Die Zeit des Illusionismus in der Kunst ist eigentlich vorbei. Einstige Innovationen, wie die Andeutung architektonischer Tiefe und Plastizität durch malerische oder bildhauerische Mittel, wurden vom modernen Kunstverständnis weitgehend als überholt erklärt. Die Ausstellung Phantoms and Other Illusions in KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION stellt zur Disposition, ob die Epoche der Illusionen tatsächlich vorüber ist. Denn die Ausstellung beschränkt sich gerade nicht auf das Optische, sondern bezieht auch die psychologischen und gesellschaftlichen Komponenten des Illusorischen mit ein. Diese profunde Überprüfung des Täuschungseffektes in der zeitgenössischen Kunst ist eine willkommene Initiative in einem Umfeld, in der KI massenhaft nahezu authentische Kunstwerke erzeugt.
Bricht ein neues Zeitalter der Illusionen in der Kunst an? Diese Frage ist eng mit dem Konzept der Ausstellung verbunden. Doch anstatt sich gänzlich algorithmisch erzeugten Werke zuzuwenden, wählt der Kurator Ludwig Seyfarth einen anderen Weg und zeigt bewusst ein weites Spektrum von Positionen, in denen klassische Verfahren wie Bildhauerei, Fotografie und Zeichnung auf computergestützte Strategien der Bilderzeugung treffen. Die Verzahnung von Mensch und Maschine im künstlerischen Prozess spielt in Phantoms and Other Illusions immer wieder eine Rolle. Die Ausstellung demonstriert auf diese Weise, dass die Erschaffung und Verarbeitung von Momenten der Illusion und Täuschung längst nicht etwas ist, das erst wieder mit der Künstlichen Intelligenz Einzug in die Kunst hält. Vielmehr bietet sie die Gelegenheit, noch einmal zu überprüfen, was Illusion in der zeitgenössischen Kunst bedeuten kann. Bevor man sich Werken zuwendet, die keine Autor*innen mehr haben.
Etymologisch betrachtet steckt im Wort „Illusion“ das lateinische Verb „ludere“, was „spielen“ bedeutet. Diese Wortherkunft im Hinterkopf zu bewahren, ist sehr erhellend, wenn man davon ausgeht, dass die Integration von Illusionsmomenten in der Kunst meistens einen unterhaltenden Effekt hat. Selten fühlt man sich wirklich getäuscht und wenn man sozusagen hinters Licht geführt wird, dann um eine neue, bereichernde Perspektive kennenzulernen. Dies ist die klassische, noch aus der Antike stammende Funktion des Trompe-l’œil, und kurioserweise produzieren die zehn Positionen der Ausstellung alle so einen „belehrenden Effekt“, ohne sich jedoch streng an die kunsthistorische Tradition zu halten.
Ein erstes Spiel mit dem Auge treiben die Werke von Alice Channer, die verteilt über die Räume zu sehen sind und durch schillernde Oberflächen bestechen, deren wahre Beschaffenheit sich oft erst im Herantreten offenbart. Ausgehend von Fotografien und organischen Materialien schafft Alice Channer unter Rückgriff auf computerbasierte industrielle Verfahren zarte Skulpturen, deren Optik zunächst irritiert. So erinnert das Diptychon Soft Sediment Deformation, Lower Body (placoid scales) (2018) durch seine schuppenartige Textur und die changierenden Farben in Erdtönen an Schlangenhaut. Tatsächlich handelt es sich um Abbildungen von auf Seide gedruckten Gesteinsschichten, die anschließend plissiert wurde. Die Kombination aus verfremdeten Naturbildern und Plastizität simulierenden Stoffen lässt den Blick nicht zur Ruhe kommen.
Die Faszination, die von organischer Materie ausgeht, liegt auch den glasierten Objekten aus Ton von David Zink Yi zu Grunde. Auf dem Boden sind in Ton gebrannt und kunstvoll lackiert die lebensechten Körperfragmente eines Oktopusses ausgelegt, die Tentakel glänzen glibbrig, als hätte man das Tier gerade erst gefangen. Die Entscheidung, Körper von Lebewesen mit Lehm, einem organischen Material, realistisch nachzubilden, bringt eine neue Facette des Illusorischen ins Spiel. Unser Bedürfnis, in organischen Tonformen „Lebendiges“ zu sehen, nährt David Zink Yi des weiteren durch eine Wandinstallation aus konvexen Steingutskulpturen, die in ihrer Form und durch die schillernden Oberflächen an Schnecken oder Muscheln denken lassen. Was so rätselhaft und lebendig erscheint, nutzt der Künstler auch als Proben für den Verlauf der Glasur.
