Der Sprung in der Kunst von analoger zu digitaler Fotografie war spektakulär, aber tatsächlich hat er uns relativ unbeeindruckt gelassen. Denn die Fotografie erzeugt weiter Abbilder. Was ist aber, wenn das fotografische Verfahren die Realität, die es abbildet, selbst generiert? Eine von Michael Reisch und Falko Alexander kuratierte Ausstellung in Köln, Photo /Icon, zeigt anhand einer Auswahl die Möglichkeiten datenbasierter Bildverfahren auslotender künstlerischen Positionen, dass dieser unbegreifliche Eingriff längst Vokabular digitaler Fotografie ist. Durch klug im Bild angelegte Schwellen, die die Wahrnehmung des Betrachters an einer kritischen Stelle festhalten, beleuchtet die Ausstellung die Entstehungsbedingungen einer Fotografie, die wir nur noch als solche bezeichnen, weil ein neuer Begriff fehlt. In Werken subtiler ästhetischer Anziehungskraft zeigt Photo / Icon, dass wir uns mit den Optionen des Fotografischen heute in einem Feld befinden, von dem wir außer dem Produkt so gut wie nichts kennen.
Die Ausstellung ist zum einen eine Begegnung mit Bildern, die eine fotografische Anmutung besitzen, aber nicht durch ein im strengen Sinne fotografisches Verfahren entstanden sind, zum anderen sieht man scheinbare Abbildungen von Dingen, die es nicht gibt, sowie im ersten Moment dechiffrierbare fotografische Kompositionen, in denen visuelle Oberfläche und prozessualer Hintergrund weit auseinander fallen. Ein Einstieg in diesen Komplex bieten Alex Greins digitale Fotografien von winzigen Gegenständen, die sie auf einem Smartphonedisplay fotografiert hat. Das fertige Bild ist eine Fotografie nach gewohnter Definition, in der jedoch die einzelnen Bildebenen untrennbar in eine neue Fläche eingegangen sind, die jedoch eine Illusion ist. Ein Krug scheint von einem High-End Küchen-Marmorboard zu fallen, doch diese Umgebung ist lediglich der vom Smartphone generierte Displayhintergrund. Das ganze Verfahren ist mit dem Auflegen von Gegenständen hoch manuell, verrät sich selbst durch Changierungen im Bild, wie sie durch das Abfotografieren von Bildschirmen passieren. Am Ende steht ein digitales Foto anhand neuster hochauflösender Technik. Dieser technische Gegensatz bringt eine Spannung in das Bild, die vielleicht nicht sichtbar, aber spürbar ist und zu Fragen hinsichtlich der Definition des Entstandenen anregt.
Wie eng das fotografische Bild mit dem Bedürfnis einer Objektbegegnung verknüpft ist, zeigen auch die Bilder des Duos Banz+Bowinkel von technischen Gegenständen, die ein wenig an altmodische, analoge Bildschirmapparate erinnern. Gehalten in einer Skala gedeckter grauer, ockerroter bis grünlicher Farben und eleganter Formen haben die schlichten Apparate eine Vintage Ästhetik. Doch je näher man sich mit den Objekten beschäftigt, merkt man, dass es sich um digital konstruierte Fantasieobjekte handelt, die durch ihr vage in unserem Gedächtnis abgespeichertes Bildvokabular von Monitorgeräten gerade unsere Ansprüche an Authentizität erfüllen. Das einzig Authentische in diesen Geräten sind die weißen Bildschirme, in denen sich wie durch eine fotografische Aufnahme erzeugt Lichteffekte der Umgebung spiegeln. Die Bildschirme sind gleichermaßen eine Referenz für die Entstehungsoberfläche jedes digitalen Bildes.
