Wie empfinden junge Künstler*innen heute in Polen? Seit den frühen Zweitausendern gab es zahlreiche kulturelle und gesellschaftliche Annäherungsprozesse zwischen Polen und seinen europäischen Nachbarländern. Durch den Sieg der konservativen Partei PiS im Jahr 2015 werden diese Entwicklungen jedoch stark behindert. Eine gerade erst entstandene kulturelle Szene wird in ihre Schranken verwiesen, als anstößig empfundene künstlerische Positionen werden genauso wie unbeliebte Kurator*innen aus den Kulturinstitutionen entfernt. Diese Situation prägt junge Künstler*innen aus Polen, auch wenn sie bei weitem nicht ihr einziges Themenfeld darstellt. Die Werke der drei Finalist*innen des DOROTHEA VON STETTEN KUNSTPREISES 2022: Junge Kunst aus Polen, Zuza Golińska, Diana Lelonek und Daniel Rycharski, vermitteln einen profunden Eindruck von diesem Spannungsfeld. Die Positionen geben einen Einblick in die Konflikte und Risse, die das Empfinden einer jungen Generation polnischer Bürger*innen, das Land und seine Gesellschaft durchziehen. Indem sie Themen wie den menschlichen Eingriff in die Ökosysteme, nicht-heteronorme Identitäten, die Entvölkerung des ländlichen Raumes und den reglementierenden Eingriff des Staates in den öffentlichen Raum aufgreifen, sprechen die Finalist*innen Phänomene an, die mit der Situation in Polen verbunden und zugleich universeller Natur sind.
Diana Lelonek betrachtet in ihrer Kunst das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt im Anthropozän. Die klassische, häufig romantisierte Mensch-Natur Dichotomie, verwirft die Künstlerin. Anstatt dessen geht sie von einer Natur aus, die eng mit dem Menschen vernetzt ist. Denn nicht nur das massive und nachhaltige Einwirken des Menschen auf Ökosysteme machen den Begriff der „unberührten Natur“ unbrauchbar. Dem Verständnis der Künstlerin nach ist dieses Verhältnis zwischen dem aktivem, eingreifendem Menschen auf der einen und der passiven Natur auf der anderen Seite, nicht auf diese Weise beschreibbar. Die Künstlerin vertritt die Ansicht, dass auch die Umwelt und ihre Lebewesen in die Lebenswelt des Menschen eingreifen und uns auf eine Weise berühren, die häufig übersehen wird. In einem abgedunkeltem Ambiente präsentiert Diana Lelonek in beleuchteten Vitrinen Artefakte, welche die Mensch-Natur Dichotomie unterlaufen. Zu sehen sind Alltagsgegenstände wie Schuhe, Dosen, Plastikflaschen oder Kunststoffteile, die wohl achtlos entsorgt worden sind und nun, von Moosen und Pflanzen überwuchert, ein eigenes Leben begonnen haben.
Für diese „symbiotischen“ Gebilde aus Müll und Pflanzlichen hat die Künstlerin den Begriff der Abfallpflanzen geprägt. Diese neue Form von Lebewesen stammen von Gebieten an der Peripherie städtischer Siedlungen, die ursprünglich einmal industriell genutzt wurden, nun aber wieder von der Vegetation überwuchert werden. Wie es an den bewachsenen Gegenständen sichtbar wird, werden diese Gebiete nie wieder zum Status einer unberührten Natur zurückfinden, auch wenn sie sich verändern und neues Leben entsteht, bleiben die hässlichen Spuren des Menschen erhalten. Für diesen desillusionierenden Zustand, den ihre Moos-Abfall Exponate mit ihrer gleichzeitig zauberhaften wie auch abstoßenden Wirkung repräsentieren, entlehnt sich Diana Lelonek des Begriffes der „Dunklen Ökologie“ von Timothy Morton. Wir müssen irgendwie akzeptieren, dass in der Art und Weise, wie wir auf die Umwelt einwirken, Lebensformen entstehen, die uns nicht gefallen. Diese abzulehnen oder zu negieren, weil sie nicht dem Ideal einer reinen Natur entsprechen, ist jedoch keine legitime Alternative.
