STEREO_TYPEN—Kunstmuseum Bonn

Gekonnte Aufgriffe der musealen Sammlung fördern manchmal wahre Schätze zu Tage. Und besonders wertvoll sind diese Entdeckungen, wenn sie zeigen, dass gegenwärtige Themen vielleicht schon einmal so da waren. Dass die Erweiterung des  eigenen Horizontes auch durch den Blick auf die wohlmöglich gar nicht so ,,abgeschlossene“ Vergangenheit erfolgen kann. Auf genauso anregende wie unbequeme Weise zeigen die Kurator*innen Barbara Scheuermann und Maximilian Rauschenbach in der eckig-offen betitelten Ausstellung STEREO_TYPEN, zusammengestellt aus der Graphik-Sammlung der Gegenwartskunst, unter dem Leitbegriff der ,,Queerness“, dass konforme gesellschaftliche Persönlichkeitsmuster unterlaufende Überschreitungen nicht erst seit der brandaktuellen LGBTIQ* – Bewegung existieren – und vergangene Avantgarden mehr ,,pre“ als ,,post“ sind, als wir denken.

Auf unkonventionell lila Wänden begegnet einem in drei Räumen konzentriert auf die siebziger und achtziger Jahre auf Fotografien, Grafiken, Video, Dias und Konzeptpapieren eine hinsichtlich des Komplexes der ,,Queerness“ unbekannt fortgeschrittene und quirlige Künstler*innen Welt teils heute noch für dieses Thema eintretender, berühmter Namen, wie Katharina Sieverding, Wolfgang Tillmanns oder Ulrike Rosenbach. Unmittelbar aneckend ansprechend und in der Ausdruckssprache sicher eins der stärksten Werke ist die im Eingangsraum gehängte zwölf-teilige schwarz-weiß Photoserie ,,Self-Performance“ (1972/73) von Jürgen Klauke, in der sich der Künstler als androgyn-sexuelle, Geschlechtsgrenzen überschreitende Figur auftritt, mal mit einem plastischen Vagina-Rock, die Hände provokativ auf der Vulva platziert oder hornförmigen Brüsten umgeschnallt, mal in einem hautengen Kostüm, mal geschminkt lieblich-zart durch einen Gesichtsschleier blickend. Als wer und für wen Klauke hier auftritt – diese Frage bewegt auch heute, zumindest zeigt die Serie, wie bestimmte Sexualmerkmale gesellschaftlich reglementiert und als ungehörig tabuisiert sind.

Doch es sind nicht nur die großen Gesten, die bestechen. Das sich spielerisch in alle Richtungen erprobende Ich trifft man auch wieder in der Fotoserie ,,Kinder des Olymp“ (1975) von Klaus von Bruch oder der Farbfotografie-Serie ,,Weihnachten mit Polke“ , die eine junge Künstlerszene als gemeinsame, offene Bühne zeigen, welche immer wieder neue Auftritte zulässt und von der individuellen Inszenierung lebt. Momente des Verkleidens, des Feierns, aber vor allem der nonchalanten Verwerfung gesellschaftlicher Erwartungen an eine konstante und repräsentative Persönlichkeit wie ein Schauspiel frecher Unisex Weihnachtsengel bei Polke gehören zu diesen bewussten Übertreibungen des eigenen Ichs dazu. Dieser mit Spaß gelebte,  gesellschaftliche Konformität unterlaufende Facettenreichtum in Hinsicht auf Rolle, Geschlecht und Person findet sich auch in den fotografischen Auszügen des ,,Manifests der Triebhaftigkeit“ von Ilona und Wolf Weber wieder (1973-76). Die jungen Frauen und Männer auf den mit farbigen Passpartouts umrandeten Fotografien gehen natürlich in ihren selbstbewussten Gesten und Verkleidungen auf. Es gilt, irgendwo im dazwischen zu landen, präsent zu sein mit einem Fuß in der Luft, wie in Bernhard Johannes Blumes Werk ,,Flugversuch“ (1977/78), das zwei Familienmitglieder, ein Mann und eine ältere Dame auf einem Sofa springend zeigt, beide in dreister Freudigkeit  – eine klare Überschreitung des für eine Familienfeier angemessenen Verhaltensrahmens und Verwandtschaftsbeziehungen.