Die Werke von Alice Channer und David Zink Yi verdeutlichen, dass der Effekt einer optischen Illusion durch sehr unterschiedliche Techniken erreicht werden kann. In ihrem Potential, Irritationsmomente zu erzeugen, stehen manuelle Strategien, wie die Verarbeitung von Ton, und hochkomplexe Druckverfahren, die nur per Computer gesteuert werden können, gleichwertig nebeneinander. Dieser Aspekt ist von grundlegender Bedeutung, da er darauf hindeutet, dass die menschliche Wahrnehmung in der Qualität des Täuschungseffektes nicht zwischen „high“- und „low-tech“ unterscheidet. Wolfgang Ellenrieders bauschige Skulpturen und collagierte Installationen fußen genau auf diesem Effekt. Denn der Künstler suggeriert optisch Haptik, Materialität und die Verwendung robuster Ausgangsstoffe auch dort, wo Partien gemalt oder ausgedruckte Fototapeten appliziert sind.
Phantoms and Other Illusions spielt immer wieder mit der Überzeugung der Betrachter*innen, auf Effekte der vermeintlich allbekannten Augentäuschung vorbereitet zu sein. Die Tradition des Trompe-l’œil wird dabei fortgesetzt, doch zeigen die Positionen insgesamt, dass die Realität in der zeitgenössischen Kunst eine andere und vielfältigere ist. Inspiriert von dem Orientierungsverlust, den Anaïs Lelièvre beim Spaziergang durch den Park vom Château de Rentilly mit seiner verspiegelten Schlossfassade erlebte, entwarf die Künstlerin eine Rauminstallation aus unzähligen, bedruckten Zacken, die ebenfalls mit der Erfahrung von Perspektive spielt. Das relativ monotone, schwarz-weiße marmorierte Muster auf den Platten, das auf einer eigenen Zeichnung der Netzhautschicht des Auges basiert, produziert eine Gleichzeitigkeit von Flächigkeit und Tiefe, die einen bisweilen an der eigenen Wahrnehmung zweifeln lässt.
Um die Ecke von Anaïs Lelièvres Installation empfängt Friederike Feldmann die Betrachter*innen mit einer Wandmalerei aus Farbfeldern in Rosa, Gelb und Kaminrot, die jedoch nur auf den ersten Blick widerspruchsfrei wirkt. Denn es stellt sich heraus, dass das Verhältnis von Vor- und Hintergrund, das durch weiße Felder angedeutet wird, hier illusorisch ist. Die verschiedenen Bereiche lassen auf die Verwendung von Schablonen schließen, die auf seltsame Weise nun als Teil des Bildes erscheinen, dessen verschiedene Ebenen tatsächlich eine einzige sind. Stück für Stück kommt man der Machart auf die Spur, die Augentäuschung jedoch bleibt.
Anhand von Detailaufnahmen auf mikroskopischer Ebene, die entstehen, wenn Restaurator*innen des Louvre mit einer Nadel durch die Farbschichten von mittelalterlichen Malereien der Mutter Gottes stechen, erinnert Dove Allouche daran, dass Illusionen auch durch einen fehlenden Kontext entstehen können. Die Bilder von übereinander gelagerten, schwammigen Schichten, die wie ein bunter Kuchen oder ein Sandwich aus Schaumstoff geschichtet sind, lassen an alles andere als eine Farbprobe aus einem Gemälde des Louvre denken. Gleichzeitig weisen die Fotografien auf die illusorische Qualität der Malerei selbst hin. In seiner exakten zeichnerischen Nachempfindung der ersten Aufnahmen des Kosmos durch den Astrofotograf Isaac Roberts von 1885 stellt Dove Allouche wiederum die täuschenden Aspekte der scheinbar verlässlichen Fotografie in Frage. In den abgezeichneten Aufnahmen Roberts, in denen man ohnehin nur ein graues Rauschen erkennt, wird auf einmal jedes Störelement zu einem potentiellen Stern.
