Das Zeichnen ist eng mit der Wahrnehmung unserer Umwelt verbunden. Wie es schon die Sprache verrät, zeichnen wir Dinge auf oder legen Verzeichnisse an. Die Zeit, in der lediglich Bleistift und Papier zur Verfügung standen, um Eindrücke, Orte oder Naturphänomene festzuhalten sind jedoch längst vorbei. Ist es denn überhaupt noch von Bedeutung, ob wir einen Stift nehmen oder viel effizientere digitale Technologie? Eine von Ludwig Seyfarth kuratierte Gruppenausstellung in der KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION in Düsseldorf Gulliver’s Sketchbook stellt sich genau dieser Frage und betrachtet die vielfältigen Facetten, die das Zeichnen als Prozess, der sich zwischen Stift, Auge, Kopf und Körper abspielt, mit sich bringt. Anhand eines breiten Spektrums von sechzehn internationalen Künstler*innen zeigt die Ausstellung die unterschiedlichen Dimensionen, Techniken und Themen, die das Zeichnen fähig ist zu untersuchen.
Der Titel Gulliver’s Sketchbook ist angelehnt an das fantastische Werk Gulliver’s Reisen (1726) von Jonathan Swift. Ähnlich wie das Buch, das eine raffinierte Mischung aus Reiseerzählung, Tagebuch und Utopie ist, lädt die Ausstellung die Besucher*innen auf eine imaginäre Reise ein, welche auf dem hier „skizziertem“ Gebiet die unterschiedlichsten Entdeckungen bereithält, von filigranen geometrischen Konstruktionen über Körperspuren bis zu experimentellen Ansätzen und surrealen Szenarien. In einem Teil der Positionen erscheint das Zeichnen wie ein komplexer, beinahe wissenschaftlicher Übersetzungsprozess, der sowohl von dem zu erfassenden Gegenstand selbst ausgehen kann, als auch vom Körper und der Wahrnehmung der/des Künstlerin/Künstlers selbst. Irene Weingartner (* 1971 Nottwill, Schweiz) beispielsweise zeichnet mit dem Bleistift feine Strukturen auf Papier, welche durch die sich regelmäßig wiederholende Struktur in Clustern mathematisch wirken. Was von Weitem wie eine Karte mit kleinen Dörfern erscheinen mag, sind tatsächlich auf Papier gebrachte Spannungen und Energien, welche die Künstlerin in ihrer Körpermitte erspürt und mittels des Bleistiftes, der hier wie ein Seismograph eine Brücke zu ihrer Wahrnehmung bildet, zum Ausdruck bringt. An architektonische Modelle erinnernde Skulpturen, die aus diesen Zeichnungen entstehen und eine strenge zellulare Regelmäßigkeit mitbringen, werfen die nicht triviale Frage auf, ob das, was Weingartner hier festhält, nicht tatsächlich ein unbekanntes naturwissenschaftliches Phänomen darstellt.
Von den unsichtbaren Energien Irene Weingartners geht es in Wolfgang Zachs (*1949)Werk in die darstellbaren, aber dennoch unerreichbaren Weiten des Weltalls. Was hier auf einer mehrere Meter messenden Papierbahn eindrucksvoll zu sehen ist, ist eine Abbildung eines Sternennebels, der auf einer Satellitenaufnahme der europäischen Weltraumbehörde ESA beruht. Das Bild erscheint ein wenig unscharf, das es mit Bleistift gezeichnet ist, ahnt man auf Grund der gigantischen Dimensionen zunächst nicht. Zach hat ein eigenes Computerprogramm und eine Apparatur entwickelt, die einen Bleistift so sensibel wie eine Hand führen kann, um diese Arbeit zu realisieren und das Foto in eine Zeichnung zu übersetzen. In verblüffenden Übersetzungen wie dieser wirft die Ausstellung eine wichtige Überlegung auf: wann ist eine Abbildung akkurat? Können nur fotografische Verfahren wissenschaftliche Phänomene erfassen? Um das Nachspüren dieses Unterschiedes geht es auch Oliver Thie (*1983), der mit verschiedenen zeichnerischen und mikroskopischen Verfahren die hawaiianische Höhlenzikade Oliarus polyphemus untersucht, die mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen ist. In der Ausstellung präsentiert er eine wandeinnehmende, stark vergrößerte Abbildung des Insekts Oliarus polyphemus – Expedition Nr.10: Topographie des Übersehenen (2021/2022), die aus winzigen weißen, zeichnerisch entstandenen Strukturen besteht, die bei näherem hinsehen wie Inseln einer Landschaft anmuten. Fotografische Mikroskopie und Zeichnung vermischen sich hier auf eine verwirrende Weise, welche den Anspruch der Fototechnologie auf Wahrheit destabilisiert.