Die Künstlerin weist mit ihren Werken darauf hin, dass wir uns von der Illusion einer heilen und heilenden Natur im Sinne eines großen Außen, das irgendwann alles zurückerobert, entfernen müssen. Sie sieht das Potential anstatt dessen in den Verflechtungen, auch wenn diese, wie solcher bewachsener Abfall, auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Diana Leloneks Werke, zu denen auch drei großformatige, hochaufgelöste und stark vergrößerte Fotografien solcher Mischgebilde aus Müll, Moosen und Flechten zählen, sind so etwa wie ein Anreiz, sich auf diese neue Idee von Beziehung zwischen Mensch und Natur einzulassen. Schließlich beginnt man, an der Fremdartigkeit dieser bewucherten Gegenstände Gefallen zu finden. Die Verunreinigung, und wie die Pflanzen lernen, damit umzugehen, macht ihren besonderen Charme aus. In den Fotografien, wo kaum identifizierbare Gegenstände, wie ein Gewirr aus Drähten, aber auch an porösen Kunststoff erinnernde Strukturen, die wie totes Holz anmuten, vor tiefschwarzem Hintergrund wie Lebewesen aus der Tiefsee hervor schweben, sind organische und künstliche Komponenten gar nicht mehr unterscheidbar. Wie in vielen ihrer Werke und Projekte regt uns Diana Lelonek daher dazu an, neue Wege im Geflecht der Natur zu entdecken, dessen untrennbarer Bestandteil wir sind.
Daniel Rycharskis Werke nehmen die Betrachter*innen mit in das ländliche Polen, einen Wirtschafts- und Lebensraum, der schon fast vollständig verschwunden sind. Basierend auf typischen Objekten, die auf dem Land verwendet werden, spielen seine Ready-Made Arbeiten auf bestimmte soziale, religiöse und ökonomische Aspekte des Dorflebens an. Was der Künstler hier versucht zu vermitteln, ist jedoch keine romantische Nostalgie, die das Land für immer als ideale Vergangenheit einfriert. Rycharski lenkt die Aufmerksamkeit auf die Aspekte, die durch die Verdrängung des bäuerlichen Lebensstils und der damit verbundenen Sichtweise auf das Verhältnis von Mensch, Kosmos und Natur in der Gesamtgesellschaft verloren gegangen sind. Sein künstlerischer Ansatz wendet sich damit von der üblichen Stadt-Land Dichotomie ab und stellt den modernen Fortschrittsglauben in Frage.
Seine Arbeiten, die mit einer historischen Aura spielen und sich dennoch auf seltsame Weise ausserhalb der Zeit befinden, vermitteln anstatt dessen ein beunruhigendes Gefühl von Identitätsverlust, weisen aber auch auf Konflikte im Verhältnis zwischen Kollektiv und dem Selbstfindungsdrang des Individuums hin. Ergänzt durch detaillierte Hintergrundinformationen geben sie einen Einblick in eine Welt, die erschüttert, weil sie für immer fremd sein wird, obwohl sie die kollektive Mentalität über Jahrhunderte geprägt hat. Ein schlichter, mit billigem weißen Stoff ausgestatteter Holzsarg, der aufgeklappt und aufrecht steht und wie ein Portal zum Durchgehen einlädt (Dead Class), bringt zahlreiche Assoziationen vom harten, kargen und gläubigen Leben mit. Wie in vielen von Rycharskis Arbeiten sind diese Vorstellungen irgendwo zwischen Klischee und Wahrheit verwurzelt. Die Skulptur ist inspiriert vom Schicksal eines LGBTIQ+ Landwirtes, der wie viele nicht-heteronormative Bauern und Bäuerinnen soziale Isolierung erfahren hat. Indem der Künstler Fragen der sexuellen Identität einbringt, schafft er einen krassen Gegenpol innerhalb des Kontextes dieser ländlichen Welt mit ihren katholisch-patriarchialischen Strukturen.
