Das Werk der in Düsseldorf lebenden und arbeitenden jungen Künstlerin Alex Grein wird oft mit einem der größten Fragenkomplexe der zeitgenössischen Fotografie zusammengebracht, der Erörterung des Verhältnisses zwischen Mensch und Dargestelltem. Unmittelbar damit verbundenen: die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Fotografie. Das klingt gewaltig, und ich frage mich, mit welcher Haltung ich nun an Alex‘ Arbeiten herangehen soll. Die jüngsten Arbeiten, denen ich in ihrer Ausstellung artichoke in der Galerie Gisela Clement begegnet bin, gehen meinem Eindruck nach von einer gegenwärtigen, alltäglichen Erfahrungswelt aus. Ich möchte mehr über die Sicht der Künstlerin erfahren und treffe mich mit ihr zum Gespräch in ihrem Atelier im kreativ belebten Stadtteil Düsseldorf-Flingern.
Über einen unscheinbaren Eingang, der unter der Plattform eines Parkplatzes liegt, steigt man in einen Flur aus Beton hinab, von dem hohe, hallenartige und mit Emporen ausgestattete Räume abgehen, einer davon das Atelier der Künstlerin. Alex, mit der ich direkt über eine Menge Dinge ins Gespräch komme, erklärt, das vertiefte Gebäude sei eine ehemalige Squashanlage, die von den Sammlern Rosi und Rudi Dahmen renoviert wurde und deren Räume von Künstler*innen als Ateliers angemietet werden. Im Atelier herrscht eine seltsame Aufgeräumtheit vor. Werke von ihr sind fragmentarisch anwesend, auf einem Tisch an die Wand gelehnt erkenne ich eines ihrer Stilleben aus artichoke wieder, darunter ausgebreitet Fotografien aus der aktuellen Serie miniatury, die ich bisher nur aus dem Internet kenne, und frühere Werke. Bildteile der im tiefen Blau auf Fliesen gebrannten Werksserie erblicke ich auch, auf dem Tisch und gegenüber auf den Boden ausgebreitet.
Das Gespräch mit Alex entwickelt sich um ihre jüngsten Ausstellungen artichoke (Galerie Gisela Clement, Bonn) und miniatury im Muzeum Zamkowe im Schlossmuseum im polnischen Pszczyna herum. Die Arbeiten, die in Bonn ausgestellt waren, sind in erster Linie Abbildungen, Fotografien von Dingen, meist Alltagsgegenständen, die irritierend klar wirken und sich doch nicht ganz in unsere Realität einordnen lassen. Zwei milchig weiße Shampooflaschen ohne Etikett sind wie Säulen hintereinander gereiht vor einem weißen Hintergrund platziert, schattenlos scheinen die anonymen Plastikbehälter in diesen überzugehen (,,Modell“, 2018). Eine ähnliche, entrückte Anmutung zeigt eine Fotografie von einer runden weißen Seife, die ein wenig an ein Ei erinnert, prägnant stecht mittig das Wort ,,Happy“ hervor (,,Happy“, 2018). Nur minimalen Schatten zeigend, lässt sich auch in dieser Aufnahme der Gegenstand, der Rätsel aufgibt, ob das evozierende Wort tatsächlich zu ihm gehört, optisch kaum von dem weiß-verschwommenen Hintergrund trennen. Durch ihren klaren Minimalismus strahlen die Werke eine elegant-stille Ästhetik aus, die so anziehend wie abweisend wirkt. Alex‘ Eingriffe in diese Aufnahmen sind nicht dramatisch und verfremden den Gegenstand nicht grundlegend. Trotzdem entstehen durch ihren spezifischen Blick mit diesen Dingen Situationen, die einem unheimlich vorkommen. Die Gegenstände, die eine beliebige Shampooflasche oder Seife aus unserem Alltagsgebrauch repräsentieren könnten, scheinen ein anderes, eigenständiges Leben angenommen zu haben. Obwohl die von der Künstlerin eingesetzten Gegenstände dem Fundus der Industrieprodukte unserer Gesellschaft entnommen sind, gehören sie uns nicht mehr.
