche heranwachsen. Diese reißen in Belgien die Statue Leopolds des I. nieder und stürzen so das weitergeführte Regime aus der Kolonialzeit stammender Missstände. In einer anderen Geschichte wässern die Tränen der Mapuche, Selk’nam, Sans und Zulu Völker, welche für die Zurschaustellung in Zoos und auf Jahrmärkten entführt wurden, eine „antikoloniale“ Kartoffelsorte, an der dann der Direktor der FRONTEX Agentur zum Schutz der europäischen Aussengrenzen Fabrice Leggeri beim Essen erstickt. In einer Einrichtung in Spanien internierte Migrantenkinder werden durch einen Vogel befreit, der einen Samen fallen lässt, aus dem ein die Mauern des Centers überrangender Talha Baum wächst. Dieser Talha Baum trägt die Widerstandskraft des Volkes der Sahrawi in sich, die in der Westsahara ebenfalls territorialer Verdrängung unterworfen sind. Aus den entkommenen Kindern geht eine Revolte hervor, welche die DGAIA, die Generaldirektion für Kinder und Jugendliche in Barcelona, niederbrennt. Und Mitglieder*innen des Klerus leiden an einer ewig andauernden Wachheit, nachdem sie Kaffe von einem Kaffeebaum getrunken haben, der auf den Gräbern der misshandelten Kinder indigener Familien gewachsen ist.
Diese mit wenigen Figuren comichaft illustrierten Erzählungen mögen auf den ersten Blick simpel erscheinen. Doch die Künstlerin bringt in diesen schlicht komponierten Sequenzen ein dichtes Netz kolonialer, rassistischer und anti-migrantischer Bezüge ein. Diese weisen nicht nur wiederholt auf konkrete Akteur*innen der bestehenden Vorherrschaft weißer, westlicher Länder über die ehemals Kolonialisierten hin. Die Künstlerin richtet dabei auch den Fokus auf den Raub und die Aneignung von Pflanzen und Tieren zur Zeit der Kolonialherrschaft. Durch verschiedene Verweise auf die im 19. entstehenden großen Gewächshäuser aus Glas und Zoos in europäischen Metropolen und für den Handel von Tieren und Menschen durch Persönlichkeiten wie Carl Hagenbeck, macht Daniela Ortiz hier auf eine Facette des Kolonialismus aufmerksam, der normalerweise weniger unter dem allgemeinen Radar steht, durch das Weiterbestehen dieser Orte als viel frequentierte Attraktionen aber kaum kritisch betrachtet wird.
Das erzählerische Prinzip der Rebellion durch die Umkehr der Verhältnisse tauch erneut in dem anderen malerischen Werk der Künstlerin „Samuel and Naeseb, a resistance Story in Seven Pranks“ (2021) auf. Inspiriert von der Geschichte von Max und Moritz und ihren sieben Streichen, begehen in einer Serie von fünfzehn mit Öl auf Leinwand gemalten Bildern, die an Stangen aufgehängt wie Wäsche im Raum schweben, zwei namibische Brüder ebenfalls sieben Faxen. In diesen locken die Kinder insbesondere solche historischen und lebenden Personen in trickreiche Fallen, welche für die bevölkerungsreduzierenden und Rechte der Reproduktion des globalen Südens beschneidenden Programme zuständig waren und sind. Mit seinem an ein klassisches Kinderbuch angelehntem Format beschäftigt sich „ABC of Racist Europe“ (2017) wiederum mit Formen des antikolonialen Widerstandes in der Gegenwart. Indem es zu jedem Buchstaben des Alphabets typische Begriffe vorschlägt, die sowohl in der Sprache der Unterdrückung als auch der des gegenstehenden Aktivismus genutzt werden, bildet das mit illustrativen Collagen ergänzte Werk eine Art Bildungsprogramm, was auf eine spielerische Weise die komplexen Beziehungen zwischen dem aktuellen Migrationskontrollsystem und seiner Verbindung in der Kolonialität thematisiert. Die Ausstellung schließt mit einer Präsentation von Puppen und einem Bühnenbild aus einem von der Künstlerin geschriebenen Spiel „The children are not of the Wolf“(2021), welches sich auf die Praxis der Indoktrinierung von Kindern in speziellen Schulen während des Faschismus in Italien bezieht. In einem weiteren Sinn hinterfragt das Stück die in unseren Gesellschaft weitgehend tolerierte Autorität des Staates, Kinder in seine „Obhut“ zu nehmen, die vielfach von kolonialen Mächten missbraucht wurde und heute noch in der Kontrolle von Einwanderern in Amerika praktiziert wird.
