Seit der Entstehung der konstruktiven Kunst in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts spielt das Raster in der westlichen Kunstwelt eine bedeutende Rolle. Geometrische und mathematische Prinzipien, welche die Gestaltung stringenten Ordnungssystemen unterwerfen, stellen weiterhin eine prominente künstlerische Strategie dar. Doch fallen alle diese Positionen tatsächlich in die gleiche Kategorie? Ausgehend von seiner eigenen Praxis hat der Künstler Roman Lang zwölf Künstler*innen in die Galerie Gisela Clement dazu eingeladen, die Bedeutung des Rasters als formelles Mittel in der zeitgenössischen Kunst neu zu erkunden. In OFF THE GRID sendet Roman Lang, dessen Werk selbst von der konstruktiven Kunst inspiriert ist, den Gedanken voraus, dass die Beschäftigung mit Mustern sich niemals rein auf die regelmäßige Wiederkehr von Form und Farbe reduzieren lässt, sondern stets auch übergeordnete, gesellschaftliche Strukturen und Systeme reflektiert. OFF THE GRID erforscht in diesem Zusammenhang, inwiefern sich der Begriff des Rasters auf die Arbeiten verschiedener internationale Künstler*innen übertragen lässt. Vielmehr als potentielle Ähnlichkeiten interessieren den Kurator die Stellen, an denen die einzelnen Positionen das Prinzip des Rasters erweitern oder sogar sprengen.
Der besondere Twist an dem Projekt ist, dass Roman Lang dem Ausstellungskonzept selbst ein rigides Schema auferlegt hat, das von allen Teilnehmenden eine strenge Gleichmäßigkeit verlangt und eine Art planerisches und logistisches Raster bildet. Alle Arbeiten fügen sich in ein bestimmtes Maß, das etwa 40 x 40 cm beträgt und dafür angelegt ist, dass die Werke sich einfach und ressourcenschonend transportieren lassen. Denn OFF THE GRID ist als mobile non-profit Ausstellung konzipiert, die nach der Erstpräsentation in Bonn weiter nach Sidney geht und den Anspruch hat, sowohl überall realisierbar zu sein als auch neue Impulse aufzunehmen. Eine neben den Arbeiten platzierte Transportbox und ein Plakat verweisen darauf, dass das Konzept der versendbaren Ausstellung einen konstitutiven Faktor von OFF THE GRID bildet. Aus dem eher kleinen Format der Werke hat sich auf Ebene der Präsentation in der Galerie Gisela Clement ein weiteres Raster ergeben. Die Arbeiten in den beiden vom Treppenhaus abgehenden Kabinetten gehängt, nahezu quadratische Raumnischen mit niedriger Decke, die in ihrer architektonischen Strenge ebenfalls eine rasterähnliche Vorlage bilden.
Aus stilistischer Sicht gesehen gibt es ganz sicher einen Begriff, der in OFF THE GRID verworfen wird und der häufig im Zusammenhang mit konstruktiver Kunst erwähnt wird. Es handelt sich um das Prinzip der Einheitlichkeit. In der Beschäftigung mit und Verarbeitung von linear-formellen Strukturen weisen die Werke eine hohe ästhetische und gestalterische Vielfalt auf. Während die Künstler*innen das Raster als Prinzip grundsätzlich aufgreifen, bewegt sich die konkrete Ausgestaltung jedes Mal in völlig neue Richtungen. So basiert Richard Schurs Acrylmalerei auf in Form gefrästem Masonit (Holzfaserplatte) auf geometrischen Farbfeldern, die eine strenge Regelmäßigkeit nachempfinden. Durch den Verlauf der Kanten der bemalten Platte, die einen angeschnittenen Kreis und Rechtecke bilden, brechen die farbigen Felder aus und erweitern sich potentiell in den Raum. Während Richard Schurs Werk sich noch relativ nahtlos in die konstruktive Kunst einreiht, behauptet sich Theresa Webers Arbeit, die eine Art Gitter zeigt, das die Künstlerin anhand von unkonventionellen Materialien wie Silikon und Kunststoffplättchen auf den Bilduntergrund aufgetragen hat, auf einem ganz anderen Terrain. Wie der Titel „Colonial Landscape“ andeutet, greift Theresa Weber in ihrer Arbeit, die sich zwischen Skulptur und Malerei befindet, die Grenzlinien auf, die Kolonialmächte willkürlich wie ein Raster Kontinenten und Völkern aufgezwungen haben.