Wie Alex mir erklärt, setzt sie sich in ihren Werken mit der Frage auseinander, inwiefern das fotografisch erzeugte Bild überhaupt als Verweis zur Realität funktionieren kann. Sie ist vor allem an der Ideenfunktion von Bildern interessiert und betrachtet die automatischen Assoziationen, die bestimmten Gegenständen anhaften. Die in ihren Werken abgebildeten Dinge funktionieren Alex‘ Konzept nach wie Platzhalter für das, was wir unweigerlich durch unseren sozial konstruierten Gebrauch mit ihnen verbinden. Und ja, so wie ich verstehe, ist es eindeutig: Alex Grein bringt die große Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Fotografie in den Raum, aber behutsam, denn die endgültige Auflösung überlässt sie dem Betrachter. Was die Künstlerin für jeden erlebbar zeigt, ist, dass die sogenannte ,,Realität“ jeder Fotografie von subjektiven Erfahrungen und Sehgewohnheiten abhängt und nicht pauschal beansprucht werden kann.
Dieses Nachspüren nach der Existenz einer andere Ordnung zwischen Mensch und Ding verfolgt Alex weiter unter dem Titel miniatury in ihrer Ausstellung im Schlossmuseum im polnischen Pszczyna. Die dort realisierten Werke sind aus der Auseinandersetzung der Künstlerin mit der Situation des Schlossmuseums selbst und der dort ausgestellten Gegenstände entstanden. Alex‘ Beschreibungen nach haben Farben, Interieurs und die für sie eigentümliche Atmosphäre eines durch Prunk, herrschaftliche Möbel und kitschige Tapeten die Vergangenheit einfrierenden, künstlich hergerichteten Ortes einen starken Eindruck bei ihr hinterlassen. Diese für sie ganz spezielle Umgebung inszenierter Dinge für das touristische Erlebnis wurde zur Grundlage der dort ausgestellten Werke. Besonders angezogen hat sich Alex durch das Miniaturenkabinett gefühlt, das eine Sammlung von Miniaturen-Porträts prunkvoller Herrschaften aus dem 18. und 19. Jahrhundert beherbergt. Die plakativ-museale Stimmung dieses Raumes mit seinen Wänden in Pink und Blau und der dort präsentierte Schatz von vergangenheitsträchtigen Objekten ist Gegenstand einer ihrer Arbeiten in miniatury. Das Kuriose an diesen Porträts ist, mit welcher Detailfeinheit sie gemalt sind, so dass auf einer winzigen Fläche ein Gemälde einer Person entsteht. Alex Grein dreht die Größenverhältnisse und den gewohnten Blick um, indem sie mit starken Zoom sich auf Details der Kleidung der feinen Herrschaften wie Faltenwürfe und Ornamente konzentriert, die auf den Malereien selbst nicht sichtbar sind. Auf Canvas-Stoff gedruckt sind diese Bilder riesig im Verhältnis zu den Miniaturen.
Die im Schlossmuseum ausgestellten Werke, die Alex mir am Laptop zeigt, zeugen mit ihren sich dynamisch durchs Bild ziehenden Stofffaltungen in satten Farben von Tiefblau oder Rosa von einer großen Dramatik. Zum Teil lassen sie das abgebildete Material Stoff erkennen, von den historischen Miniaturen haben sich diese Bilder jedoch völlig abgelöst. In manchen Werken übernimmt der Ausschnitt dermaßen, dass das Bild völlig abstrakt erscheint, eine schwarze Ecke, eine beige Bahn, feine Striche wie rostige Nägel, etwas völlig Neues ist aus einem Objekt entstanden, dessen Verbindung weder bekräftigt noch verneint wird. Minuziöse Details, die in den Miniaturen selbst nicht sichtbar sind, erscheinen auf einmal so groß, dass die Miniaturen nicht mehr daraus erkennbar sind. Die Künstlerin schlägt uns eine alternative Wahrnehmungsart vor, die fremdartig und schwer integrierbar erscheint. Aber auch hier ist Alex‘ Eingriff in der Realität vergleichsweise dezent – sie fotografiert ja etwas, was da ist als Motiv. Umso erstaunlicher ist der Eindruck eines absichtlichen Verwirrspiels.