Wie auch in „The Rebellion of the Roots“ wirken viele Handlungsstränge in Daniela Ortiz‘ Werken wie eine Utopie der Unterdrückten. In den vordergründig märchenhaften Geschichten finden die Protagonist*innen Verbindungen zu jenen Identitäts- und Kraftlinien, welche durch die Kolonialregime durchtrennt und bis heute unterdrückt werden. Dabei deutet der wiederkehrende Einsatz magischer oder unnatürlicher Kräfte auch auf das Weiterwirken von strukturellen Machtgefällen, die mit natürlichen Mitteln kaum zu besiegen sind. Die Arbeiten illustrieren Zusammenhänge, welche irgendwo zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen. Die Erzählungen entziehen sich so zeitlicher Kategorien, welche im hegemonialen westlichen Diskurs gerne angewandt werden, um Ereignisse in die Vergangenheit zu schieben und die Gegenwart nach den eigenen Maßstäben zu gestalten. Der Grund, warum uns die Bildergeschichten so fremd erscheinen, ist, dass sie eine Erzählung der Kontinuität im Sinne der Geschichte der Kolonialisierten und Ausgegrenzten erzählen, in der der Westen keine Handlungsmacht mehr besitzt. Daniela Ortiz regt mit ihren fantastischen Sagen dazu an, diese inneren Barrieren zu durchbrechen, welche wir im Westen in uns tragen und uns mit Fragen der Kontinuität von Kolonialismus und deren Auswirkungen auf die Gegenwart auseinanderzusetzen.
Melike Kara – Nothing is Yours, Everything Is You
Der Titel von Daniela Ortiz‘ Hauptwerk „The Rebellion of the Roots“ trifft in besonderer Weise auch auf das Werk der in Köln geborenen Künstlerin kurdischer Abstammung Melike Kara zu. In ihren Arbeiten spürt die Künstlerin dem kulturellen Erbe ihrer Familie nach. Dabei skizziert sie fragmenthaft die Linien einer Tradition, zu der nicht nur sie selbst in ihrer Generation fast vollständig die Verbindung verloren hat, sondern für die es durch die fehlende Anerkennung des Volkes der Kurd*innen überhaupt gar keine offiziell festgehaltene Geschichte gibt. In einer einnehmenden Rekonstellation und Transformation von Bildern ihres persönlichen Archives nimmt Melike Kara sich somit einer fast vergeblichen Aufgabe an: dem Entwurf von Repräsentationsformen und Modi der Erinnerung für das kurdische Erbe ihrer Familie. Die im Kölnischen Kunstverein zu sehenden Installationen aus abstrakten Malereien, collagierten Fotografien und Videos ertasten Möglichkeiten zur Schließung einer Lücke in der Identität einer Volksgemeinschaft, für die es kein etabliertes Narrativ gibt.
