Zeitgenössische Kunst wird oft in der Rolle gesehen, die fragmentarische Natur der von uns als kohärent empfundenen Gegenwart aufzudecken – postmodern, postdigital, postkolonial. Die junge chinesische Künstlerin Guan Xiao arbeitet auch an solchen Reflexionen. Nur scheinen ihre zur Zeit im Kunstverein Bonn zu sehenden, im Medium Skulptur, Installation und Video angesiedelten Arbeiten Verhältnisse widerzuspiegeln, die in einer noch gar nicht eingetretenen Zukunft liegen. In ihrer Kombination aus Readymades und skulpturalen Fantasieobjekten zu knallig-seltsamen Gesamtgebilden ist immer etwas angelegt, das gleichzeitig archaisch-mythisch und futuristisch erscheint. Platziert in mitten dieser breiten und auch irgendwie paradox anachronistischen Klammer wirken die Werke in der Gegenwart fremdartig. Und doch tragen sie eine Kommunikationsform in sich, die noch bruchstückhaft an die Logik der heutigen Welt anknüpfend zu uns auszureichen scheint.
Sieben hüfthohe bis körperhohe, aus einzelnen Modulen immer um die Achse eines knorrigen Wurzelstamms aufgebaute Skulpturen sind die erste der vier Werksgruppen, der man in den beeindruckend hohen und weiten Hallenräumen des Kunstvereins Bonn begegnet. Die ,,Root Sculptures“ (2019) sind der Formulierung der Künstlerin nach angelehnt an die chinesische Tradition der Wurzelschnitzerei und für die Künstlerin durch ihre biologisch bedingte natürliche Formung und die gleichzeitige Eignung als Readymade der ,,perfekte Gegenstand“. Das traditionelle Element dieser Skulpturen, in denen sich die im grünlichen Silber lackierten Wurzeln mit Alltagsgegenständen wie Sonnenschirmen, Kamera-Stativen, Kabeln und Knieschonern miteinander arrangieren, geht jedoch schnell verloren. In den Farben einer Techno-Ästhetik – Silber, Neongrün, Schwarz, Hell-lila und Rot zusammengestellt, versehen mit an Talismane erinnernde Formen und zu dynamischen Körpern aufgebaut, erscheinen die Skulpturen wie Wesen einer anderen Welt. Gegenstände wie Biegelampen oder Handyschnüre sind hier so verfremdend mit den Stämmen zu funktionell wirkenden Modulen kombiniert, dass die Skulpturengruppe im Ganzen als Repräsentant einer futuristischen Technologie erscheint. Die Gebilde scheinen durch die Herzeigung wiederholender Bestandteile eine bestimmte zeichenhafte Logik inne zu haben. Ob diese unentzifferbare Sprache eine gute oder eine bedrohliche Botschaft trägt, ist nicht feststellbar. So entsteht mit den reizvollen ,,Root-Sculptures“ ein vergnügliches Entdeckungsspiel zwischen fremd und bekannt, dass doch nicht ganz harmlos ist.
Xiao’s Spiel mit den rätselhaften, sich in der Wahrnehmung nicht schließen lassenden kombinatorischen Gebilden aus zuordbaren, teils brachialen Gegenständen einerseits und mythisch-fantasievollen Elementen andererseits, setzt sich in den immensen, durch Stahlstützen und Ziehgurte von der Decke bis zum Boden reichenden Skulpturen der Reihe ,,Things I Couldn’t forget“ (2019) fort. Die als ,,Totem-Teleskope“ bezeichneten Konstruktionen, die ein leitendes Labyrinth zwischen den beiden Ausstellungsräumen bilden, sind in gleicher Höhe jeweils mit fantasievollen, den Betrachter überragenden Körpern versehen: eine blaue Schlaufe, knubblige schwarze Kugeln mit Gravierungen, eine Kette aus lila Platten in Axtklingenform. Mit Kabeln ausgestattet erinnern die in ihrer Konstruktion gleichzeitig mächtig wie fein wirkenden Säulen an Maschinen, die sich gerade nur in Bewegungsstarre befinden. Eine Science Fiction Ästhetik entsteht, die durch die schwierige Zuordbarkeit der Gebilde vergnüglich und bedrohlich zu gleich wirkt. Die modulare Form der Zusammensetzung aus wiederkehrenden, scheinbar bedeutungstragenden Elementen lässt erneut eine nicht entzifferbare Zeichenhaftigkeit vermuten.