Für diese Werke hat die Künstlerin eine übliche Praxen des Ausstellens variierende Präsentatsionsweise ausgewählt, die sie bereits für die Räume der Galerie Gisela Clement entwickelt hat. Die Werke werden auf einer ,,falschen Wand“ präsentiert, die aus einer ca. 2,30 Meter hohen mal 1,50 Meter breiten Staffage-Wand besteht, auf der ein abgedrucktes Foto einer entsprechenden Ausstellungswand der tatsächlichen Räumlichkeiten geklebt ist. So entsteht ein Spiel mit den Dimensionen des Raumes. In Bonn war wie Alex erklärt das Ziel, die gigantisch hohen Wände der Galerie auf ein Normalmaß zu reduzieren. Im Muzeum Zamkowe wiederum heben die angefertigten Staffagen-Wände durch die darauf abgedruckten vergrößerten Ausschnitte der kontraststarken blau-pinken Wände die Raumstimmung des Miniaturenkabinetts noch zusätzlich hervor. Mit diesem Eingriff möchte Alex ihren eigenen Worten nach die Frage aufwerfen, was eine Ausstellungswand ist. Es geht ihr im besonderen darum, auf die Konstrukthaftigkeit der Praxis des an-der-Wand-Präsentierens aufmerksam zu machen. An sich ist der Schritt hin zur Präsentation der Bilder auf abfotografierten Ausstellungswänden wieder nur eine leichte Variation der ,,üblichen“ Situation. Trotzdem meinen wir uns in der Begegnung der Bilder auf den ,,falschen Wänden“, die immer noch ein Abbild der realen Räumlichkeiten darstellen, auf völlig neue Wahrnehmungsverhältnisse einstellen zu müssen. Warum?
Wie Alex mir erzählt, ist auch ihr eigener Blick als Touristin des Schlossmuseums in eine Werksgruppe von miniatury eingeflossen. Dafür wählte sie Bilder aus, die sie mit dem Smartphone während des üblichen Rundganges durch die Räume gemacht hat. Die überbordende Dekoration in jedem Detail des Mobiliars, die niedlich anmutenden Schränkchen und Tischdecken haben Alex, wie sie schmunzelnd schildert, direkt an ein Puppenhaus erinnert. Um als Erweiterung des touristischen Blickes mit diesem Eindruck zu arbeiten, hat sie Werke geschaffen, in denen Gegenstände wie Gläser und Kannen, die von Puppen stammen könnten, geisterhaft in den vom Smartphonedisplay abfotografierten und im A3 Format entwickelten Bildern schweben. Wie fremd diese Werke auch erscheinen, sind sie doch wie alle anderen Werke aus miniatury ein Verweis auf die seltsame Situation in diesem ehemaligen Adelssitz, ein Gebäude wie ein eingefroren durch die ihm auferlegten Konstrukte ,,Schlossmuseum“ und ,,Objekt“.
Alex hat sich fast zwei Stunden Zeit genommen um meine Fragen nach den ihr Schaffen antreibenden Gedanken und den Ideen hinter ihren neusten Arbeiten zu beantworten. Dabei ist sie immer wieder aufgestanden, um Originale herauszusuchen, an denen sie mir ihre Arbeitsweise erklärt hat, wenn meine Vorstellungskräfte nicht ausgereicht haben. Viele spannende Highlights waren für mich dabei. Ich habe Arbeiten gesehen, die bisher außer vor Ort in der Ausstellung noch nirgendwo zu sehen sind. Ich habe Zusammenhänge über ihre einzelnen Werke hinaus verstanden, die mir so noch nicht klar waren. Es ist so viel mehr Material im Gespräch, als nur zu ihren neusten Arbeiten entstanden. Die Erkundigung, ob sie noch irgendetwas hinzufügen möchte, als ich meinen Notizblock zuklappe, kommt mir ein wenig deplatziert vor, bei den vielen Fragen, die Alex von mir beantworten musste, und es ist sichtbar spät draußen geworden.
Doch Alex kontaktiert mich nach dem Gespräch noch einmal, um mir einen wichtigen Gedanken mitzugeben. Bei den Gegenständen, die sie in den Fokus nimmt, geht es ihr, wie sie es kurz erklärt, nicht allein um deren Repräsentationsfunktion im Hinblick auf ,,Realität“, sondern auch um die Frage, welche Gegenstände oder Bilder als ,,Zeitzeugen“ des Jetzt in der Zukunft dienen können. Die Miniaturen im Schloss waren auch mal Gebrauchsgegenstände. Die Frage ,,Was bleibt“ beschäftigt die Künstlerin und bringt sie dazu, zunächst unscheinbare Dinge zu untersuchen. Sind die Shampooflaschen im Bild nicht auch daher so unheimlich, da sie jetzt schon wie Relikte erscheinen? Alex macht mit ihren Werken nur einen Vorschlag, der doch so tief bewegt, dass noch viel weitere Themen möglich sind.