Im Riphahnsaal in der ersten Etage begegnet man in einem leicht verdunkeltem Raum einem Parcours aus aufgestellten Wänden mit projizierten schwarz-weiß Videos und großformatigen Malereien, auf denen sich windende, jeweils in der Mitte der Leinwand spiegelnde Gebilde aus leuchtenden Farblinien zu sehen sind. Der Fussboden um die raumteilenden Elemente ist mit vergrößerten, ebenfalls schwarz-weißen Fotografien bedeckt, deren Oberfläche mit weißer Bleiche behandelt wurde und deren Motive somit nicht mehr klar erkenntlich sind. Melike Kara ist bekannt geworden durch ihre gemäldegleichen Malereien von menschenähnlichen Wesen mit unlesbarer Mimik, die in ambigue, mysteriöse Handlungen und Gesten verschränkt sind und deren Absichten stets verschlossen bleiben. Markante Augenbrauen und mandelförmige Augenpartien ließen schon damals an die Entlehnung von Stilelementen orientalischer oder islamischer Kunst denken, doch blieb diese Brücke hin zu der eigenen kulturellen Tradition der Künstlerin hier noch Spekulation. Was diese monumentalen Gemälde bereits mitbrachten, war die Erforschung einer uneindeutigen, sich unter dem strengem Blick der Gemeinschaft in ständiger Verhandlung befindenden Identität, sowie die Einbringung mystischer Elemente. Beide Aspekte, die Suche nach den Bedingungen, unter denen Identität kollektiv wie individuell entsteht sowie die Nachspürung spiritueller Verbindungen und Überlieferungen in dieser Suche, formen nun den konstituierenden Rahmen bei ihren jüngsten Arbeiten.
Unter diesen bilden die übertünchten Fotografien der Rauminstallation „where we meet“ (2021) den Schlüssel zu Melike Karas künstlerischen Intentionen. Seit einigen Jahren baut die Künstlerin ein Archiv aus teils viele Jahre zurückliegenden Familienfotos auf, die sie von Verwandten und Bekannten anfragt. Ergänzt werden diese Bilder mit persönlichem Bezug durch Bildmaterial über Brauchtum, Trachten, Religion und Kultur verschiedener kurdischer Stämme aus der Türkei, Syrien, Iran und Irak. Das Bleichen der Bilder hat den Effekt, das die in ihnen festgehaltenen Personen und Ereignisse unspezifisch werden. Zwar lässt sich das Fotografierte grob erkennen, etwa die Anzahl der Personen, ihre ungefähre Umgebung und einzelne Dinge. Der Grund der Zusammenkünfte oder das genaue äußerliche Erscheinungsbild lassen sich jedoch kaum mehr nachvollziehen. Durch ihre Eingriffe in die Fotografien verleiht Melike Kara den Aufnahmen so den Anschein verblasster Erinnerungen, in denen jegliche Zeitlichkeiten aufgehoben sind. Als verschwommene Bilder, die nichts mehr darüber erzählen, wann und warum etwas stattgefunden hat, passen sie in keine lineare Erzählung und sind dennoch in ihrer Präsenz noch nicht ganz aus dem Gedächtnis verloren.
Dieser verschwommene Zustand von Erinnerungen in der Schwebe, die kein zu Hause haben, bildet die Grundstimmung, welche sich über die verschiedenen Werksgruppen der Ausstellung erstreckt. Die mit Ölstiften der jeweils gleichen Farbgruppe gezeichneten malerischen Kompositionen befinden sich durch Körper und Linien, die sich scheinbar von abstrakten, geometrischen Mustern ins Figurative wandeln, ebenfalls in eine Art Schwebezustand. Die ornamentalen Elemente lassen zusätzlich an symbolische Verwandlungen denken, als würden in den Bildern besondere Kräfte oder Gottheiten geboren. Knüpfmuster von Teppichen und Textilien verschiedener kurdischer Stämme, für welche diese Formen ein visueller Ausdruckscode ihrer kollektiven Identität sind, sind die Inspirationsgrundlage der Malereien. Diese entziehen sich durch die wie in Transformation eingefrorener Formen, die an archaische Götterdarstellungen ebenso wie humanoide Roboter erinnern, jeder zeitlichen Zuordnung. Und es ist gerade diese mit einem spirituellen historischen Erbe verbundene Ambiguität, welche die Bilder zu potentiellen Vermittlern auf der Suche nach einer festhaltbaren kurdischen Identität macht.