Strengen Versuchsanordnungen unterziehen sich auch die Künstlerinnen Hanna Hennenkemper (*1974) und Boryana Petkova (*1985 in Sofia)in ihren Zeichnungen. So hat Hennenkemper in Ansichten eines Bleigusses (2021) in einer Reihe aus Zeichnungen minuziös mit dem Stift einen winzigen und unförmigen Bleiklumpen aus einer Silvesternacht untersucht, der dennoch voller Details steckt, die auch in mehreren, von der Künstlerin stark vergrößerten Ansichten nie vollständig erfassbar sind. Petkovas raumgreifende Zeichnungen und Performances wiederum gehen von der Beschränkung des Zeichnens durch den Körper aus. In einer in der KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION aufgezeichneten Aktion hat die Künstlerin, eingesperrt in einem Gitter an der Wand, das den eisernen Schutzvorrichtungen für Bäume in Paris nachempfunden ist (corset d’arbre), mit zwei Bleistiften in den eingezwängten Händen durch minutenlange Bewegungen ein Kreuz auf die Wand gezeichnet. In einer anderen Arbeit war gerade die große Weite der Ausstellungsräume, welcher der Körper nicht vollständig erreichen kann, das Limit. Ausgehend von einer bereits bestehenden zeichnerischen Arbeit hat Petkova Formationen aus feinen Bleistiftstrichen an den Wänden entlang weitergeführt. Was entstanden ist, wirkt von Weitem wie ein grauer Nebel, könnte aber auch eine groß dimensionierte Ansicht eines Neurons sein.
Gulliver’s Sketchbook macht darauf aufmerksam, dass das, was als Zeichnung wahrgenommen wird, eigentlich erst im Kopf der Besucher*innen entsteht. Auf diese Tatsche bezieht sich etwa die polnische Künstlerin Dagmara Gendas (*1981), die eine Installation aus Tusche- und Bleistiftzeichnungen komponiert hat, deren Linien sich scheinbar von dem Papier befreit haben und nun an den Wänden und über den Köpfen der Betrachter*innen ein Eigenleben begonnen haben. Diesen augentäuschenden Effekt erreicht die Künstlerin durch den Einsatz von gebogenen Metallobjekten und Bändern aus Gewebeplane, die man, gewöhnt an die Ein- und Zweidimensionalität der zeichnerischen Linie, optisch gar nicht mehr fest verordnen kann. Eine reizvolle Verwirrung der Dimensionen bieten auch die wandfüllenden Tuschezeichnungen von Britta Lumer (*1965). In mehrerer Papierschichten überlagern sich verschiedene abstrakte Motive, die entfernt an Gesichter oder Konturen unbestimmbarer Gegenstände oder Körperteile erinnern und auf die maximalste Größe skaliert sind, die gerade noch vom Körper erreichbar ist. Die Grautöne wirken durch den Einsatz der Tusche weich, fast malerisch, so dass häufig kaum unterscheidbar ist, ob es sich bei den Kanten um physische oder gezeichnete handelt. Zu einer besonders körperlichen Untersuchung der Grenzen des Zeichnens hat sich Stella Geppert (*1967) in ihrer Arbeit InsideT – Learning from the Body – Movements of Matter #01 (2022) entschlossen. Basierend auf einer tänzerischen Videoarbeit hat die Künstlerin sich auf eine mehrere Meter messende Fläche aus Papier begeben, auf der sie ausgehend von schwarzen Punkten als Orientierungen durch Bewegungen ihres Körpers, an dem an verschiedenen Stellen Zeichenkohlestifte befestigt waren, Linien auf das Papier brachte. Die komplexe Struktur, die über den Körpereinsatz unbewusst entsteht, lässt später kaum mehr auf den mühevollen Anfertigungsprozess schließen, mit dem Geppert den Zuständen traumatisierter Körper nachgeht.