Die Werke der amerikanischen Künstlerin Michelle Grabner und der Britin Clare Goodwin scheinen auf dem ersten Blick mit ihren Karo- und Schachbrettmustern die Idee des Raster auf nahezu typische Weise abzubilden. Beschäftigt man sich genauer mit den Arbeiten erkennt man jedoch, dass die Werke diesem Schema nicht ganz entsprechen. So ahmt Michelle Grabners Objekt nur oberflächlich einen populären karierten Marmeladendeckel nach, denn das Muster ist auf solide Bronze gemalt, was ihm eine irritierende Schwere verlieht. „Ceramic Whisper (Grid Whisper)“ von Clare Goodwin hingegen ist eine Keramikarbeit, auf die minuziös ein Schachbrettmuster glasiert ist, das auch ein Küchenfußboden sein könnte. Im Rahmen von Regelmäßigkeit und Muster schaffen beide Künstlerinnen so rigide Strukturen, die gleichzeitig auf das Thema Häuslichkeit und die damit verbundenen Kontroversen verweisen. Franziska Reinbothe, die in ihren Werken das Grundmaterial der Malerei, die Leinwand, zu immer neuen Gebilden biegt, bemalt und schichtet, sprengt mit ihrer Plastik aus hintereinander gefalteten, mit türkiser Acrylfarbe bemalten Leinwandfragmenten sowohl stilistisch als auch formell den Rahmen. Durch seinen Anspruch, Raum zu nehmen, begehrt ihr Werk gegen die auferlegten Vorgaben auf.
Franziska Reinbothes Geste des Durchbruchs ist so markant, da die Vorgabe, sich Einzupassen, ein wesentliches Element der Ausstellung ist, das konsequenterweise auch das Gesicht der Präsentation bestimmt. Die Auswahl kleiner Arbeiten hat zur Folge, dass manche Künstler*innen manchmal anhand einer Miniaturausgabe ihres Gesamtwerkes repräsentiert sind. Jan van der Ploeg etwa ist für seine raumgreifenden, geometrischen Wandarbeiten bekannt, die ganze Umgebungen in beeindruckende Ensembles aus Formen und Linien verwandeln. In OFF THE GRID zeigt der Künstler eine grafische Malerei, die ein Muster aus zackigen, doppelt gezogenen schwarzen Linien auf weißem Hintergrund trägt und wie ein Ausschnitt aus einer viel größeren Formation wirkt. Auch Martin Pfeifle bewegt sich mit seinen skulpturalen Interventionen in Außenräumen, anhand derer er sowohl existente Strukturen umwandelt als auch Bestehendem neue Raster auferlegt, in größeren Dimensionen. Für die Ausstellung hat der Künstler ein quadratisches Gitter aus schwarzen Silikonfäden geschaffen, das als Schema nun in dieser Situation interveniert, ohne den anderen Positionen in die Quere zu kommen. Auf diese Weise verdichtet sich in den Positionen von OFF THE GRID oft die ästhetische Intention der Künstler.
Je mehr man sich mit den einzelnen Werken beschäftigt, desto mehr treten hinter dem visuell stimmigen Konzept mit seinen sich harmonisch ergänzenden Raster-Auseinandersetzungen Komplexität und Brüche hervor. So einfach sich die Struktur eines Rasters beschreiben lässt – mit einem Papier und einen Bleistift, wie Roman Lang es selbst formuliert – sind die künstlerischen Möglichkeiten der Anwendung des Rasters unbegrenzt. Dies liegt auch daran, dass das Raster im technischen, architektonischen aber auch gesellschaftlichen Bereich niemals als Solches in Erscheinung tritt. Raster werden als Hilfsmittel angewandt, um bestehende Strukturen analysieren und anpassen zu können. Dieses Prinzip der Vereinheitlichung hat besonders dann, wenn es um die Organisation von Menschen und deren Bedürfnissen geht, nicht zuletzt eine gesellschaftlich höchst kritische Komponente.
