Manchmal können Bilder Bände sprechen. Dieser Gedanke begleitet einen in der Begegnung mit den Fotografien von Evelyn Richter (1930–2021), die tief in die Psychologie des Moments eintauchen. Richter, die in der DDR aufwuchs, wo sie als Berufsfotografin und Dozentin tätig war, schuf durch sensible Aufnahmen der sie umgebenden Menschen und Orte ein Porträt der Gesellschaft des Ostblocks der Nachkriegszeit, das in seiner zurückhaltenden Ehrlichkeit noch heute bewegt. Richters Talent, den Augenblick beinahe filmisch festzuhalten, dabei jedoch niemals zu inszenieren, sondern in der Rolle einer unsichtbaren Zeugin Emotionen und Ereignisse aufzufangen, macht sie zu einer der Pionierinnen der zeitgenössischen Fotografie. Der Kunstpalast in Düsseldorf widmet der bisher kaum präsenten Künstlerin die erste große Retrospektive in Westdeutschland, die sicher eine der umfassendsten Ausstellungen ist, die es je zu ihr gegeben hat. Anhand einer sowohl chronologisch als auch thematisch aufgebauten Gliederung lädt die von Linda Conze (Leiterin der fotografischen Sammlung) kuratierte Präsentation nicht nur zu einer Zeitreise in die DDR und die Sowjetstaaten ein. Man lernt auch einen besonderen Blick auf den Menschen kennen, der in der Aufnahme des Individuums stets die großen gesellschaftlichen Themen zum Ausdruck bringt.
Als Ausstellung hat sich EVELYN RICHTER eine ganzheitliche Darstellung des Lebens und Werkes der Fotografin vorgenommen, die neue Perspektiven auf ihr gänzlich in schwarz-weiß gehaltenes Œuvre eröffnet. In neun Kapiteln folgen auf biografisch und zeithistorisch geprägte Abschnitte zeit- und systemübergreifende Themen, die ihr Werk über Jahrzehnte gekennzeichnet haben. Indem ihren dokumentarfotografischen Aufnahmen immer wieder Proben aus ihrer Auftragsarbeit gegenübergestellt werden, begegnet man Evelyn Richter als Frau, die in der Fotografie ihre eigene Sicht auf die Dinge ausdrückte, gleichzeitig aber auch ihren Lebensunterhalt bestritt. Von dem Drahtseilakt, in dem sie sich immer wieder befand, als sie versuchte, den ideologischen Anforderungen ihrer Auftraggeber gerecht zu werden, ohne ihre eigenen Ideale aufzugeben, erzählt die Ausstellung an mehreren Stellen. Parallel macht die Gegenüberstellung von bestehenden Werken mit bisher unveröffentlichtem Material aus ihrem fotografischen Archiv nachvollziehbar, wie Richter ihre Werke auswählte und Bildserien zusammenstellte.
Wie man anfangs erfährt, entwickelte sich Evelyn Richters fotografischer Stil eher zufällig durch eine Reise nach Moskau, das sie 1957 anlässlich der Weltfestspiele der Jugend und Studenten besuchte. Technische Probleme mit dem eigenen Gerät ließen die junge Fotografin zu einer Kleinbildkamera greifen, die ihr erstmals ermöglichte, sich unter Menschen in natürliche Situationen zu mischen. Diese neu gewonnene Flexibilität, sich in Milieus zu begeben und die Umgebung spontan festzuhalten, gab sie danach nie wieder auf. Momentaufnahmen, die zugleich eindringlich als auch sensibel waren, wurden so zu den Kennzeichen ihres Werkes, wie es auch eines ihrer Bilder der Besuchermenge aus einem Moskauer Museum zeigt (Tretjakow-Galerie, Moskau). Die Komposition der Menschen, die Richter hier im Vorbeigehen beim Betrachten der Gemälde abgelichtet hat, ist meisterhaft. Das Bild besteht im wesentlichen aus einer Besucher*innengruppe, zusammengesetzt aus einem stehendes Paar im Hintergrund, einem sitzenden Mann im Vordergrund, der seinen Arm auf eine Banklehne stützt und der ganz versunken in der Betrachtung eines Kunstwerkes ist, sowie einer hinter diesem Mann auf der Bank platzierten jungen Frau, die sich im Mittelpunkt des Geschehens befindet, deren Blick jedoch völlig ungewiss in die Ferne schweift. Diese Fotografie, die Menschen und ihre Emotionen in einem bestimmten Augenblick einem lebenden Bild gleich geradezu einfriert, wirkt wie eine Spiegelung der epischen umgebenden Malereien. Ganz unbemerkt werden in Evelyn Richters Fotografien Mensch und Umgebung so nahezu eins.
