„Outsider Art ist Kunst von Autodidakten oder naiven Kunstschaffenden, die wenig oder gar keinen Kontakt zur Mainstream-Kunstwelt oder zu Kunstinstitutionen [haben]“1. So lautet die gängige Definition der sogenannten „Outsider Art“, ein Begriff, der 1972 vom britischen Kunsthistoriker Roger Cardinal geprägt wurde und das englischsprachige Pendant zu Jean Dubuffets „Art Brut“ aus den Vierzigerjahren bildet. Seit nahezu einhundert Jahren ist also anerkannt, dass es ein Kunstschaffen außerhalb der eigentlichen Kunstwelt gibt. Da ihre Werke mutmaßlich einem naivem, „natürlichem“ Drang entsprangen, wurde der „Primitivismus“ der „Außenseiter“ oft idealisiert und als strategisches Gegenprogramm zur hierarchischen „offiziellen“ Kunstwelt positioniert. Bis heute verzerrt der Begriff der Outsider Art die Aufarbeitung des schöpferischen Nachlasses zahlreicher Künstler*innen, die wegen ihrer Biografie oder der Attestierung einer (vermeintlichen) geistlichen Beeinträchtigung zunächst aussortiert und später gefeiert wurden.
Die Direktorin des Kölnischen Kunstvereines Nikola Dietrich und Susanne Zander, Inhaberin der Galerie Delmes&Zander, sind der Meinung, dass es an der Zeit ist, mit den Fehlannahmen und Diskriminierungen rund um die „Außenseiter“aufzuräumen. Im Rahmen der Gruppenausstellung GAMES OF NO GAMES. Anleitung zum beschwingtem Gehen, die elf als „Outsider“ etikettierte Künstler*innen zeigt, stellen die Kuratorinnen zur Diskussion, ob man heute überhaupt noch von Outsider Art sprechen kann. Nicola Dietrich und Susanne Zander vertreten die Haltung, dass nach gegenwärtigem Kenntnisstand und aufgrund der wachsenden Akzeptanz „abweichender“ Lebensläufe und Identitäten, die Praxis, in Bezug auf den Kunstbetrieb zwischen einem „Innen“ und „Außen“ zu unterschieden, überholt ist. Anhand ihrer Positionen zeigt die Ausstellung vielmehr, dass es bewusste Entscheidungen waren, welche die Künstler*innen vom Kunstbetrieb ausschlossen und dafür sorgten, dass die Betroffenen keine Netzwerke und Supportsysteme aufbauen konnten. Die Begegnung mit den einzelnen Werken zeigt, wie willkürlich die Kategorisierung dieser Personen als Außenseiter oft war.
GAMES OF NO GAMES versucht konzeptuell zwei zentrale Vorhaben in Einklang zu bringen. Zunächst besteht die Absicht darin, ein Kennenlernen von Künstler*innen zu ermöglichen, die teils noch nie institutionell ausgestellt worden sind beziehungsweise erst seit Kurzem Aufmerksamkeit erhalten. Des Weiteren soll anhand der Darlegung der jeweiligen Mechanismen der Ausgrenzung überprüft werden, ob der Begriff der Outsider-Art mit seinen gängigen Kategorien überhaupt noch angemessen ist. Bereits in der Begegnung mit den ersten Künstler*innen wird deutlich, dass sich die Kunstschaffenden ganz unterschiedlicher Medien und Ausdrucksweisen bedienen und auch sehr diverse Themen bearbeiten, die sich nicht vereinheitlichen lassen. In Fall von Namen wie Adelhyd van Bender, Lee Godie oder Margarethe Held, die alle umfassende Oeuvres schufen und ihr Leben der Kunst widmeten, zeigt sich, dass die üblichen Mantren, mit denen die Outsider Art vom etablierten Kunstfeld abgesondert wird, wie spontan vs. geplant, angeboren vs. erlernt, naiv vs. anspruchsvoll, oder etwa primitiv vs. modern, ihre Werke nicht einfach bloß unzureichend beschreiben. In den meisten Fällen erweisen sich diese Kategorisierungen sogar schlichtweg als falsch.