Diesen gesellschaftlich heiklen Aspekt des Rasters greifen die Positionen in OFF THE GRID auf, indem sie in ihren kompositorischen Entscheidungen die Möglichkeiten und Grenzen von Schemata immer wieder hinterfragen und herausfordern. Die gleichzeitig konstitutive wie einschränkende Funktion von Rastern untersucht Adam Rabinowitz (lebt und arbeitet in Los Angeles), indem er vor einem farblich changierendem Hintergrund drei geöffnete Münder in minuziösen schwarzen Strichen malt, deren Konturen sich überlappen und die durch das harte Muster wie paralysiert wirken („Eye Mouth“). Die dominante grafische Optik von Rabinowitz psychedelischer Malerei, die von Disneyfilmen und amerikanischer Nachkriegskunst inspiriert ist, macht darauf aufmerksam, dass der Begriff des Rasters ursprünglich aus der Optik stammt und zur Messung der Qualität analog und digital wiedergegebener Bildern angewendet wird.
Eine leicht spielerische Realitätsverschiebung vollziehen auch Maik und Dirk Löbbert in einer Fotografie eines unvollendeten Gebäudes im Brachland, vor dem ein Oldtimer platziert ist und die an sich schon verdächtig wirkt („Eroscenter“). Die Künstler füllen die Leerstellen des Betongerippes und die Fensters des Autos mit bunten Folien und erzeugen durch die neue Optik so Spekulationen über die Funktion der vorgefundenen Strukturen. Anhand von Seide, die auf einen Glasspiegel aufgezogen ist und der von einer Multiplexplatte gehalten wird, kreiert Timo Kube wiederum eine perfekte, kupferfarbene Oberfläche, die zur Spiegelung einlädt, die dann aber durch die feinen Netzstrukturen der Seide verwehrt werden. Wie viele andere Positionen der Ausstellung fordern diese Werke durch ihr optisches Spiel die Wahrnehmung der Betrachter*innen heraus, die unbewusst immer nach Rastern sucht.
Während die bereits erwähnten Künstler*innen das Prinzip des Schemas in sehr unterschiedliche und teils völlig anders gelagerte Richtungen entwickeln, bringen die in New York lebende Künstlerin Joan Waltemath und der ungarische Künstler István Haász das Thema Raster sozusagen wieder back to basics. Wie auch in der hier zu sehenden Zeichnung von Joan Waltemath, der ein Gitter aus feinen Bleistiftlinien unterlegt ist, in das die Künstlerin teils entsprechend, teils unterbrechend, neue Strukturen zeichnet, verfolgen ihre Werke die Idee einer strukturellen Perfektion, in denen der Zufall immer wieder die mathematische Regelmäßigkeit durchbricht. István Haász überträgt die strenge Linearität der Konstruktivisten in seine skulpturalen Bildern aus Holz und Karton, indem er den dreidimensionalen Bildraum ebenfalls in geometrisch gleichmäßige Felder aufteilt. Beide Künstler*innen bezeichnet Roman Lang als prägende Persönlichkeiten für sein Werk, das hier ebenfalls anhand einer seiner Malereien präsentiert ist. Die mit strahlenden Farbflächen und Gittermustern bemalte und besprühte Multiplexplatte scheint sich durch ihre herausreichenden Kanten, die in Form von Rechtecken gefräst sind, ständig zu verschieben.
Roman Langs Ausstellung OFF THE GRID unterzieht den Begriff des Rasters, wie er aus der konstruktiven beziehungsweise konkreten Kunst bekannt ist, in mehrfacher Hinsicht einer ausführlichen Überprüfung. Der Kurator und Künstler lässt nicht nur verschiedene zeitgenössische Konzepte des Musters und der linearen Regelmäßigkeit in Dialog treten. Mit ihren strikten Maßvorgaben und dem Anspruch der Erweiterbarkeit auf mehrere konsekutive Ausstellungsorte kann man OFF THE GRID auch als Experiment betrachten, das versucht festzustellen, inwiefern das Prinzip des Schemas sich auf die Planung eines Ausstellungskonzeptes anwenden lässt. Anhand des Erweitern und Durchbrechen von Rastern hinterfragen die einzelnen Künstler*innen auch immer wieder den Begriff des Rasters, wie er im übergeordneten, gesellschaftlichen Sinne angewandt wird. Durch die wiederkehrende künstlerische Untersuchung dieser Grenze, ab der die ordnende Funktion eines Rasters in sanktionierende Kontrolle umschlägt, zeigt Roman Lang somit auch, dass die Auseinandersetzung mit dem Raster in der aktuellen zeitgenössischen Kunst keineswegs trivial ist.