In Moskau, wohin die Künstlerin in den folgenden Jahren mehrmals zurückkehrt, entdeckt Richter auch den öffentlichen Raum für sich, insbesondere Straßen und Plätze, die im Sozialismus als Versammlungsorte und Bühnen für Paraden eine wesentliche Funktion spielten. Eine der enigmatischsten Fotografien, die bisher im Archiv verborgen war, hat Richter in den Sechzigerjahren mitten aus einer Menschenmenge auf dem Roten Platz aufgenommen (Auf dem Roten Platz in Moskau, 1960er Jahre). Der Fokus der Kamera ist versetzt zu der Blickrichtung der beinahe ausnahmslos jungen Menschen ausgerichtet, die alle nach links an der Fotografin vorbei ihre Augen auf ein nicht zu sehendes Ereignis richten. Nur ein einziges junges Mädchen mit modischem schwarzen Kurzhaarschnitt schaut frontal in die Kamera. Ihren leicht irritierten, unsicheren Gesichtsausdruck, in dem sich die gesamte Ungewissheit der Jugend in der Sowjetunion zu kondensieren scheint, vergisst man nicht.
Von diesem Zeitpunkt dokumentiert Evelyn Richter häufig öffentliche Versammlungen, die von Aufmärschen in den Sechzigern in Berlin bis zu den Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig reichen. Ihre dokumentarische Stärke liegt dabei gerade in der Fähigkeit, sich wie eine Touristin anonym unter die Menschen zu mischen und als Beiwohnende intime Augenblicke unbemerkt aufzunehmen. Auf diese Weise entsteht das Bild einer vorbeimarschierenden Kampftruppe aus sichtbar stolzen jungen Männern, der sich in naiver Nachahmung einer kleiner Junge im Anzug anschließt (Kampftruppe, Berlin, um 1968). Auch ein eindrucksvolles Bild aus einer Kirchenbank von einem jungen Mann, der sein Kinn auf die zum Gebet gefalteten Hände stützt, spricht von Richters Gabe, den Moment als stille Betrachterin festzuhalten. Diese Rolle der unsichtbaren Zeugin erreicht einen Höhepunkt in einer Serie, in denen sie den Anfang der Bauarbeiten der Berliner Mauer dokumentierte und die ganz bewusst aus einem schiefen Kamerawinkel aufgenommen wurden, was darauf hindeutet, dass Richter heimlich fotografieren musste. Obwohl man auf diesen Bildern wenig von den eigentlichen Bauarbeiten sieht, transportieren sie durch die in Rückansicht fotografierten Zuschauer*innen dennoch die zwischen Neugier und Ratlosigkeit schwankenden Gefühle der Menschen, welche die Aufnahmen aus heutiger Sicht so tragisch machen.