Wie das Zeichnerische in der Lage ist, ganze Universen zu erschaffen und den Einblick in eine fremde Welt zu eröffnen, zeigt die Ausstellungen an einer Gruppe verschiedener Positionen. So präsentiert die chilenische Künstlerin Sandra Vásquez de la Horra (*1967) mit der Faltarbeit Pachamama (2019) und ihren ebenfalls aus Papier gefalteten und mit Zeichnungen versehenen „Häusern“ beinahe märchenhaft-mythische, stark narrative Werke, welche die Kraft indigener Vorstellungen des Weiblichen und Göttlichen heraufbeschwören, aber in ihrer etwas ambiguen, düsteren Ausstrahlung auch biografische Erfahrungen der Künstlerin einfließen lassen, die in einer Diktatur aufwuchs. Dem Format eines Skizzenbuches entsprechend hält der Künstler Hartmut Neumann (*1954) in seinen Bleistift- und Buntstiftzeichnungen eine unerschöpfliche, geradezu enzyklopädische Fülle botanischer Lebewesen, Formen, Habitate und Landschaften detailliert fest, die es jedoch gar nicht gibt. Surreale Elemente, wie Augen zwischen Hügeln, weisen auf eine Logik hin, die nur der Künstler kennt.
Dieses Prinzip des zeichnerischen Kosmos, der keine Grenzen kennt, so lange die Quelle der Fantasie sprudelt, lässt sich auch in dem Werk der tschechischen Künstlerin Veronika Holcová (*1973) erkennen. In ihren farbigen Zeichnungen, die durch verschiedene Techniken entstehen, vermischen sich menschliche und mythische Aspekte, Ausdrücke von Gefühlen treffen auf rätselhafte Spekulationen. Holcová sieht ihre ästhetisch bezaubernden Zeichnungen, die mal froh, mal melancholisch erscheinen, als Tagebuch, in dem sie festhält, was ihr gerade durch den Kopf geht. Eine Erweiterung des Möglichkeitsraum des Zeichnerischen nimmt wiederum Birgit Hölmer (*1967) vor, indem sie aus feinen Klebestreifen, welche tatsächlich Schnittreste aus Druckereien sind, auf dem Fussboden der Ausstellungsräume an verschiedenen Stellen grafische Kompositionen erschafft. In fast mathematischer Strenge oszillieren diese Arbeiten CUTS Floor Kai 10 durch ihre suggerierte Körperlichkeit zwischen Ein- und Dreidimensionalität.
Mit der Arbeit von Birgit Hölmer, die mit Klebestreifen zeichnet, aber auch einigen anderen Positionen, wirft Gulliver’s Sketchbook immer auch die Frage nach der Definition des Zeichnerischen in den Raum. Denn wie die Ausstellung zeigt, gehen Ansätze des Zeichnens in der Kunst heute längst über die Verwendung des Stiftes hinaus. Zwar gelangt die Ausstellung nicht zu einem neuem Begriff, aber dies ist auch nicht die Intention. Denn was Gulliver’s Sketchbook so interessant macht, ist die mit jeder Position neu angeregte Diskussion darüber, was wir als Zeichnung verstehen, was diese Technik generell fähig ist darzustellen und wo vielleicht auch ihre physischen oder ästhetischen Grenzen liegen. Die Ausstellung macht vor allem deutlich, wie groß unsere Welt ist und wie viel mehr wir in der Lage sind, durch den Stift zu sehen. So entpuppt sich die Zeichnung als Medium, die anders als die Kamera, in der Lage ist Ambiguität und das Konkrete gleichzeitig einzufangen. Und so von Dingen berichten kann, die wie im Roman Gulliver’s Reisen, zwischen Fantasie und Realität liegen.