Die Beanspruchung des offenen Raumes der Transformation kann zu Freiheit führen, aber  auch zur Qual werden. Besonders die graphischen Werke wie Zeichnungen von Walter Dahn und Jiri Georg Dokuopil, die in grober Ästhetik Situationen der Gewalt und der Zerrissenheit zeigen, wie unter anderem einen Mann mit schwarzer Maske, erzählen von den inneren Konflikten der Auseinandersetzung mit dem Ich. Die Absurdität des Leid produzierenden Drucks nach Kategorisierung findet man auch in Klaphecks Grafik ,,Der Harem“ wieder, in der sich eine Art Bügeleisen und durch allerlei an Geschlechtsorgane erinnernde Einbuchtungen und Fortsätze gekennzeichnete Fantasiegegenstände finden. Hinweise hinsichtlich der tatsächlichen Gnadenlosigkeit der Gesellschaft in Hinblick auf die Transformation von Rollen liefert vor allem das umfangreich repräsentierte Videowerk von Ulrike Rosenbach. In stiller Ernsthaftigkeit und Geduldsgesten der Wiederholung und des Innehaltens geht es Rosenbach um nichts weniger, als den die Frau umgebenden Käfig kulturhistorischer Normen und gesellschaftlicher Erwartungen zu durchbrechen. Die Geste der Verkleidung als vehementes Nicht-Wegrücken.

Rudolf Bonwies Werk ,,14 Personen – 25 Narzissen“ (1976) zeigt entlang Rosenbachs Ansatz der subtilen aber starken Geste, wie Männer das Spiel mit ihrer eigenen ,,Männlichkeit“ zulassen, um Normbilder festgelegter Geschlechtsidentitäten die ,,Männliches“ und ,,Weibliches“ in unvereinbaren Kategorien vordefinieren, zu durchbrechen. Vierzehn männliche Individuen sind hier in gleichem nackten Oberkörperanschnitt und einem Strauß Narzissen haltend porträtiert. Auch wenn die Gleichförmigkeit der Porträts zunächst besticht, lassen sich zwischen den Personen doch Unterschiede im Blick, der Art des Haltens und dem allgemeinen Erscheinen vor der Kamera ausmachen. Manche scheinen sich der Unterstreichung der eigenen Schönheit durch die Blumen und die Nacktheit bewusst zu sein, anderen scheint die Geste des nackten Narzissenhaltens fremdartig zu sein, sie halten den Strauß steif weg vom Körper und blicken etwas verstellt in die Kamera. Allen scheint der Statement-Charakter der eigenen Pose aber bewusst zu sein. Spielt die Wahl der Blume auf den Begriff des ,,Narzissmus“ an? Was ist dran an oberkörperfreien Männern mit Narzissen? Irgendwie lässt sich das Ganze auch heute nicht auflösen. Ein Schmunzeln bleibt.

Die selbstzerstörerischen Aspekte einer ins Obsessive kippenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich zeigen Werke im rechten Flügel der Ausstellung. Jürgen Klauke beginnt in der Fotoserie ,,Bewegung“ (1975), gehängt wie ein Wandfries unter der Decke, einen Tanz mit einer Verdopplung von sich selbst, der in einem zerstörerischen, eines der ,,Ichs“ vernichtenden Kampf endet. In der Videoarbeit ,,Grenzübergänge“ (1973) löscht Peter Campus sein eigenes Gesicht aus durch Schminkbewegungen und brennt mit einem Feuerzeug ein Spiegelbild von sich selbst weg, das er in der Hand hält. Am beeindruckensten drückt sich diese Form einer zwischen experimentell und pathologisch changierendenBeschäftigung mit der Erscheinung des Ichs in Diaprojektionen von Katharina Sieverding aus, einer frühen Arbeit von 1973. Großflächig werden hier von der Künstlerin wohl mit Selbstauslöser geschossene Frontalaufnahmen des Gesichts der Künstlerin an die Wand projiziert. Man sieht eine schöne, geschminkte und selbstbewusst in die Kamera blickende junge Sieverding, deren Gesicht durch verschiedene Lichtsituationen fast fremdweltlich erscheint, zunächst gibt es nur minimale Unterschiede der Mimik innerhalb der einzelnen Projektionsserien. Die intensive Präsentation uniformer Gesichtsaufnahmen lässt den Eindruck der Natürlichkeit schwinden, bis Sieverding in den zu hunderten angestrahlten Dias unheimlich maskenhaft erscheint. Selbstbewusste Geste oder obsessiver Persönlichkeitskult? Der gnadenlose, einen frontal erreichenden Blick Sieverdings ist auch eine Spiegelung des eigenen Unwohlgefühls, sich selbst im Spiegel lange in die Augen zu schauen.