Die Rekonstruktion althergebrachter bäuerlicher Denkweisen und Wertsysteme und die Frage nach der Bedeutung oder Verwendbarkeit dieser in der heutigen Gesellschaft bilden damit einen zentralen Aspekt in seinen Werken. Hölzerne Schweinetröge, die mit glänzenden golden Münzen ausgelegt sind, sind als repräsentative Objekte für die Bauernkultur mit ihrem Bezug zum Konkreten und Praktischen konzipiert (Cepelia From A Pigsty).Gleichzeitig stellen die wertlosen, mit der Tierzucht verbundenen Tröge, die nun kostbaren Reliquien gleichen, durch ihre pathetische Überhöhung die Frage nach dem Kunstcharakter und Werthierarchien, die hier auf den Kopf gestellt werden. Die Arbeit erinnert aber auch an das mühsame, mehrere Generationen einspannende Ansparen von Geld für die Existenzgründung. Das Landleben zeigt sich bei Daniel Rycharski so in einer rohen, ehrlichen Härte, gegen die illusorische Gläubigkeit das einzige Mittel zu sein scheint. Dieser Grundsatz findet sich auch in dem ehemaligen Schwungrad einer Hächselmaschine wieder, dass er in ein Ying und Yang Zeichen verwandelt hat, in dem die eine Hälfte mit Milch und die andere mit Öl gefüllt ist. Das Rad soll so an auf einen innerlichen Wunsch der Bauern hinweisen, das Eintreten eines Ausgleiches zwischen Benzin- und Milchpreisen.
Das Aufbrechen oder auch Verstärken der Schwere und unheimlichen Atmosphäre, die traditionelle religiöse Symbole wie ein altes Kreuz oder Kruzifixe mitbringen, findet sich häufiger in Rycharskis Arbeiten wider. Ein Nest, das um ein altes Holzkreuz gebunden ist, ist einem Motiv aus einem Roman entlehnt (Nests). Die Bevölkerung verlassener Turmspitzen und Dächer durch Vögel, die eng mit der Zivilisation des Menschen verbunden sind, ein Symbol der Hoffnung und Wiederbelebung, bekommt hier durch Federn in Regenbogenfarben jedoch eine traurige Konnotation. Die Tatsache, das neue Hygieneverordnungen das Zulassen von nistenden Vögeln an Agrarbauten mittlerweile verbieten, verbindet der Künstler mit der Situation der Menschen der LGBTIQ+ Community, denen der „Nestbau“, das finden eines stabilen Lebensmittelpunktes und das offene und freie Leben einer Partnerschaft, durch die konservative Regierung ebenso verwehrt ist. Rycharski idealisiert das Landleben nicht. Doch es gelingt ihm, durch das musealisierte Bild, was er hier von der bäuerlichen Welt entwirft, den Verlust zu verdeutlichen, der mit einem Modernisierungsdiktat einhergeht, das letztendlich nur angleicht, aber nicht verbessert. Die Position, die der Künstler einnimmt, lassen die Prozesse, die Polen im Zuge des EU-Beitritts gegangen ist, in einem kritischen und düsteren Licht erscheinen.
Zuza Golińska, die für ihre raumgreifenden Installationen bekannt ist, die als kunstvolle Parcours die Bewegungen der Besucher*innen sowohl spielerisch lenken als auch sanktionieren, nähert sich der gesellschaftlichen Situation in Polen erneut aus einer anderen Richtung. Viele ihrer Arbeiten sind inspiriert durch ihren Aufenthalt als Stipendiatin in London. Zu dieser Zeit führte die Regierung ein neues städtebauliches Konzept ein, das bestimmte architektonische Eingriffe in öffentlichen Räumen wie Parks oder Fußgängerzonen vorsah, die unerwünschte Handlungen durch die Bürger*innen verhindern sollten. Maßnahmen wie verengende Strukturen, die den Raum fragmentierten, verkleinerte Sitzgelegenheiten und unterteilte Bänke sollten öffentliche Orte für den längeren Aufenthalt verdächtiger Personengruppen ungemütlicher machen und das Campen von Obdachlosen verhindern.
Golińska beschäftigt sich in ihrem Werk intensiv mit dem Verhältnis des Individuums zur Diszplin. Sie untersucht insbesondere die Frage, unter welchen Bedingungen Menschen sich für das kollektive Wohl auf disziplinierende Maßnahmen einlassen. Auf ihren städtischen Erkundungen in London hat die Künstlerin eine Vielzahl von „weichen“ Beschränkungen fotografisch archiviert, die das Verhalten im öffentlichen Raum steuern und vom Normalbürger oft unbemerkt bleiben. Dieses Prinzip der weichen Eingriffe in die freie Bewegung, die oft zunächst gar nicht als einschränkend wahrgenommen werden, findet sich in vielen der teils begehbaren Installationen von Golinksa wieder. Durch die Herausforderungen, reizvolle Barrieren zu umgehen oder bestimmte Module zu nutzen, die ihre Strukturen von den Besucher*innen verlangen, kann das Publikum selbst testen, ab welchem Punkt der eigenen Wahrnehmung nach die sanfte Leitung zur Sanktion wird.
