Nichts irritiert die menschliche Wahrnehmung mehr als auf der Schwelle gefangen zu sein. Sich in der Schwebe zwischen Kategorien oder Prinzipien zu befinden läuft unserem Bedürfnis entgegen, Eindrücke schnell einzuordnen und im gewohnten Takt fortzufahren. Die fotografischen Collagen der Künstlerin Sabrina Jung der Serie „Queers“ (2021) greifen mit fiktiven Porträts, in denen weibliche und männliche Gesichter zu einem queeren Erscheinungsbild verschmelzen, das nicht dem binären Geschlechtermodell entspricht, eben diese Ambiguität auf, die unbequem für unsere Wahrnehmung ist. Die Künstlerin bedient sich ausschließlich alter schwarz-weiß Fotografien heute nicht mehr identifizierbarer Personen, die auf Plattformen wie ebay gehandelt werden. Die „Queers“ waren zuletzt im Rahmen einer Ausstellung der Künstlerin „Rethinking Now“ in der Galerie Gisela Clement sowie auf der art cologne zu sehen.
Durch diese Verlagerung eines Themas, das erst seit wenigen Jahren in der breiten gesellschaftlichen Diskussion angekommen ist, in eine Zeit, wo Queerness nicht öffentlich repräsentiert wurde, schafft Sabrina Jung einen zusätzlichen Irritationsmoment, verleiht ihrer Serie aber auch eine hohe Brisanz. Denn letztendlich entlarven die Bilder unseren kategorisierenden Blick. Dieser stört sich nicht nur heimlich daran, dass in den Aufnahmen nicht die typisch weiblichen oder männlichen Schönheitsideale zu sehen sind, für die Porträtfotografien aus den Dreißiger, Vierziger und Fünfziger Jahren so beliebt sind. Die fotografischen Collagen der Serie „Queers“ bringen darüberhinaus das Potential mit, die immer noch an ein binäres Modell der Geschlechter angepassten Sehgewohnheiten zurückzuspiegeln. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Akzeptanz queerer Sexualität und Lebensstils demonstrieren die Porträts, dass queere Identitäten und Erscheinungsbilder auf eine unbewusste Weise immer noch in unserer Wahrnehmung anecken.
Die große Frage, die Sabrina Jung hier aufwirft, ist, warum ihre Bilder eigentlich irritieren. Liegt es an der sowohl digital als auch analog arbeitenden künstlerischen Technik, welche auf den ersten Blick authentische und dann doch sichtbar verfremdete Gesichter entwirft, die nie irgendwo ankommen? Oder steckt hinter diesem unbequemen Moment der Schwebe zwischen weiblich und männlich doch etwas ganz anderes? Sabrina Jung hat Fotografie an der Folkwang Universität studiert und so selbst einen fotografischen Hintergrund. Dieser zeigt sich in der starken prozessualen Herangehensweise, in der sie das vorhandene Bildmaterial bearbeitet. Die Porträts werden eingescannt und vergrössert, dann schneidet sie mit digitalen Werkzeugen aus mehreren Fotografien gewisse Gesichtsmerkmale und -partien heraus, die sie dann am Bildschirm neben- und übereinanderlegt, bis ein „neues“ Gesicht entsteht. Die so geschaffenen Visagen schneidet die Künstlerin händisch aus und fügt sie wie eine Maske zwischen Haaransatz und Hals in bereits vorhandene Porträts ein. Abgerundet wird der Prozess durch die Kolorierung der Kleidung. So entstehen völlig neue Personen, die eine starke Präsenz einfordern, obwohl es sie nie gegeben hat.
Worüber die „Queers“ nachdenken lassen, ist nicht in erster Linie die Frage nach ihrer technischen Entstehung, sondern die Frage nach dem Verhältnis, was zwischen Betrachter*in und der jeweils porträtierten fiktiven Person entsteht. Da ist zum Beispiel „Paula“ mit einem mit der Brennschere gestärktem gewelltem Pony. Der Blick ihres halbfrontal aufgenommenen Gesichtes wirkt entschlossen und gleitet in die Ferne. Anfangs denkt man an eine charakterstarke Frau, doch die muskulösen Konturen ihres Gesichts und die wulstigen Augenbrauen machen es etwas zu maskulin und lösen Zweifel aus, ob es sich hier um eine weibliche Person handelt. „Ada“ scheint ein junges Mädchen zu sein mit einer feinen Nase und einem schmalem Gesicht, die dunklen Haaren sind zu einem Pferdezopf hochgebunden. Der leicht geöffnete Mund mit den Zähnen verdrängt diesen Eindruck von Attraktivität jedoch. Über der Mundpartie ist ein seltsamer Schatten, der für einen Damenbart deutlich zu markant ist. Die Augen haben einen leichten Schlafzimmerblick und schauen den Betrachter auf eine Weise an, die, obwohl man es nicht richtig erklären kann, eher männlich wirkt. Was diese Porträts so besonders macht, ist, dass sich auch bei genauerer Betrachtung keine Abstufungen hinsichtlich des Geschlechts der Person feststellen lassen. Zu welchem Grad die Person „weiblich“ oder „männlich“ ist, ist auch mit der Information, dass hier Gesichtsmerkmale verschiedener Geschlechter fusioniert wurden, nicht abschließend bestimmbar.