Die amerikanische Künstlerin Lee Godie (* 1908 in Chicago, USA, † 1994 in Plato Center, USA) zum Beispiel, die ab ihrem sechzigsten Lebensjahr wahrscheinlich freiwillig auf den Straßen von Chicago lebte, wo sie gefundene Materialien und Gegenstände als Maluntergründe für Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle benutzte, war eine profilierte Künstlerin, die sich sehr bewusst ihr Umfeld und ihre Kund*innen aussuchte und von einer Galerie vertreten wurde. Ihre in wenigen Strichen gezeichneten Porträts, welche unter anderem Kissenbezüge schmücken, begeistern durch ihre einfühlsame Authentizität, die man heute noch in den Bildern von Magdalena Kita wiederfindet. Die nachkolorierten Selbstporträts, die Lee Godie in einem Passfotoautomaten schoss und in denen sie in verschiedene Rollen schlüpft, erinnern stark an die Transformationen von Cindy Sherman.
Heute würde man Lee Godie nur aufgrund ihres Lebenswandels wahrscheinlich nicht mehr als Outsider-Künstlerin bezeichnen. Wie fehlleitend die gängigen Kriterien oft sind, die Künstler*innen als „Außenseiter“ qualifizieren, sieht man auch am Werk von Margarethe Held (* 1894 in Mettingen, † 1981 in Berlin). Die Künstlerin, die schon früh berufstätig war und ihrer Zeit damit ein Stück voraus, verlor ihren ersten Mann nach wenigen Jahren. Nachdem sie in der Zwischenkriegszeit in Berlin eine Kinoagentur betrieb, intensivierte sich in den Fünfzigerjahren ihr Interesse an okkulten Praktiken zur Kontaktaufnahme mit Verstorbenen. Aus ihren Begegnungen während des spiritistischen Dialoges entwickelte Margarethe Held einen eigenen Werkskosmos aus Toten, Geistern und Göttern, den sie in hunderten Bleistift- und Farbstiftbildern festhielt. Die Porträts der „guten gestorbenen Wesen“, die alle in Profilansicht bis auf Schulterhöhe gezeichnet sind und lächelnde Gesichter mit großen Augen und ausladenden, dunklen krausen Haaren zeigen, weisen eine bestechende stilistische Stringenz auf. Nikola Dietrich wirft daher die Frage auf, ob die Geschichte mit dem Geisterkontakt nicht auch eine Maskierung war, welche die Künstlerin wählte, um in einem frauenfeindlichen Kunstumfeld überhaupt tätig sein zu können, ohne Anfeindungen zu befürchten.
Der Status des Outsiders entpuppt sich in GAMES OF NO GAMES so mehr und mehr als eine zweifelhafte Position, zu der niemand von Anfang an verdammt ist, die aber auch nicht zum Kokettieren einlädt. Wie die Kuratorinnen klarstellen, waren es meistens gesellschaftliche Ausschlussvorgänge, durch die sich Künstler*innen unfreiwillig in der Kategorie der Outsider wiederfanden und an welche sich die Marginalisierung im Kunstfeld anschloss. Albert Leo Peil (* 1946 in Blankenfelde, † 2019 in Lauf an der Pegnitz) etwa schuf auf der Grundlage minuziöser Tuschestriche, aus denen er überbordende Muster komponierte, ein gigantisches Werk an Zeichnungen. In diesen finden sich markante, meist männliche Charaktere wieder, die eine Art spielerische Camouflage betreiben und denen Miederkleidung homoerotische Züge verleiht. Zum Aussenseiter der Kunstwelt wurde Albert Leo Peil, da an seinem Wohnort keine Öffentlichkeit für sein Schaffen existierte und er sich seinen Lebensunterhalt außerhalb der Kunst verdienen musste. Heute, wo viele Künstler*innen verschiedene Jobs haben und um Aufmerksamkeit kämpfen, würde man Peils Schicksal gänzlich anders bewerten.