Das Motiv Mensch und Umgebung entwickelt sich bei Evelyn Richter auf unterschiedliche Weise. Beinahe menschenleer, aber immer mit Erinnerungen und Zeichen ihrer Bewohner*innen versehen sind die von ihr als „Stadtlandschaften“ bezeichneten Ansichten von Straßen und Plätzen aus Berlin, Dresden und Leipzig. Sie zeigen, häufig oft erst auf den zweiten Blick erkennbar, die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die von der Unfähigkeit der DDR-Führung bedingt war, vom Krieg geschädigte historische Gebäude zu renovieren. So erkennt man im Hintergrund einer kompositorisch genial mit kahlen Bäumen vergitterten Ansicht einer Straßenterrasse, die ein Vater mit seiner Tochter passiert, aus dem Nebel die Ruinen der Frauenkirche aufragen. Ein trister Anblick, an welche die Passant*innen zu dem Zeitpunkt längst gewöhnt waren (Brühlsche Terassen, Dresden, um 1976). Eine ähnliche Atmosphäre erzeugt eine Aufnahme der Spree nahe der Museumsinsel, an der ein Kohle-Lastkahn vorbeizieht, der ausgerechnet den Namen „Traumland“ trägt und die Aufmerksamkeit von einem Vater mit seinem kleinen Sohn geweckt hat, die wie gemalte kleine Figuren am Ufer stehen (An der Museumsinsel, Berlin, 1972). Diese idyllische Szene wird nicht nur durch den auffälligen und irgendwie paradoxen Schiffsnamen gestört, sondern auch durch die Silhouette des Berliner Doms im Hintergrund, eine Ruine mit fehlenden Fenstern und Dächern.
Solche Brüche, die sich zufällig aus der Situation ergeben, kennzeichnen letztendlich alle ihrer Stadtaufnahmen, auch wenn diese Kontraste manchmal wesentlich subtiler sind als in den beiden beschriebenen Fotografien. Anhand dieser Gegensätze und Störmomente findet Evelyn Richter einen Ausdruck für die Widersprüche, die zwischen der sozialistischen Ideologie der DDR, die alles beanspruchte und beherrschte, und der eigentlichen Lebenserfahrung der Bevölkerung bestand. Ihre Bilder erzählen so von der stillen Desillusionierung der Bürger*innen und der Unfähigkeit, diese frei ausdrücken zu können. Wie vor diesem Hintergrund der Rückzug ins Private und in die eigene Gedankenwelt zu einem selten erfüllbaren Privileg wurde, dokumentiert auch eine Serie von Passagieren aus S-Bahnen und Zügen. Als Passagierin fotografiert Richter ihre Mitreisenden, deren oft fast zwanghaft ins Leere gerichteter Blick oder geschlossene Augen verraten, dass die Fotografierten der Situation eines öffentlichen Raumes ohne Rückzugsmöglichkeiten bewusst waren. Diese Ambivalenz des Transit aus sich bequem machen und dennoch exponiert sein fängt Evelyn Richter ein, indem sie sehr unterschiedliche Bilder nebeneinander stellt. Steife, ältere Herrschaften in korrekter Aufmachung treffen hier auf eine junge Generation, die durch ihr ungezwungenes Verhalten den Blicken und Normen der Anderen trotzt.
In den folgenden Abschnitten der Ausstellung, die den Themen Musik, Porträt, Arbeit und Kindern gewidmet sind, erhält die Rolle von Evelyn Richter als Auftragsfotografin klarere Konturen. Wie man an einem imposanten Medley aus Schallplatten-Covern erfährt, arbeitete Richter erfolgreich als Fotografin in der Musikbranche. Durch ihre Reisen zu Konzerten gelangten so eine ganze Reihe damals berühmter Musiker*innen und Dirigenten vor ihre Linse. Die große Dynamik und Versunkenheit, aber auch Momente des Grübelns und Stillstandes, die Richter ablichtet, zeigen authentisch die enormen Herausforderungen, die dieser häufig verklärte Beruf mit sich bringt. Die durch die Kamera extrahierte innere Isolation in diesen Bilder ist ein Merkmal, das in allen Porträts der Fotografin wiederkehrt, die im Studio von Pan Walther ihr Handwerk erlernte, einem Entwickler der künstlerischen Porträtfotografie. Richter porträtiert vorzugsweise Menschen in ihrem natürlichen Umfeld, viele der Aufnahmen entstanden während der Arbeit. Ihre Porträts bringen „unschöne“ Aspekte wie das Altern oder die Härte der Arbeitstätigkeit zum Ausdruck und entlarven so die existentielle Einsamkeit, in der sich jeder Mensch unabhängig von seiner individuellen Biografie befindet.