Obwohl das Prinzip der Fotografie als abbildende Technik durch die Unsicherheit des Status des Abgebildetem beginnt ungreifbar zu werden, rückt auch eine weitere Arbeit grundsätzlich nicht von der Idee des abgebildetem Objektes ab – obwohl unter der Oberfläche eigentlich etwas ganz anderes passiert. Michael Reisch setzt mit seinem Ansatz der fotografischen Kunst quasi in der Wiege jedes digitalen Bildes an, indem er mit den Werkzeugen digitaler Fotobearbeitung abstrakte Bilder schafft, die aus den Regeln der dem Programm hinterliegenden Algorithmen generiert werden. In der Ausstellung begegnet man mit UV-Druck auf Aluminium Platten gedruckten Fotografien von an gefaltete Kautschuk-Blöcke erinnernden Objekten, die auf Grundlage der ,,Einlesung“ dieser Algorithmus basierten Bilder durch einen 3D Drucker entstanden sind. Über die Anwendung höchstkomplexer, zwischen 2D und 3D alternierenden Verfahren, die über die digitale Kameratechnik in jedes Bild, was wir machen, eingreifen, bildet Reisch in der Form eines fotografischen Kunstwerkes Mechanismen ab, die unsichtbar sind, aber als ,,Abdruck“ des jede digitale Aufnahme aus Millionen Codes konstituierenden Algorithmus vielleicht die einzig wahre ,,reale“ Substanz des Bildes darstellen. Vor diesem Hintergrund ist es um so reizvoller, fassbaren Objekten zu begegnen, die eben weil es sie so gar nicht geben dürfte, Zweifel aufwerfen, bis zu welchem Grad wir tatsächlich das Potential digitaler bildgebender Verfahren unter Kontrolle haben.
Beate Gütschows Bilder entfernen sich vom Objekt und gehen hin zu der Konstruktion von Räumen, die aus verschiedenen fotografischen Realitäten bestehen. Obwohl diese Räume eindeutig nicht wirklich sind, springt die Wahrnehmung in den urban anmutenden Umgebungen wie einen mit Pflaster umrandeten Park oder eine Art Sandspielplatz aus Ziegel- und Betonmauern ständig zwischen der flächigen, digitalen konstruierten Ebene und Elementen, die etwas ,,Existentes“ scheinen wiederzugeben, hin und her. Gütschow benutzt das Programm der Photogrammetrie, das Einzelaufnahmen um Körper legt und so Objekte erzeugt, die eine perspektivische 3D Illusion besitzen. So werden aus Fotografien von Betonoberflächen oder Graffitiwänden Mauern und Treppen. Diese fotografischen Fragmente hat Gütschow nach einer unseren Sehgewohnheiten sehr ungewöhnlichen Perspektive angeordnet, nämlich der fluchtpunktlosen Parallelperspektive, wie sie in Computerspielen angewandt wird aber auch etwa aus mittelalterlichen Darstellungen bekannt ist. In einem durch digitale fotografische Techniken erzeugtem Bild von Scheinräumen, trifft man so auf eine den Blick nirgendwo ankommen lassendes perspektivisches Gebilde, das in der Fotografie selbst unmöglich ist.
Achim Mohnés Arbeit, ein 3D Print der Google-Earth Satellitenbild Ansicht der Straßenkreuzung, an der die Galerie Falko Alexander mit ihren umgebenden Gebäuden liegt, wirft ebenfalls Fragen auf hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Fotografie und der Wiedergabe von Umgebungen, eine dokumentarische Praxis, die sicher als eine der großen ,,Funktionen“ der Fotografie betrachtet wird. Die Miniatur der Häuser, Hinterhöfe, Straßen, Bäume und Autos ist im Ganzen ein vollständiges Abbild, wirkt aber irgendwie fehlerhaft und defekt, indem die Fassaden eben genau die verwischten Bilder wiedergeben, die aus dem Zusammenschnitt von tausenden Einzelbildern von Satelliten, mobilen Straßenkameras und anderem Material im Programm Google Earth und Streetview entstehen. Mohnés Entscheidung, diese Bilder wieder in ein analoges Modell zu übersetzen, stellt eine humorvolle Rückaneignung dar, die einen doch spüren lässt, wie Algorithmen beständig dabei sind, unsere Welt rechnerisch zu erfassen und deren Produkt so glaubhaft erscheint, da es immer noch als ,,Fotografie“ gilt.
Weitere Arbeiten setzen das Bearbeiten eines immer anderen Aspektes fotografischer technischer Verfahren fort, die in sich bennenbar sind, deren künstlerisches Ergebnis jedoch fremd in der Kategorie der ,,Fotografie“ erscheint. So entstehen bei Ria Patricia Röder durch das Auflegen von Bildfragmenten und Objekten auf einen Scanner reizvolle Bildcollagen, in denen Dinge, Muster und Formen in verschiedenen Ebenen zu schweben zu scheinen, ein Eindruck, der sehr schwer mit der streng flächigen und in der Aufnahme extrem begrenzten Technik des Scannens zusammenzubringen ist. In Roland Schapperts Werk begegnet man auf schwarzem Aluminium gedruckt silber-grünlichen Körpern, die in Form und Struktur an Querschnitte von Knochen erinnern. Diese undefinierbaren Formen haben jedoch einen Ursprung in der Realität und sind tatsächlich Abbilder, wenn auch ein mehrstufiger, die Pole von Objekt und Abbild auflösender Prozess von anfänglichen Holzquaderkonstruktionen zu analogen Bildern dieser Objekte, zu erneuten darauf basierend konstruierten Prototypen dazwischen liegt, an dessen Ende schließlich die amorphen Formen stehen, die auf Grundlage digitalisierter schwarz-weiß Kopien auf den Bildhintergrund gedruckt werden.
