RAW—KIT – Kunst in Tunnel

Noch bevor überhaupt ein Bild entsteht, bietet die Fotografie reichlich Material zur Spekulation. Im KIT Düsseldorf widmen sich fünf Künstler*innen in der Ausstellung RAW diesem verborgenen Ursprungsgebiet des Fotografischen. Nicht das fertige Bild, sondern dessen Rohdaten und die mechanischen Komponenten der Bilderzeugung dienen Ulrike Kazmaier, Dylan Maquet, Sabrina Podemski, Johannes Raimann und Moritz Riesenbeck als Inspiration für ihre Werke, die sich – als Skulptur, Malerei oder Installation– dennoch auf Prinzipien der Fotografie beziehen. Auf die ein oder andere Weise stellen alle Künstler*innen, die mehrheitlich an der Kunstakademie Düsseldorf studiert haben, gängige Vorstellungen von Fotografie in Frage. Indem sie eine offene Auseinandersetzung mit dem Medium wählen, die analoge und digitale Bildtechniken gleichwertig behandelt, schließen sich die Künstler*innen auf ihre eigene, unbeschwerte Weise dem Diskurs über das post-fotografische Zeitalter an.

Während sich viele Debatten in Begriffsdefinitionen verrennen, gehen die Künstler*innen von RAW sozusagen „back to the roots“, zurück zu den Ausgangsbedingungen und -materialien der Fotografie. Was sie interessiert, ist nicht so sehr das Indexikalische – der Bezug zwischen fotografischem Erzeugnis und Wirklichkeit – sondern die Frage, unter welchen Konstanten ein Bild erzeugt wird. Es sind diese teils sichtbaren, teils unsichtbaren Parameter, die in die Werke einfließen. Johannes Raimann ist fasziniert von der Fotografie, insbesondere die rechnerischen Variablen und technologischen Komponenten, die ein Bild entstehen lassen, beschäftigen ihn. Tief in der Kamera verborgene Prozesse und Ausgangsstoffe werden zu Grundlagen seiner Objekte und Videoarbeiten. So thematisiert das Video Scharfzeichner (2023) anhand einer Kamerafahrt über Tabellen, Diagramme und Fotografien das Prinzip der Auflösung des Bildes und der Kameraschärfe. In strikter schwarz-weiß Optik gehalten, entsteht zu elektronischen Klängen ein poetisches Duett, in dem sich fotografische Technik und menschliche Wahrnehmung annähern.

Die Objekte, die Johannes Raimann in Anlehnung an Bausteine der Fotografie schafft, sind unglaublich exakt, glänzend und irgendwie überirdisch. Sie versetzen einen in ein NASA-Raumfahrtlabor, dabei lassen sich sämtliche Strukturen der Werke auf Bauteile oder Schemas zurückführen, die in unserem Alltag eine Rolle spielen, sobald wir mit digitaler Kameratechnik ein Bild erzeugen. Sensor_03 (2023), spiegelnde, grünlich glänzende Oberflächen, die von schwarzen Rahmen umgeben werden, stellen stark vergrößerte Bildsensoren dar. Dieses winzige „Herz“ der digitalen Bilderzeugung, das Teil einer komplexen Architektur aus Mikrolinsen, Farbfiltern und Siliziumträger ist, hat Johannes Raimann abfotografiert und aus 60 bis 100 Einzelaufnahmen neu zusammengesetzt. Glas, Schlagmetall und Lack sind die Grundkomponenten des Bayer_Sensors (2023), ein ebenso synthetisch-schimmerndes Flachobjekt, das auf Filterkomponenten verweist. Essenzielle Rohstoffe der digitalen Fotografie werden somit zu Ausgangsmaterialien von reliefartigen Werken, deren scheinbar abstrakte Elemente erneut auf den fotografischen Prozess verweisen. Das über Eck gehängte Werk Digital–camera (2023) illustriert anhand gruppierter, stark schematischer Formen aus Glas, Titan und Siliziumwafern mit Oxidschicht, die jeweils Bauteile – Linsenelemente, Blende und Dioden – repräsentieren, die Funktionsweise einer digitalen Systemkamera.