Vor dem Hintergrund dieser schonungslos ehrlichen Abbilder verwundert es nicht, dass Evelyn Richter in ihrer Dokumentation von arbeitenden Frauen in Industriebetrieben, einem der zentralen Motive der DDR-Bilderwelt, mit ihren staatlichen Auftraggebern zusammenstieß. In Aufnahmen aus Webereien und Druckereien scheinen die mächtigen Maschinen, deren unbändiger Takt ständige Aufmerksamkeit erfordert, die Arbeiterinnen beinahe zu verschlucken. Die Frau, die Richter abbildet, ist nicht die freudenstrahlende Arbeiterin der sozialistischen Propaganda, sondern ein Individuum, dass stark sein muss, um die Anstrengung weglächeln zu können. Ein wesentlicher Unterschied, der dazu führte, dass viele der Bilder vor der Veröffentlichung verworfen wurden. In diesem Zusammenhang entstand auch 1959/60 das ikonische Bild An der Linotype in der Druckerei des Verlages Neues Deutschland in Berlin, auf dem eine konzentrierte Arbeiterin fast eingezwängt an der wuchtigen Maschine zu sehen ist, gegenüber derer sie stark, aber auch erschreckend zerbrechlich wirkt.
Fotografien von Kindern waren neben der Musik ein weiterer Bereich, in dem Evelyn Richter kommerziellen Erfolg erreichte. Hier lernt man die Fotografin als Mitherausgeberin des 1980 erschienenen Buches Entwicklungswunder Mensch kennen, das auch in der BRD verlegt wurde und versuchte, den Entwicklungsprozess des Kleinkindes in Wort und Bild darzustellen. Die Aufnahmen von Kindern, die in der Ausstellung zu sehen sind, sind größtenteils bereits früher entstanden. Sie vermitteln eine einfühlsame, aus heutiger Sicht dennoch etwas ungewohnte Perspektive auf das Kind, welche dieses nicht idealisiert oder romantisiert, sondern als eigensinniges und durchaus eigenständiges Wesen darstellt, das von Beginn an seinen eigenen Willen mitbringt. Auf diese Weise kommen unvergessliche Bilder zu Stande, wie das eines Vaters, der sich auf die Augenhöhe seines Sohnes hinunterbeugt, um in einen liebevollen und dennoch bestimmten Dialog mit dem kaum Einjährigen zu treten, der seinen Vater mit großen Augen anblickt, die gleichzeitig verstehen wie auch zurückweisen. Bezeichnend ist auch eine nie veröffentlichte Sequenz von einem etwa 2-jährigen Jungen, der versucht, eine Hose anzuziehen, trotzt angebotener Assistenz aber, wie sein Gesichtsausdruck verrät, energisch Hilfe ablehnt und auf seine Selbständigkeit besteht. Evelyn Richters einzigartige Kinderbilder sind somit rührend wie ernst zugleich – ein Blick, der heute verloren gegangen zu sein scheint.
Die Ausstellung endet mit Aufnahmen aus Ausstellungen, die das Verhältnis zwischen Kunst und Mensch in den Fokus nehmen und die ein zeitübergreifendes Motiv in Evelyn Richters Werk darstellten. Auf diese Weise schließt sich gleichsam ein Kreis – zwischen ihren ersten Werken aus der Tretjakow-Galerie in Moskau und den hier präsentierten Fotografien von Kunstwerken und ihren Betrachter*innen, aber auch zwischen den jetzigen Besucher*innen und der Künstlerin. In den Aufnahmen aus ost- und westdeutschen Museen scheinen sich die Kunstwerke zusammen mit ihren Betrachter*innen zu verändern. Der Prozess der Auseinandersetzung wird hier in den Gesten und der Körperhaltung der Schauenden festgehalten. Durch das Staunen, manchmal auch Ulken oder Abwenden der Besucher*innen sieht man auch die Werke plötzlich ganz anders, die in der gemeinsamen Ablichtung mit ihren Betrachter*innen ihre Unnahbarkeit verlieren. Das Mysterium, ob sich beide jemals begegnen und der Schauende das Kunstwerk versteht, bleibt hingegen. Evelyn Richter macht Gegensätze zum Prinzip der Harmonie in ihren Bildern. Wie sie das erreicht, bleibt ihr Geheimnis.