In der Begegnung mit weiteren Künstler*innen, von denen der Großteil bereits verstorben ist und zu Lebzeiten nie Anerkennung erlebt hat, wird mehr und mehr deutlich, dass es sich bei der Outsider Art nicht um eine wohlwollende Kategorie handelt, mit der versucht wird, der Leistung von Sonderlingen außerhalb des Kunstbetriebes gerecht zu werden. Wie Nikola Dietrich und Susanne Zander betonen, geht der Begriff der Outsider Art mit Kriterien einher, die nichts anderes als pure Diskriminierung bedeuten. Einer dieser Punkte betrifft die voreiligen Schlüsse, die immer wieder zwischen dem seelischen Zustand einzelner Künstler*innen und ihrem Schaffen gezogen werden. Die Misskonzeption liegt darin, dass oft automatisch ein schöpferischer Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und dem Werk gesehen wird. Anstatt davon auszugehen, dass beide Faktoren parallel existieren, wird die seelische Krankheit zur primären Quelle der Kreativität erhoben. Dies ist das wohl problematischte Klischee der Outsider Art.
Dieses Vorurteil eines obsessiven, krankhaften Schaffensdranges diskutiert die Ausstellung etwa am Werk des Österreichers August Walla (* 1936 in Klosterneuburg, Österreich, † 2001 in Maria Gugging, Österreich), das mittlerweile sehr bekannt ist. August Walla führte ein abgeschiedenes Leben, das von Kindheit an von einem außerordentlichen Impuls, seine Umgebung künstlerisch zu bearbeiten, geprägt war. Seine Bildträger bedeckte er lückenlos mit mythologischen Figuren, Symbolen und Schriftzeichen, denen er ein eigenes System unterlegt hatte, projiziert in ein „Ewigkeitenendeland“. GAMES OF NO GAMES zeigt zwei großflächige Malereien des Künstlers, die durch ihre Expressivität und den starken Duktus an Street-Art und Punk-Kultur erinnern. Der grinsende Teufel mit doppelten Geschlechtsteilen entstammt allerdings nicht der christlichen Ikonografie, genauso wenig wie Hammer und Sichel oder Hakenkreuze politische Symbole sind. Sich berufend auf eine Geschichte, der zufolge er von einem Nazi-Mädchen zu einem „russischen Knaben“ umoperiert wurde, verarbeitete August Waller in diesen Bildern das eigene Hadern mit seiner Identität. Diese Tatsachen werfen ein anderes Licht auf seine seltsame Parallelwelt. August Waller wurde zum Aussenseiter, nicht allein weil er unverständliche Dinge malte, sondern weil es für ihn als jungen Mann einfach keinen Raum für ein freies und ungezwungenes Ausleben seiner Geschlechtsidentität gab.
Ein weiterer Kandidat, der aufgrund einer vermeintlichen geistigen Beeinträchtigung von der Kunstwelt ausgeschlossen wurde, ist Adelhyd van Bender (* 1950 in Bruchsal, † 2014 in Berlin). Der Künstler, der 1976 nach vier Semestern von der Hochschule der Künste in Berlin zwangsexmatrikuliert wurde, hielt seinen jahrelangen Kampf gegen eine gerichtliche Vormundschaft, der er unterstellt war, in hunderten Zeichnungen fest. Wie in einer mathematischen Geheimsprache „kommentierte“ Adelhyd van Bender mit wiederkehrenden Zeichen und Grafiken behördliche Briefe, deren genormte Formulare er als Hintergrund für komplexe zeichnerische Assoziationsketten benutzte. Wenn auch sein Einfluss auf die Ämter gering blieb, schuf der Künstler durch seine grafischen Erweiterungen der vorgefundenen Lage eine Ordnung, die seinem Denken entsprach. Erst langsam sticht hinter der obsessiv wirkenden Auseinandersetzung mit der Vormundschaft die Leistung dieses völlig isolierten Künstlers hervor, eine eigenständige künstlerische Sprache zum Protest gegen staatlichen Freiheitsentzug entwickelt zu haben.