Johannes Raimann entführt die Betrachter*innen mit seinen abstrakt wirkenden und dennoch sehr konkreten minimalistischen Werken auf ein rätselhaftes Terrain, auf dem er dennoch einen großen Widerspruch löst: immaterielle digitale Bilder werden auf ihre materiellen Ursprünge zurückgeführt. Ulrike Kazmaier, eine weitere Künstlerin von RAW, deren Skulpturen und Installationen wie die von Johannes Raimann über die gesamte Fläche des KIT verteilt sind, findet diese Idee der materiellen Ebene hinter dem digitalen Prozess ebenfalls sehr reizvoll. Die vier Striche des Finders, mit dem man Screenshots erstellt, werden bei ihr zu einer Bodeninstallation aus Estrichbeton und Gips (Vom Suchen und Finden, 2023). Sogenannte Glitches, Fehler im digitalen Bild, die häufig in Form von Verwischungen auftauchen, erscheinen als lila-blaue Formationen auf der Wand (Possibly Maybe (Ultramarin), 2023). Für eine nicht fassbare Welt aus Daten und Pixeln findet Ulrike Kazmaier eine materielle Sprache und erfüllt danach ein grundliegendes Bedürfnis nach Haptik.

Durch ihre zugängliche Farb- und Formenwahl, in der sich die lockende Ästhetik der Benutzeroberflächen sozialer Medien wiederholt, macht die Künstlerin auf die Irrtümer aufmerksam, die geschehen, wenn wir in der digitalen Bildwelt die haptische Ebene ausgrenzen. Denn wie sich im Übersetzungsprozess zwischen Ausgangsmaterial und digitalen Daten zahlreiche stoffliche Fehler einschleichen können, beruht auch unser Verhalten in virtuellen Räumen auf Berührungen durch die Hände. Letzteres hat Ulrike Kazmaier eindrucksvoll in der Arbeit Touch it (2022/23) umgesetzt, die aus drei Leuchtkästen besteht, in denen ihre digital gemalten Finger über eine gleißend weiße Leerstelle streichen, den ausgeschnittenen Bildschirm eines Smartphones. In ihrem Werk stehen analoge Darstellungstechniken und Materialien nicht im Widerspruch mit der digitalen Bildsphäre, die quasi nur aus Computerberechnungen besteht. Dieser Ansatz wiederholt sich auch in einer Serie von Papierzeichnungen, in denen Hände spielerisch verschiedene Objekte erfassen, so als wollten sie die Körper tastend „begreifen“ (Portraits, 2022/23). Ulrike Kazmaiers fantasievolle Arbeiten, die sich dennoch alle auf existente Phänomene beziehen, regen auf diese Weise dazu an, in der Verwendung mit digitaler Technik kritisch und neugierig zu bleiben.

Dylan Maquets Tired Paintings (2022, 2023) sind riesige, transparente synthetische Stoffbahnen, die in Stahlrahmen gespannt sind und auf die fotografische Motive gedruckt sind. Zwischen Boden und Decke montiert wirken die Installationen durch ihre bauchige Form und die dunklen, verschwommenen Bilder nicht zu unrecht wie der müde, ausgeleierte Display eines Smartphones. Doch der scheinbare Bezug zu Technik und Fotografie löst sich schnell auf und wird von der malerischen Poetik der verschwommenen, nur schemenhaft erkennbaren Ambiente abgelöst, deren Elemente wie bunte Lichter zu tanzen scheinen. Dylan Maquets ästhetische Absicht ist ganz bewusst das Malerische, die Druckmotive für die gigantischen Leinwände beruhen auf privaten Smartphone-Bildern von Innenräumen aus seinem privaten Umfeld, die er akribisch archiviert. Digitale Fotografie versteht der Künstler als Werkzeug, nicht als Medium, die Motive der Tired Paintings haben für ihn folglich keine abbildende Funktion. Anstatt dessen transportieren die Werke eher eine bestimmte Stimmung, einen schummrigen Zustand des Wohlseins im blauen, verborgenen Dunkeln, erleuchtet durch eine Tischgarnitur oder den Bildschirm eines Laptops.