Der Definition nach ist „queer“ ein Sammelbegriff für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der heteronormativen Norm entspricht“ (Diversity Arts Culture Berlin). Weil der Begriff so offen ist und viele Identitätskonzepte in sich versammelt, bietet er vielen Menschen ein Identifikationsangebot. Dieses Konzept von fluiden Identitäten abseits des Heteronormativen überträgt Sabrina Jung modellhaft auf die Personen der Serie „Queers“, die in ihrem Erscheinungsbild jegliche Geschlechtszuordnung unterlaufen. Eigentlich aber impliziert der Begriff „queer“ genauso wenig wie „schwul“, „lesbisch“, „hetero“ oder „trans“, ein bestimmtes Aussehen. Es sind allein unsere Erfahrungen und Erwartungen als Betrachter*in, die in einem weder eindeutig männlichem noch weiblichem Gesicht die Idee von „Queerness“ „realisiert“ sehen. Doch auch das ist nicht immer der Fall, denn für viele, die mit dem Konzept nichtbinärer geschlechtlicher Identität nicht bekannt sind oder die Möglichkeit eines Zusammenhanges nicht sehen, wirken die „Queers“ nicht „queer“ sondern einfach nur verstörend. Bilder, die anstatt der Geschichte einer heimeligen und nostalgischen Vergangenheit auf einmal etwas ganz Anderes erzählen.
Sabrina Jung bedient sich in ihrem Werk intensiv analoger und digitaler Collagetechniken. Ihre fotografisch basierten Bilder bleiben dabei selten Repräsentationen ihrer Ursprungssituation. Obwohl sie weiterhin wie Fotografien anmuten, werden sie erst durch gezielte Eingriffe der Künstlerin, wie nachträgliche Kolorierung oder digitale Montage verschiedenen fotografischen Materials, zum „Bild“. In einer der jüngsten Serien mit dem suggestivem Titel „After Nature“ (2021) begegnet man Naturaufnahmen, die mit farbigen Lichtreflexen, einer unbestimmbaren, verschwommenen Perspektive und Strukturen, die nur teilweise aus der Natur stammen, eine hybride, unnatürliche Atmosphäre mitbringen. „After Nature“ scheint auf poetische Weise einen Blick auf die natürliche Umgebung widerzuspiegeln, der durch die flirrende, hochglänzende, eine ständige Überlagerung von Bilder provozierende digitale Welt der Smartphone und Computerbildschirme verfremdet ist, auch wenn dabei ästhetisch reizvolle Eindrücke entstehen. Wie bei den „Queers“ geht es auch in anderen Serien der Künstlerin um das Verhältnis zwischen dem Bild und dem Betrachter durch die Konstruktion einer Fotografie, die entgegen der Erwartungen völlig uneindeutig ist.
Anhand geschlechtlich ambiguer Porträts bringt Sabrina Jung das Thema Queerness ins Gespräch, ohne eine eindeutige Angabe dazu zu machen, was die Betitelung der Serie als „Queers“ eigentlich impliziert. Doch in dieser Vagheit liegt die Stärke der Werke. Gesichter, die sich nicht einordnen lassen, von wem oder von wann sie stammen, geben nicht etwa Vorschläge, wie sich queer-Sein als äußeres Erscheinungsbild gestalten könnte. Die „Queers“ experimentieren mit unserem Blick, der versucht Queerness „erkennen“ zu können. Diese Spiegelung und Widerspiegelungen von Einstellungen zum Thema queerer Identität ist ein hochkomplexer Vorgang, den die Künstlerin hier erreicht. Durch die Unruhe, welche die Fotografien dadurch auslösen, nicht eindeutig zuordbar zu sein, weisen sie auf viele weiterhin bestehende Unsicherheiten gegenüber nicht-binären Geschlechtermodellen hin. Dabei legen sie Prozesse der Wahrnehmung frei, die sich größtenteils im Unbewussten abspielen. Ich sehe die „Queers“ von Sabrina Jung daher in einer Diskussion, die sich mit experimentellen künstlerischen Formen der Repräsentation mit Queerness auseinandersetzt. Denn mit ihren scheinbar „queeren“ „Porträts“ hat Sabrina Jung einen fiktiven und dennoch sehr realen Raum geschaffen, in dem wir unsere eigene Einstellung in Hinsicht auf das Thema queerer Identität überprüfen können und so Gelegenheiten für eine breitere gesellschaftliche Debatte eröffnet.