Die Konfrontation mit einem Gegenüber auszuhalten, das immer anzweifelt und auf eindeutige Antworten drängt, davon erzählt auch das für mich markanteste Videowerk der Ausstellung, der ,,Reflective Monologue II“ von Hinrich Schenkberger. In einer statischen Aufnahme des Gesichtes, untermalt mit einem ständigen Rauschen, blickt uns der mit Lippenstift geschminkte androgyn wirkende Künstler eindringlich in die Augen. Mit metallerner Stimme spricht er immer wieder das Wort ,,ich“, gebrochen von schweigenden Pausen, bis schließlich der Satz ,,Ich bin Ich“ folgt. Diese starken Worte in der Monotonie der Videoarbeit aufzunehmen und den frontal gerichteten, entschlossenen Blick auszuhalten, ist ein tiefgehender Moment. Ganz zum Schluss der 06:25 minütigen Arbeit folgt fordernd eingeworfen die einmalige Frage ,,Bist – Du ein Mann oder eine Frau“. Nein. ,,Ich bin ich“, so wie der Künstler es stoisch wiederholt.

Zurück zum Begriff ,,Queerness“ zeigt STEREO_TYPEN nun zwei Aspekte: einmal tritt Queerness als allgemeines spielerischen Sich-Ausprobieren jenseits gesellschaftlicher Normen auf, welches bewusst die endgültige Positionierung der eigenen Persönlichkeit umgeht. Zum zweiten erscheint ,,Queerness“ in der heute uns bekannten Bedeutung eines sich Hinwegsetzens über Grenzen von Geschlecht und Geschlechterrollen, in Form der Hinterfragung von Vorstellungen, Symbolen und Rollenklischees in Hinsicht gesellschaftlicher Kategorien durch mal provokative, mal subtile Gesten. Ein Teil der Werke nimmt diese Erprobungen mit Humor, in manchen sind aber auch die Konflikte der Auseinandersetzung mit dem Selbst zu sehen. STEREO_TYPEN eröffnet nur ein schmales Fenster hinsichtlich der Stellungnahmen der Künstler der 70er und 80er Jahre zu dem Begriff der ,,Queerness“ und ich finde es gerade gut, dass sich dieses Fenster auch wieder schließt und die Entscheidung hinsichtlich der Aktualität der Arbeiten beim Betrachter bleibt. Und so finde ich ich es gerade spannend für mich festzustellen, dass sich der Begriff ,,Queerness“ auf alle möglichen Überschreitungen zwingender Normen erweitern lässt, vielleicht nicht nur für eine bestimmte Gruppe gilt, sondern für ein freies Umfeld der Persönlichkeitsfindung in alle Richtungen plädiert. Kurator*innen, chapeau.

 

Erwin Wurm, Inspection, 2003, C-Print auf Diasec, Dauerleihgabe KiCo  |  © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Jürgen Klauke, Self Performance, 1972/73, Serie von 12 Schwarzweiß-Fotografien  |  © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Walter Dahn, Mann mit Maske, 1984, schwarze Kreide, Tusche auf Papier  |  © Kunstmuseum Bonn

Rudolf Bonvie, 14 Personen – 25 Narzissen, 1976, Serie von 14 Schwarzweiß-Fotografien  |  © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Jürgen Klauke, Begegnung, 1975, Serie von 30 Schwarzweiß-Fotografien  |  © VG Bild-Kunst, Bonn 2019