Ihre neuste Arbeit The Claws of Events beschäftigt sich ebenfalls mit Disziplin, die hier als Kontrast zu magischen Denken gesetzt wird, hat aber auch einen biografischen Ausgangspunkt. Die Installation, die aus zwei Komponenten besteht, verbogenen Stahlstreben um die sich, unordentlich auf dem Boden verteilt, seidenen Decken in Rosa schlingen und als wirres Paar aufeinandertreffen, steht im Zusammenhang mit der Suche der Künstlerin nach ihrer Identität. Die Künstlerin untersucht die Auswirkungen größerer sozio-politischer Muster in ihrem Leben, indem sie etwa betrachtet, welchen Einfluss das Erbe der Ostblockstaaten auf ihr eigenes kulturelles und sexuelles Selbstempfinden ausgeübt hat. Die Installation scheint in ihrer ästhetischen Struktur die Schwierigkeit, eine abschließende und befriedigende Antwort auf diese komplexe Frage zu finden, zu illustrieren. Krasse Gegensätze, ein an Verwirrung grenzender Strukturmangel, Inkonsequenz und Unverbundenheit sind die Stichworte, die einem beim Umkreisen der transparenten Installation, die viele Durchsichten, aber wenig Einsichten bietet, direkt einfallen. Zudem gibt es ein Gegenspiel zwischen Kitsch und Industrieprodukten, Weichheit und Härte, das auch als klischeehafte Kollusion von „weiblich“ und „männlich“ aufgefasst werden kann.
Auch diese Installation schreibt eine bestimmte Umgehungsweise vor und schränkt den Bewegungskreis der Betrachter*innen durch weiche Grenzen ein, die sich durch die unterschiedlichen Positionierungen der Stahlstreben und Decken ständig verschieben. Räumlich wäre ein Durchgehen der Arbeit möglich, was aber nicht vorgesehen ist. Die Arbeit löst damit durchaus Konflikte aus. Durch diese Zerrissenheit ist sie eng mit der aktuellen politischen Situation in Polen verbunden. Dort wird, ähnlich wie in London, der öffentliche Raum immer weiter sanktioniert, nicht durch „intelligente“ bauliche Interventionen wie in London, sondern durch Gesetze und das Einschreiten der Ordnungskräfte. Der Raum für zivile Freiheiten, wie das äußern der eigenen Meinung und politische Aktivitäten, die nicht der rechts-konservativen Regierungslinie folgen, hat sich in den letzten Jahren immer weiter verkleinert. In einer graduellen Form, die viele Bürger*innen gar nicht bemerken oder für finanzielle Sicherheit eintauschen. Die sichtbaren Barrieren der Lenkung und Einschränkung in Zuza Golinskas Werken bilden daher eine Metapher für die unsichtbaren autoritären Strukturen, die unser Verhalten steuern. Sie verdeutlichen den Prozess, in dem Menschen äußere Disziplinierung als Selbstdisziplin akzeptieren und Zwang schließlich als „freie“ Eigenleistung empfinden.
Mit Diana Lelonek, Daniel Rycharski und Zuza Golińska begegnet man in der Ausstellung des Dorothea von Stetten Kunstpreises 2022 einer Gruppe Künstler*innen, die als Direktorin, Kurator und Kunstkritikerin stark in der polnischen Kunstszene engagiert sind. Als Persönlichkeiten vermitteln sie ein hoffnungsvolles Bild einer künstlerischen Gemeinschaft, die ihr Potential für gesellschaftliche und politische Kritik innerhalb des vorhandenen Systems zu nutzen und einzusetzen weiß. Die Fähigkeit, diesen Drahtseilakt zu bewältigen, zeichnet sie gegenüber ihren europäischen Kolleg*innen besonders aus. Der Jury des Dorothea von Stetten Kunstpreises ist es somit nach den Ländern Tschechien (2014), die Niederlande (2016), Dänemark (2018) und die Schweiz (2020) mit dem Fokus auf junge Kunstschaffende in Polen erneut gelungen, gemeinsam mit der Vorstellung besonders beachtenswerten Künstler*innen eines europäischen Nachbarlandes auch einen Einblick in den spezifischen gesellschaftlichen und thematischen Rahmen zu geben, in dem Kunst geschaffen wird. Für diesen sensiblen Rückgriff auf die vermittelnde Rolle der Kunst kann man die Jury nur beglückwünschen.