Häuslichkeit ist heute in Verruf geraten. Dennoch ist die innere Sehnsucht nach der heilen Welt des Heims ständig präsent und flammt immer wieder auf, wenn man nostalgische Gegenstände wie eine Stoffservierte oder ein hübsches Marmeladenglas in der Hand hält. Die amerikanische Künstlerin Michelle Grabner, die zurzeit in der Einzelausstellung Margarine in der Galerie Gisela Clement zu sehen ist, untersucht die künstlerischen Potentiale, die der Bereich des Häuslichen und der Heimarbeit mit sich bringt. Dabei interessieren sie vor allem zwei Aspekte: das Handwerkliche und wiederkehrende Muster. Grabner befreit diese Merkmale und die ihnen hinterliegenden Techniken, wie das Weben, Stricken und Drucken, von den Klischees, die üblicherweise mit diesen verbunden sind und rückständige Ideale evozieren. An ihrer Stelle definiert sie ein neues Terrain, das im vermeintlich Altmodischen nach Strukturen der Wiederholung, Serialität und Sequenzierbarkeit sucht. In einem für das Minimale eigentlich unüblichen Bereich, dem Heim und seiner Objekte, stößt Michelle Grabner so zu einem neuen Minimalismus vor. Ihr künstlerisches Schaffen erodiert damit bewusst die Grenzen zwischen Handwerk und Kunst und umgeht die Kategorien von Tradition und Moderne.
Charakteristisch für ihre Herangehensweise ist eine Wandinstallation aus fünfzehn großformatigen Papierbögen, auf denen quadratische Muster von Papierservierten aufgebracht sind und die großflächig auf einer Wand in einem der oberen Galerieräume zu sehen sind („Untitled“, 2022). Da die Muster so tief und präzise in das raue Papier eingeprägt sind, wirkt die Optik wie Siebdruck. Manche der collagierten Oberflächen zeigen das emblematische Vichy-Karomuster, das ein wiederkehrendes Motiv in Grabners Werk ist, andere bestehen aus feinen Linien und Umrandungen. Das Farbschema ist genauso wie die zufälligen Kompositionen aus Serviertenmustern bestechend simpel: Grün, Rot, Blau, Orange. Diese Arbeit begeistert auch, weil sie die ästhetische Vorgehensweise der Künstlerin illustriert: Aus Gebrauchsprodukte werden malerische Elemente, das Handwerkliche erhält eine prozessuale Qualität, das Muster wird zum Raster.
Graphische Strenge und mathematische Wiederholung entkoppeln die verwendeten Materialien aus ihrem häuslichen Kontext und rücken die Geometrie in den Vordergrund. Gleichzeitig versuchen die sich überlappenden Ornamente auch nicht etwas anderes zu sein, was sie sind. Durch Michelle Grabners Arbeiten wird die Wiedererkennung von Mustern zu eine Art Seh-Spiel, das einen durch die Ausstellung leitet. So kehrt das Vichy-Karo auf einer Reihe Terrakotta-Ziegel wieder, die am Boden aufgereiht sind. Der weiße Stuckauftrag, der über die Ränder der Ziegel hinausgeht, bewirkt, dass die Zeichnungen sehr plastisch wirken. Durch ihren skulpturalen Charakter wirkt die Ausarbeitung des Vichy-Karos hier wie eine Fortsetzung der runden Deckel aus Bronze, mit denen die Künstlerin in einer früheren Werksserie die Verzierung der ikonischen Marmeladengläserdeckel der Marke Bonne Maman in eine massives Objekt übersetzt hat.
Es ist mehr als das Dekorative, das die Künstlerin zu diesem Muster zieht. Kulturhistorisch hat das Vichy-Karo eine interessante Geschichte, da es bis es allgemein populär wurde hauptsächlich von Webern in Frankreich hergestellt wurde. Durch das einfache Webverfahren, das dennoch eine abwechslungsreiche Optik erreicht, ließen sich Gebrauchstextilien in großen Mengen produzieren, weswegen es besonders in der Kleidung von Bauern und Arbeitern verwendet wurde. Erst seit wenigen Jahrzehnten hat es die Industrie als Marketingtool entdeckt, mit dem insbesondere bei französischen Lebensmitteln wie Käse und Marmelade Qualität und Handarbeit signalisiert werden. Michelle Grabner treibt in ihren Arbeiten dieses „Image“ handwerklicher Sorgfalt und häuslicher Idylle immer weiter, bis die stetige Vervielfältigung es schließlich dekonstruiert, ohne es in irgendeiner Weise abzuändern oder in seine Struktur einzugreifen.