Diese sich zwischen den Arbeiten entwickelnde Frage nach der Absicht gegenüber dem Betrachter kommt auch bei drei an den Wänden montierten, mit einen Holzgitter hinten und einer Stellfläche vorne versehenen, wie Fenster anmutenden skulpturellen Arbeiten auf. Allgegenwärtig breitet sich das Ticken von als Bürospielzeug konzipierten kosmischen Metren aus, die auf den Podesten zusammen mit anderen Gegenständen wie Leselampen, plastischen Stellwänden, zum Boden reichenden Tauen und lebewesenähnlichen weißen Skulpturen arrangiert sind. An den Fenstergittern sind an Schlaufen Bilder von Filmstills von einem jeweils immer gleichen Frauengesicht montiert. Durch die ähnlichen Objekte wiederholt sich die Struktur der Arbeiten in einer scheinbar immanenten Logik, die sich jedoch nicht extrahieren lässt. Der Zugang, der durch die Farblichkeit und humorvollen Kombinationen entsteht, ist und bleibt ein trügerischer, eine Regel, die auch auf die großflächigsten, in Form von raumeinnehmenden Installationen realisierten Arbeiten der Duo-Serie ,,Documentary of Agriculture“ zutrifft.
Die zwei sich im Aufbau entsprechenden Installationen ,,Gathering“ und ,,Breeding“, beide von 2019, bestehen jeweils aus einer über Stahlrohr-Stative gespannten Bahn aus mit einem flirrendem Muster aus knallfarbigen computergenerierten Einzelbildern bedrucktem Vinyl, das von der Aufhängung aus über den Boden weiterlaufend eine Art Bühne bildet. Der in der Wahrnehmung so schwer zusammenbringende Gegensatz zwischen technologisch-gegenständlichem und mythisch-archaischem verstärkt sich in der Zusammenstellung der auf den Bilderbahnen platzierten, wie für ein Fotoshooting als Gruppe inszenierten Objekten. Da ist dieser gewaltige blaue, grimmige Kopf aus der Maya-Mythologie, der von Skiern nach modernstem Standart, an ein Metallgerüst gelehnt, ergänzt wird. Vorne reihen sich Lautsprecherboxen in einem Halbkreis auf, eine in den Raum reichende Formation aus an aufgeschlagene Hefte erinnernde pink-weißliche Skulpturen aus Kristallharz entwickelt sich auf die Installation hin. Die Struktur der nebenstehenden Installation ist ähnlich, nur streift hier eine Herde grüner, wieder scheinbar der südamerikanischen Mythologie entstammender ,,Krokodile“ über die aufgespannte Vinyldruck-Bahn, während prominent zwei Ghettoblaster-ähnliche Boxen auf einem Flachbildschirm-Stativ präsentiert werden, als wären sie etwas Sakrales.
Guan Xiao’s Herangehensweise, vorgefundenes Material anhand einer neuartigen Logik zu kombinieren, die bekannte Elemente zur Unkenntlichkeit verfremdet, lässt sich auch in der 26 minütigen Dreikanal-Videoarbeit ,,Just a Normal Day“ wiederfinden. In einem chaotischen Rhythmus wird hier in kurzen Abschnitten von teils nur Minutenbruchteilen vorgefundenes Bildmaterial auf drei Leinwänden nebeneinander gezeigt. Manche Aufnahmen wirken besonders eindringlich, wie ein totes Ferkel, das im Zeitraffer verwest, auf Flößen treibende Amazonas-Häuptlinge, vorbeiziehende Landschaften und Sonnenuntergänge, Pilger umranden die Kaba in Mekka, man sieht altes Filmmaterial von Frauen auf dem Bürgersteig. Dazwischen sind kaum erkenntliche Bilder von Mikroskopaufnahmen, Animes, Platinen oder abgefilmten Fotos geschaltet, die Zusammenstellung von Allem erscheint sinnfrei, aber trägt dann doch, von amerikanischen Oldies und sphärischen Klängen untermalt sowie durch Zitate ergänzt, einen ästhetisch- ephemeren Charakter.
Aufgeputscht durch eine Techno-Ästhetik überführt Guan Xiao geläufiges Material – Gegenstände oder Bilder – in einen Kontext, in dem auf Grund der schrillen Rahmenbedingungen der in ihnen bereits angelegte fremdartige Charakter besonders stark hervorsticht. Sie kreiert in den Ensembeln eine Zeit, die von unserer ausgeht, aber die wir nicht kennen. So erscheint, was in der jetzt-Zeit in der Begegnung von High-Tech Gegenständen wie Boxen oder Skiern nur eine Randnotiz darstellt, als ihr wesentliches Merkmal, das die Funktion in den Hintergrund treten lässt und von dieser seltsamen, alle Arbeiten Xiao’s vereinenden weltfremden Systematik oder Technologie zeugt. Guan Xiao zeigt uns in ihren auf den ersten Blick knalligen, teils banalen Bild- und Objektkombinationen aus vorgefundenem Material und selbst geschaffenen Strukturen, dass es eine Grenze gibt, an der die von uns als selbstverständlich empfundene Logik der Gegenstände und Bilder aufhört. In der Dialektik von organisch und anorganisch, analog und digital, fassbar und flüchtig oszillierend, scheinen Guan Xiao’s Arbeiten Verbindungen zwischen den menschlichen Anfängen und dem viel zu schnell gekommenen ,,jetzt“ herstellen zu versuchen.