„Außenseiterkunst zeigt oft extreme mentale Zustände, unkonventionelle Ideen oder ausgeklügelte Fantasiewelten.“2 Pauschale Aussagen wie diese sorgen dafür, dass Künstler*innen, die der Kategorie der Outsider Art zugeordnet wurden, oft mit einer Pathologisierung ihres Werkes zu kämpfen haben. Die Kuratorinnen von GAMES OF NO GAMES plädieren dafür, psychischen Problemen eine weniger herausstechende Rolle zuzuordnen und mehr die künstlerischen Beiträge zu bewerten. So begann Dietrich Orth (* 1956 in Kaiserslautern, † 2018 in Ebersbach), der sich wegen schwerer Psychosen immer wieder in psychiatrischer Behandlung befand, während der Therapie mit dem Malen. Aus dieser Tätigkeit entwickelte er bald eine eigene Bildsprache in Form sogenannter „Anwendungsbilder“. Wie in der Ausstellung etwa am Beispiel von Beinpaaren zu sehen, die auf speziell entworfenen Schuhen einen bestimmten Gang verfolgen, werden die Betrachter*innen aktiv in den Bildprozess miteinbezogen. Für seine Idee, Bilder zu entwickeln, die mittels einfacher, oft abstrakter Bildkompositionen konkrete Anregungen und Impulse zur Umsetzung transportieren, wird Dietrich Orth seit ein paar Jahren wieder geschätzt.
Während Kunstweltakteur*innen gegenwärtig hart daran arbeitet, das Erbe angeblicher Outsider-Künstler*innen ins recht Licht zu rücken und ihnen die kunsthistorische Bedeutung zu verleihen, die ihnen zusteht, sind es zeitgenössische Künstler wie der vielfach international ausgestellte Amerikaner William Scott (* 1964 in San Francisco, USA), welche die Kategorie der Außenseiter langsam aber stetig zum Bröckeln bringen. Auf meist blauem Hintergrund porträtiert William Scott lächelnde afroamerikanische Personen aus Politik, Sport und Showbusiness sowie aus seinem privaten Umfeld, die er als Vertreter*innen einer besseren und gerechteren Welt sieht, an deren Eintreffen er fest glaubt. Versehen mit ermächtigenden und religiösen Sprüchen, ist William Scotts Werk ein Manifest für „Black-Pride“, Gleichberechtigung und Bürgerrechte, dem es, wie zu sehen in einer Reihe von Selbstporträts, in denen der Künstler in andere Rollen schlüpft, jedoch nie an Humor und Introperspektive mangelt. Die Tatsache, dass William Scott, der zuletzt im LACMA Los Angeles und Museum of Modern Art San Francisco gezeigt wurde, in einem Atelier für Künstler*innen mit Behinderung arbeitet, stellt für die Rezeption seiner Arbeiten keine wesentliche Information mehr dar.
In GAMES OF NO GAMES erscheint der Begriff der Outsider Art so immer mehr wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Wie man lernt, wurden Werke als Outsider Art bezeichnet, weil es an Flexibilität, Alternativen und auch Wissen fehlte, um diese Kunst auf eine präzisere Art und Weise zu beschreiben und korrekt im übrigen Kunstfeld einzuordnen. Zweifellos haben Kunsthistoriker wie der Psychiater Hans Prinzhorn, der in einer umfassenden Studie 1922 erstmals die Werke von Menschen in psychiatrischer Behandlung zusammenfasste und analysierte, viel für ein erweitertes Kunstverständnis geleistet. Letztendlich muss man sich jedoch einer Sache bewusst sein: am meisten dient der Begriff der Outsider nicht einem besseren Kunstverständnis, sondern jenen Personen und Entitäten, die als „Insider“ den Zugang zum Kunstbereich reglementieren. GAMES OF NO GAMES nimmt sich vor, mit dieser Praxis aufzuräumen.
1,2 https://www.hisour.com/de/outsider-art-21669/