Einen krassen Gegensatz zu diesem gedämpften Licht bildet Dylan Maquets Installation Sometimes I Close My Eyes and I See You (2023), die im schmal zulaufendem Ende des KIT die Besucher*innen hinter einen Vorhang einlädt. Die vollkommene Dunkelheit wird plötzlich durchschnitten von gleißendem Kammerablitz, durch den sich für Sekundenbruchteile ein Tisch und ein Stuhl in der pechschwarzen Umgebung offenbart. Mit dem Erlebnis, was er hier kreiert, spiel Dylan Maquet auf den Prozess an, wie sich Erinnerungen einbrennen, sei es durch die Mechanik der Kamera oder durch die optische Irritation auf der Netzhaut, die das Leuchten des Blitzes noch lange nachher vor den Augen tanzen lässt.

Wie die anderen Künstler*innen von RAW interessiert sich auch Sabrina Podemski für die ambivalente Welt hinter der Bilderzeugung, deren Konturen sich aufzulösen beginnen, sobald man den Schleier hebt, der diese Vagheit verbirgt. Vertigo, wie die (imaginäre) verhüllte griechische Göttin des Schwindels, heißt daher auch ihre Installation aus 3 wandhohen Prismen, auf deren Oberflächen Malereien, fotografisch bedruckte Tapete und Skulpturen optisch zu einer Bildebene fusionieren. Sabrina Podemski nimmt den Screenshot als Ausgangspunkt, um in ebenso glatten, perfekten Gemälden in Pastelltönen, die man leicht als Photoshop-Bilddateien in einem unklaren Bearbeitungszustand (miss)verstehen könnte, die elementare Frage zu stellen, was ein Bild ausmacht.

Durch die Zwischenräume, welche die Prismen erzeugen, werden die Besucher*innen in eine Sphäre aus multiplizierten, übereinander gelegten Rastern und Bildfragmenten geführt, die stark an Benutzeroberflächen erinnern. Doch die Künstlerin bricht diese Abgeschlossenheit durch mysthische Elemente in Form von Skulpturen, die in Nischen eingelassen sind. Während wir uns durch die alltägliche Mediennutzung immer weiter von der „klassischen“ Bilderzeugung wie Malerei oder Fotografie entfernen, unterscheidet Sabrina Podemski in ihrer Erforschung der Natur des Bildes nicht grundsätzlich zwischen analogen und digitalen Prinzipen. Indem sie Elemente beider Verfahren zu einer Ästhetik verblendet, die das Glänzen einer Leinwand mit der Glätte einer Bildschirmoberfläche miteinander vereint, schafft sie eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Medien. Die damit erzeugte Verwirrung lässt einen darüber nachdenken, ob die Kategorien, durch die wir bestimmte Bilderzeugnisse scharf unterscheiden, tatsächlich gültig sind, wenn alles zu einem täuschenden Abbild führen kann.

Während viele der Positionen die (im)materiellen Qualitäten fotografischer Rohdaten als Ausgangspunkt nehmen, beschäftigt sich Moritz Riesenbeck mit Prozessen, bei denen fotografische Technik an ihre Grenzen stößt. Es handelt sich um Vorgänge der Identitätsauflösung, wie sie durch eine Demenz-Erkrankung ausgelöst werden. Diesen spürt der Künstler nicht durch Fotografie, sondern durch Architektur und Sprache nach. Für das KIT hat Moritz Riesenbeck ein spezifisches Ambiente erschaffen, das aus einer wuchtigen Einbauschrank-Ecke aus dunkel lackiertem Holz besteht, die ein ausklappbares Bett beinhaltet und beleuchtet ist. Auflösung II knüpft an die Arbeit Auflösung I an, bei der er 2021 den Nachlass einer alten Frau in ihrer verlassenen Wohnung untersucht hat. Wie auch bei der aktuellen Installation versuchte der Künstler im vorhergehenden Projekt auszuloten, mit welchen Mitteln außerhalb der Fotografie sich ein verschwundenes Lebens archivieren lässt.