Die Künstlerin interessiert noch aus einem weiteren Grund an textiler Web- und Handarbeit. Es handelt sich um das simple technische Prinzip des Garns und der bewusst eingeplanten Lücke, das jedem Gewebe unterliegt und das sich im Prinzip unendlich fortsetzen lässt. Michelle Grabner sieht in der Handarbeit somit eine Struktur aus Negativ- und Positivräumen, die an sich komplex ist und sich mit ästhetischen Idealen und technischen Vorgehensweisen der zeitgenössischen Kunst vereinen lässt. Um diese Prinzipien abzubilden hat Grabner ein neues künstlerisches Verfahren entwickelt, das sich in einer Werkserie niederschlägt, die in ihrem fragilen, fast transparenten Ausdruck ganz anders wirkt als die bisherigen stark farbzentrierten Arbeiten („Untitled“, 2022). Die in breiten weißen Rahmen eingefassten fünfzehn Malereien, die alle in einem quadratischen Format gehalten sind, erinnern vom Weiten her in ihrer Größe und durch die zarten Ornamente an blasse, kunstvolle Fliesen. Erst allmählich erkennt man darauf feine regelmäßige Strukturen in Pastellfarben wie Hellgrün, Grau oder Gelb, die sich von dem beige-weißen Hintergrund abheben.
Die skulpturale Qualität der aufgetragenen Muster, die aus zahlreichen einzelnen Punkten aus Ölfarbe und Emaille zusammengesetzt sind und sich zu Netzen- und Gitterstrukturen zusammenfügen, lässt einen an ausgebleichte Korallen- oder Seeigelskelette denken. Die Magie dieser Arbeiten liegt auch in ihrer Entstehungsweise. Die Künstlerin hat eigene Strickarbeiten verwendet, durch deren Lücken sie die Farbe auf die Leinwände verteilt hat. Indem Michelle Grabner das Handwerkliche in den künstlerischen Prozess einbindet, stellt sie die Unterscheidungen zwischen Handwerk und Kunst in Frage. Denn im abgeschlossenen Werk sind diese Komponenten gar nicht mehr in der getrennten Weise erkennbar, die allgemein vorausgesetzt wird. Nicht zuletzt werden Strickarbeiten und Heimtextilien häufig mit Sprache gleichgesetzt, da sie historisch einen der wenigen Bereiche darstellten, in denen sich Frauen frei ausdrücken konnten. Indem sich durch das Ausarbeiten der Negativräume eine Art „Botschaft“ des gestrickten Gewebes nun auf der Leinwand abzeichnet, scheint dieser kommunikative Aspekt in den Malereien wiederzukehren.
Wie das in Handarbeit angefertigte Textil als codiertes Objekt aus der Sphäre des häuslichen Gebrauchs abstrahiert wird, zeigt auch eine fotografische Collage aus 21 einzelnen fotografischen Digitaldrucken, in denen die Künstlerin unzählige Häkeldeckchen aus dem Nachlass von Alice Austen (1866–1952), einer selbstbestimmten Pionierin der Fotografie in Amerika, geschichtet hat. Die dekorativen Untersetzer haben einst einer emanzipierten Frau gehört, die in einer offenen lesbischen Beziehung lebte und bringen so eine gewisse Widersprüchlichkeit mit sich. Denn die Bilder der Deckchen erinnern daran, wie sich ihr Bild gewandelt hat. Heute stehen solche Häkeldecken synonym für die Marginalisierung der Frau, damals aber waren sie weit verbreitete Gebrauchsgegenstände, deren Herstellung eine Einkommensquelle war und die nichts über die Besitzer*innen aussagte. Gleichzeitig kommt beim Anblick dieses gigantischen fotografischen Ornamentes ein anderer Gedanke auf. Nach über hundert Jahren könnte man diese Deckchen noch benutzen, während unser Alltag von billigen Wegwerfprodukten aus Kunststoff geprägt ist. Michelle Grabners Kunst sensibilisiert dafür, außerhalb von Schubladen zu denken und die Welt „üblicher“ Dinge neu zu entdecken. Ein Video, das eine nahezu arkadischen Ausblick auf eine italienische Landschaft zeigt, aber vom rechten Rand her durch ein bedrucktes rotes Geschirrtuch verdeckt wird, das im Wind weht, illustriert diese Gedanken sehr deutlich. Wertet die Verhängung durch ein Küchentuch das Bild ab oder handelt es sich um eine Ergänzung? Genau solche Paradoxien sind es, worauf Michelle Grabner in ihrer Kunst hinzielt.