Echo Can Luo und Marge Monko wiederum zeigen künstlerisch, wie sehr grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Akzeptanz und Zuneigung durch die Möglichkeiten und Gesetze des virtuellen Raumes zu unerreichbaren Illusionen werden, die sich gnadenlos kommerziell ausschlachten lassen. Auf Grundlage ihres eigenen Gesichtes hat Echo Can Luo eine dreiteilige Videoarbeit aus gefundenem Material und Animationen erstellt, in der ihr Antlitz in einer fiktiven Schönheitsklinik mittels KI vermessen und verfremdet wird. In einer virtuellen Parallelwelt lebt ein Avatar mit einer idealisierten Maske ihres Gesichtes weiter, während ihr Auftritt in den sozialen Netzwerken weiterproduziert wird, wo Schönheit, wie ihn die Algorithmen zur Gesichtsoptimierung auf Instagram, Snapchat oder TikTok definieren, längst zum Fetisch geworden ist. Diese synthetische Welt, die nur fatal ist, weil wir sie mit unseren Vorurteilen füttern, empfindet auch Marge Monko nach, indem sie zwei smarte Sprachassistenzgeräte in einen romantischen Dialog treten lässt. Gespeist mit simplen Fragen, entpuppt sich das Gespräch der Chatbots über Liebe und Beziehung schnell als ein Hin- und Herschleudern sinnentleerter Statements.
Die Werke beider Künstlerinnen sind Beispiele dafür, wie komplexe Illusionsbegriffe, wie sie in Bezug auf KI und Social Media diskutiert werden, durch die Perspektive der zeitgenössischen Kunst behandelt werden. Dennoch hat ihre Auseinandersetzung mit dem Illusorischen auch eine strake psychologische Komponente. Denn unabhängig davon, wie KI oder Schönheitsideale künstlerisch hinterfragt werden, hängt die Bereitschaft zur Beschäftigung mit diesen Themen von unseren eigenen Vorstellungen ab. Was als Illusion wahrgenommen wird, ist abhängig von der individuellen Wahrnehmung, die eng mit der persönlichen Biografie und Sozialisierung verknüpft ist.
Diesen psychologischen Aspekt des Illusorischen behandeln auf gestalterisch sehr unterschiedliche Weise die Künstler Ismaël Joffroy Chandoutis und Nedko Solakov. Ismaël Joffroy Chandoutis ist ganz klar in der Welt der hochentwickelten Videokunst zu Hause, zugleich anziehende wie erschreckende poetische Bilder, die auf Basis von fotografischem Material oder Videospielarchitektur entstehen, die der Künstler durch Bildbearbeitung in Feuerwerke aus Bildpartikeln oder grafische Matrizen verwandelt, sind seine Sprache. Interessanterweise behandelt er dabei sehr reale Themen, wie das Schicksal einer jungen Frau, die den Terroranschlag auf die Brüsseler U-Bahn 2016 miterlebt hat, durch den Schock jedoch jegliche Erinnerung an das furchtbare Ereignis verloren hat. Angelehnt an das Raumerlebnis von Kampfvideospielen, begegnet man in seiner anderen Videoarbeit dem Internetphänomen des „swatting“, bei dem Nutzer*innen von Livestreamingplattformen anderen User*innen unter falschen Angaben SWAT-Polizeitrupps auf den Hals hetzen. Die durch gesammeltes Videomaterial und Stimmen angereicherte Videoarbeit vermittelt eindringlich, wie leicht sich verschiedene Ebene der Realität im virtuellen Raum überschneiden.
Sind wir überhaupt in der Lage, eine klare Linie zwischen Illusion und Realität zu ziehen? Hegen wir nicht alle unsere persönlichen Fantasien, während wir als Gesellschaften kollektiven Trugbildern folgen? Diese grundlegenden Fragen stellt Nedko Solakov in minimalistischen, inhaltlich dennoch sehr pointierten Tuschezeichnungen, in denen ein Männchen gegen die Dämonen und Engel seiner eigenen Illusionen antritt. Spricht hier ein Alter-Ego des Künstlers über die persönlichen (Ent-)Täuschungen seines Lebens? Ganz genau wissen wir es nicht. Anhand von handschriftlichen Kommentaren illustriert der Künstler jedenfalls, wie sehr der Illusionsbegriff durch sprachliche Einbindung ganz unterschiedliche Facetten annimmt.
Phantoms and Other Illusions in KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION demonstriert, dass es in Hinblick auf die Verarbeitung von Illusionen in der zeitgenössischen Kunst im Vergleich zur Vormoderne sowohl Brüche als auch Kontinuität gibt. Klassische, malerische Trompe-l’œils haben die Künstler*innen definitiv hinter sich gelassen, sie würden als bloße Wiederholungen vom bereits Bekannten auch kaum jemanden beeindrucken. Und dennoch hat das Erlebnis, getäuscht zu werden und für den Bruchteil eines Augenblicks einmal nicht seiner eigenen Wahrnehmung vertrauen zu können, auch heute nach vielen hundert Jahren in einer Epoche mit ganz anderen Ausgangsbedingungen nicht an Reiz verloren. Schaut her, noch offenbart die Kunst, was sie ist, mag die Ausstellung uns sagen. Schon bald wird dies nicht mehr der Fall sein.
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