Der bei einer Haushaltsauflösung ausrangierte, in seiner Ästhetik deutlich aus einer vergangenen Lebenszeit stammende Einbauschrank steht laut Moritz Riesenbeck für den Gedanken, dass das jeweilige Realitätsempfinden einer Person jeweils eng mit der materiellen, wohnlichen Umgebung zusammenhängt. Im Umkehrschluss ist dieses Empfinden jedoch nicht übertragbar, so dass auch eine fotografische Dokumentation des Wohnungsumfeldes die Erlebniswelt einer dementen Person nicht wieder aufleben lässt. Diese erschütternde Tatsache vollzieht man als Besucher*in in der Begehung der Installation nach, in deren Leere sich die Grenzen der Fotografie, Realität festzuhalten, plötzlich offenbaren.

Moritz Riesenbeck wählt einen anderen Weg, um das Thema Demenz zu vermitteln. Auf dem Bett liegt eine Kurzgeschichte aus, verfasst von Hendrik Otremba, in der eine Person Momente aus ihrem Leben beschreibt, die jedoch zunehmend irrational und unsortiert wiedergegeben werden. In der selben Publikation befindet sich auch ein Interview mit der Demenz-Expertin und Neurologin Dr. Magalo Keil. Da die Ärztin selbst eine demente Mutter hat, vermischen sich in dem aufgezeichnetem Gespräch  Professionelles und Persönliches. Für Moritz Riesenbeck sind Strukturen unsere Umgebung, öffentlich oder privat, Träger sozialer Normen und Erfahrungen, die auf uns wirken. Eine Tatsache, die sich nicht fotografisch nachempfinden lässt.

Es stellt sich die Frage, was Ulrike Kazmaier, Dylan Maquet, Sabrina Podemski, Johannes Raimann und Moritz Riesenbeck in einer Gegenwart, in der computergesteuerte Algorithmen selbständig Bilder erzeugen, mit ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit den „basics“ der Fotografie sagen wollen. Jedenfalls ist es nicht die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als ein Bild einmalig war, welche die Künstler*innen in ihrer Verarbeitung von Parametern der Bilderzeugung antreibt. Vielmehr ist das bewusste Herausfiltern bestimmter Konstanten des fotografischen Prozesses ihre persönliche Strategie, der unaufhaltbaren Flut von digitalem Bildmaterial etwas Konkretes entgegenzusetzen. Die Positionen von RAW erinnern daran, dass es eine Realität hinter den Bilddateien gibt, die zwar schwer zu begreifen aber dennoch in einer gewissen Weise, wie die Werke selbst, fassbar ist. Eine Rückkehr zur Materialität der Fotografie, die einen bestärkt, sich nicht manipulieren zu lassen.

RAW wurde initiiert und gefördert durch die DZ BANK KUNSTSTIFTUNG 

https://kunststiftungdzbank.de/

Ulrike Kazmaier (*1989 in Carlsheim) / 2008–2016: Freie Kunst an der Kunstakademie  Düsseldorf bei Prof. Reinhold Braun, Prof. Lucy McKenzie und Prof. Martin Gostner

Dylan Maquet (*1995 in Nizza) / 2021: Master Fine Arts (MFA) mit Gratulation der Jury, Beaux Arts de Paris, Klasse Ann Veronica Janssen, Hicham Berrada, Julien Sirjac

Sabrina Podemski (*1990) / 2014–2021: Freie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf, bei Prof. Katharina Grosse, Prof. Rita McBride, Prof. Thomas Scheibitz, Prof. Lena Newton

Johannes Raimann (*1992 in Wien) / 2017–2021: Freie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf, bei Prof. Marcel Odenbach

Moritz Riesenbeck (*Warendorf, NRW) / 2018–2022: Kunstakademie Düsseldorf, Prof. Gregor Schneider (Meisterschüler)

https://www.kunst-im-tunnel.de/

Ulrike Kazmaier, Touch it, 2022/23  |  Foto: Ivo Faber, 2023

Dylan Maquet, Tired Painting, 2023  |  Foto: Ivo Faber, 2023

Sabrina Podemski, Vertigo, 2023  |  Foto: Marina Sammeck

Installationsansicht Ulrike Kazmaier  |  Foto: Ivo Faber, 2023

Johannes Raimann, Scharfzeichner, 2023  |  Foto: Marina Sammeck

Moritz Riesenbeck, Auflösung, 2023  |  Foto: Marina Sammeck