An Margarine schließt im Projektraum im Erdgeschoss die Gruppenausstellung Woven Roving an, zu der Michelle Grabner sieben Künstler*innen eingeladen hat, die größtenteils aus dem Kreis ihrer Schüler*innen stammen. Allen diesen Positionen liegt die Beschäftigung mit Textilen und Papier zu Grunde, die als Materialien beide aus Fasern bestehen und somit jenes Spannungsverhältnis zwischen Textur und Lücke aufgreifen, das Grabners Arbeitsphilosophie kennzeichnet. Die Künstler*innen setzten sich mit der Wandelbarkeit dieser Materialien auseinander und erkunden durch Erweiterungen und Materialkombinationen ihr kommunikatives Potential. Polly Apfelbaum etwa hat aus einzelnen Webarbeiten, die aus buntem Garn geknüpft sind, raumgreifende Bahnen gefertigt, die ein schier unerschöpfliches Panorama an Webfragmenten bieten uns so wieder ein narratives Element mitbringen. Von der Narration zum Code geht es in Rose Dicksons Arbeit, die aus einem handgeknüpften Teppich besteht, auf dem man eine rote und eine grüne Rosette sieht, deren Blätter unterschiedliche Symbole beinhalten. Diese verschnörkelten Zeichnungen setzten sich in zwei Ketten aus einzelnen, gebogenen Metallgliedern über dem Teppich fort, die an Buchstaben einer unbekannten Sprache erinnern.
Dieses Prinzip von Erweiterung und Sequenz, Code und Kommunikation setzt sich auch bei Molly Zuckermann-Hartung fort, die ein locker gehängtes Stück Stoff präsentiert, auf das Buchstabenfolgen in einem altertümlichen Schriftstil gezeichnet sind, die wie eine Stickerei anmuten. Das Erscheinen rätselhafter Schriftzeichen bringt direkt etwas Biblisches mit, zahlreiche solcher Ereignisse sind besonders aus dem alten Testament bekannt. Lilah Fowler wiederum kombiniert traditionelle Webtechnik mit digitalen Verfahren, indem sie die Muster der Webstücke am Computer programmiert. In ihren Arbeiten kollidieren so Folkart, in deren Kontext das Weben oft gesetzt wird, und die zwischen Figürlichkeit und Abstraktion schwankenden digital generierten Motive. Mit Codes und Konnotationen setzt sich auch die Installation von Caleb Schroder aus Textilfragmenten typischer karierten Arbeiterhemden zusammen, die in den USA ursprünglich von bestimmten handwerklichen Berufsklassen wie Holzfällern getragen wurden. Mittlerweile sind sie ein popkulturelles Symbol für Männlichkeit und Stärke geworden und transportieren so Ideale und Stereotype, mit dem sich der Künstler seit der Kindheit konfrontiert sieht.
Noelle Africh hat handelsübliche Papierservierten so stark mit Graphit bearbeitet und verformt, dass sie durch ihre mattgraue, plastische Oberfläche an Bronzeskulpturen erinnern. Damit bildet ihr Werk eine interessante Parallele zu Michelle Grabner, die textile Strukturen ebenfalls in Bronze überträgt und so unwirkliche und dennoch sehr präsente Objekte schafft. Struktur, Code und Ornament kommen schließlich auch in einer Gouache-Zeichnung von Stephen Westfall zusammen, die in unglaublicher Präzision ein farbiges Rautenmuster zeigt, das dem Kostüm eines Harlekins entstammen könnte und mehr wie ein Digitaldruck erscheint. So, als wollte sie präsent sein, aber ihre Mitstreiter*innen auf keinen Fall stören, präsentiert Michelle Grabner selbst im Projektraum eine Art Picknick aus Vichy-Karo-Objekten, die auf einer Decke aus geblümten glasierten Fliesen ausgelegt sind. Beide Projekte der Galerie Gisela Clement rücken so eine in Deutschland bisher kaum bekannte Künstlerin und Kunstprofessorin mit ihren Kolleg*innen in den Fokus, die in Amerika hoch anerkannt ist und erst vor Kurzem mit dem renommierten Guggenheim-Preis ausgezeichnet wurde, der besondere akademische und künstlerische Leistungen honoriert. Was aber besonders begeistert, ist, wie unbeirrbar Michelle Grabner als Künstlerin ihr eigenes Schaffenszentrum im bisher peripheren Bereich von Heim und Handarbeit gefunden hat, den man eigentlich nur meint längst zu kennen.