Arno Becks und Florian Kuhlmanns Werke zeugen beide auf eine trickreiche Art davon, dass man in der Kategorie ,,Fotografie“ auch dann denken kann, wenn gar nicht mit einem Bild, sondern über Sprache oder auch nur mit Buchstaben gearbeitet wird. Beck verlässt die Opposition analog versus digital, indem er sich in die extremste analoge Richtung überhaupt bewegt und mit der Schreibmaschine aus tausenden Buchstaben fotografisch anmutende Bilder tippt, die an ein Produkt eines rudimentären Computerprogramms erinnern, aber als Berg oder Wiese in sich schlüssig erscheinen. Kuhlmanns auf die Wand gedruckter Schriftzug ist keine Fotografie, aber in seiner Aussage höchst fotografisch, indem er in sich eine exakte Wiedergabe des eigenen Datei- und Schriftformats bildet und einen textuellen Verweis auf die mit jedem im Alltag getätigten digitalen Bild mitgespeicherten Geopositionierungs- und Zeitdaten konstituiert. Somit kann Kuhlmanns Arbeit gleichzeitig als Text und als Bild gelesen beziehungsweise gesehen werden, ein medienreflexiver Ansatz, der ebenfalls in der ,,lesbaren“ Arbeit Becks angelegt ist.
Das in der Wirkung imposanteste aber in Hinblick auf den Begriff der Fotografie in der Komplexität auch am schwierigsten einordbares Werk stellt Susan Morris‚ per Archival Inkjet Print gedrucktes großformatiges Bild dar. Mitten auf pechschwarzen Hintergrund schwimmt darauf eine nach unten sich verdünnende weiße Wolke am oberen Bildrand, so als würde Sauerstoff in einem dunklen Ozean an die Oberfläche steigen. Diese ,,Wolke“ aus Millionen einzelner weißer Striche besteht jedoch aus Daten, die an Morris Körper angebrachte Bewegungssensoren aufgenommen haben, während sie in einem eigens für diese Form des Trackings eingerichtetem Motion-Capture-Studio eine Zeichnung angefertigt hat. Ein Teil des 3D Datensatzes, nämlich die Aufsicht, ist so wieder auf die zweidimensionale Ebene überführt, wobei der schwarze Grund gedruckt ist und die weißen Linien durch die Aussparungen entstehen. Auch wenn das entstandene Bild kein fotografisches Abbild der Tätigkeit Morris‘ darstellt, verlässt die Wiedergabe des von den Sensoren aufgenommenen Liniengewirrs das grundsätzliche Prinzip der sich auf das Datenspektrum des Lichts konzentrierenden Fotografie, die Indexikalität, nicht.
Wie sehr auch der Begriff der ,,Fotografie“ im Zentrum der Ausstellung steht, stellt Photo / Icon niemals die Frage, was Fotografie ist – und das ist auch gut so, denn dies würde allen Positionen ihre Eigenständigkeit rauben. Und es wäre langweilig, denn Definitionsversuche haben noch nie etwas in der Kunst besser gemacht. So geht es, wie ich es sehe, mehr um die Idee der Fotografie. Die Kuratoren haben gezeigt, dass sich das technische Möglichkeitsspektrum der digitalen Bildverfahren dermaßen erweitert hat, dass sich die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten vervielfältigen, wir aber gleichzeitig in rasanter Geschwindigkeit die Kontrolle über den Begriff der ,,Fotografie“ verlieren, der in absehbarer Zukunft aber nicht ersetzbar sein wird. Was wollen wir sehen, wenn wir ,,Fotografie“ begegnen? Es ist diese Frage, zu der Photo / Icon anregt, indem sie mit ihrem anregend-herausfordernden Werksspektrum unseren Blick und unsere Wahrnehmung für neue Erfahrungen flexibilisiert.