Aneignungen, Archive, Rekonfigurationen und Collage spielen in Melike Karas Werk eine große Rolle wie nie zuvor. Wie in der auf drei Leinwänden projizierten Videoinstallation „calling together“ (2021) verbinden sich dabei individuelle wie kollektive Wahrnehmungsmomente in eine nicht mehr entwirrbare visuelle Erzählung. Filmaufnahmen einer kargen und bergigen, scheinbar endlosen Landschaft rauschen vorbei, immer wieder werden Personen bei Zusammenkünften in einem dörflichen Umfeld gezeigt. Auch einer Beerdigung folgt die Kamera, die zwischen wilden Tälern und Flüssen hin und her schwankt, als würde sie etwas suchen. Immer wieder wird der Film überblendet von Fotografien verschiedener Personen im häuslichem Umfeld, die vermutlich aus dem familiären Umfeld der Künstlerin stammen. Manche Bilder zeigen typische kulturelle Gewohnheiten, wie die Zubereitungen von traditionellem Essen oder Kaffee. Unsicher bleibt, für wen genau diese Bilder sprechen. Eine hörbare, jedoch für den/die deutsche Betrachter*in unverständliche Stimme erklingt durch die Tante der Künstlerin, die von Melike Kara verfasste Gedichte auf kurdisch vorliest.
Sowohl die Videoinstallation als auch die im Studio des Kunstvereins zu sehende Wandinstallation in Form einer Tapete aus hunderten collagierten und erneut mit Bleiche übertünchten Bildern „vaster than sky“ (2021) deuten darauf hin, dass eine lineare, eindeutige Erzählung oder Nacherzählung der familiären Geschichte und deren Einbettung in das kurdische kulturelle Erbe letztendlich nicht dem entsprechen, was Melike Kara versucht darzustellen. Die Besonderheit an „vaster than sky“ ist, dass hier nicht Familienfotos die Hauptrolle spielen, sondern ein in seiner Fülle schier endloser Fundus an gefundenem fotografischen wie illustrativem Material. Mit Abbildungen von kurdischen Trachten, Tänzen, Schmuck, Körperbemalungen, Kunsthandwerk und Ritualen, die sich in der Bildquelle dabei fast nie wiederholen, bildet das Gesamtwerk damit so etwas wie ein unverbundenes und hierarchieloses Archiv der kollektiven, gemeinschaftsübergreifenden Geschichte der Kurden, welche, bevor sie überhaupt geschrieben wurde, schon wieder verblasst. Vor der Tapete gestapelte, ebenfalls mit Bildern überzogenen Kissen und Teppiche, die in der kurdischen Tradition als Sitzmöbel genutzt werden, sprechen eine Art Sehnsucht aus, einen Raum zu finden, in dem alle diese Flut und Vielfalt gesammelter historischer Eindrücke in eine gemeinsame Form gebracht werden könnte.
Die Künstlerin spricht so in ihren Arbeiten von der vergeblichen Bemühung, der eigenen Identität in einer kollektiven Identität nachzuspüren, für die es überhaupt keine gemeinschaftliche Artikulation gibt. Dabei berichtet sie nicht nur von den Kurden, denn ihr Werkskomplex lässt sich auf viele marginalisierte Gruppe übertragen, deren Verbindungen untereinander immer schwächer werden. Melike Kara stellt dabei unmittelbar die Frage in den Raum, was Kunst für solche verblassenden Geschichten und Identitäten leisten kann und wie weit die individuelle Suche in ein kollektives Streben übersetzt werden kann. In ihrer auf einigen Fotos der Tapete erscheinenden Großmutter, welche als eine der Wenigen in der Familie als Tochter eines Schamanen noch eine Verbindung zu kurdischen Riten und Brauchtum hatte und welche die Künstlerin bis zu ihrem Tod begleitet hat, hat Melike Kara bereits eine erste Heimat gefunden. Der Titel der Ausstellung „Nothing Is Yours, Everything Is You“ scheint diese Erfahrungen zusammenzufassen: Auch wenn Dir nichts gehört, Du nichts als deinen Besitz hast, ist doch Alles in Dir. Eine innerliche, vom Außen letztendlich unabhängige Ganzheit, der Melike Kara in jedem ihrer Werke näher kommt.