siren eun young jung - DEFERRAL THEATRE —Kunstverein Düsseldorf

Es war einmal eine Zeit in Korea, da war es ganz einfach, ein Mann zu werden. Im komplett von Frauen besetztem yeoseong gukgeuk Theater lernten Darstellerinnen, sich in die traditionellen Opern-Rollen männlicher Prinzen und Schurken zu versetzen. Für die minuziöse Beherrschung als ,,männlich“ codierter Stimme, Gestik und Mimik wurden sie bewundert und doch geriet das Ensemble nach dem Gipfel seiner Popularität in den Fünfziger und Sechziger Jahren schnell in Vergessenheit. Junge Frauen, die für eine kurze Zeit die Freiheit der Überquerung von Geschlechterrollen kosten durften und doch in eine Gesellschaft zurück eintraten, die für solche Wechselerfahrungen weder Raum noch Verständnis aufbrachte. Die südkoreanische Künstlerin siren eun young jung, die zur Zeit im Kunstverein Düsseldorf ihre erste Einzelausstellung in Europa hat, hat das yeoseong gukgeuk und seine Heldinnen in das Zentrum ihres multimedialen Werkes gerückt und dazu angesetzt, mittels Performances, Videoarbeiten, Reenactments und Interviews dieses vergessene Theater und seine Darstellerinnen wieder zu beleben. Als stetig in ihrem Werk repressive gesellschaftliche Konventionen aufdeckende Künstlerin untersucht jung in den eng recherchebasierten, kollaborativen Arbeiten von ,,DEFERRAL THEATRE“ das yeoseong gukgeuk unter dem allumfassenden Konzept der Queerness und versucht so, die damals getätigten Aneignungen von Geschlechterrollen mit Blick auf heutige Begriffe der Genderfluidität in der koreanischen Gesellschaft einzuordnen. In einem Raumkonzept aus flirrenden Bildern, hypnotischen Farben und einnehmenden Klängen konstruiert jung eine offene Bühne für die Begegnung mit dem opulenten Geschlechtertausch des yeoseong gukgeuk und seiner Darstellerinnen und rückt so die jahrzehntelang aus dem geschichtlichen Bewusstsein ausradierten Potentiale für die Bewältigung heute weiterhin im queeren Diskurs noch immer umkämpfte Fragestellungen neu ins Licht.

Mit dem Betreten in den Hauptraum der Ausstellung, an dessen Wänden verteilt vor neonorangenen Grund überall Mitschnitte von Performances und Theaterstücken sowie andere videobasierte Inszenierungen und Vorführungen über die Bildschirme flimmern, meint man selbst auf eine Bühne zu treten. Geleitet durch eine irritierend konfrontativ in den Raum gesetzte,  rautenförmig platzierte niedrige Bühne und umgeben von Collagen aus Archivbildern und dichten Vorhängen, hinter denen ein omnipräsentes Gemisch aus Gesang, Klang und Technobeats hervor halt, begibt man sich in ,,DEFERRAL THEATRE“ in ein  flirrendes Grundrauschen, einen anachronistischen Raum, in dem sich die Ästhetik und die Transformationen des yesoeong gukgeuk in alle Richtungen bis in die Gegenwart queerer Performer und Erfahrung, Subkultur und Drag ausbreiten.

Die Videoarbeiten bilden untereinander Fragmente eines assoziativen Gesamtporträts des Theaters, in dem archivarische Aufarbeitungen auf performative Fortführungen und Anknüpfungen an dessen Geschichte und das Leben seiner Darstellerinnen treffen. Im Zentrum steht die männliche Hauptrolle des ,,nimai“ und der physische wie auch psychische Prozess der Transformation in diese Rolle, die in gleich mehreren Arbeiten zu sehen ist beziehungsweise beschrieben oder als Performace thematisiert wird. Der Protagonist ist gekennzeichnet durch traditionelle koreanische Kleidung, ein weißes Gewand und einen hohen schwarzen, unter dem Kinn gebundenen Hut, was ihm das Aussehen eines konfuzianistischen Beamten verleiht. Verkleidung ist jedoch nur ein kleiner Teil der Rolle, die, wie man in Arbeiten wie ,,Sorry the Performance will be delayed“, (2018) mit der Nachwuchsdarstellerin Nam Eujin oder ,,(Off) Stage/Masterclass“, (2013) lernt, die Aneignung eines speziellen Codes ,,männlicher“ Eigenschaften in Stimme, Mimik und Gestik verlangt. Das Gelingen der vollumfänglichen Verwandlung in den männlichen Helden stellte für die Darstellerinnen die hohe Schule des yeoseong gukgeuk dar.

In ,,DEFERRAL THETRE“ lässt jung den nimai wieder auftreten in einem grellen Gewitter aus Scheinwerferlicht und elektronischer Musik, zeigt Nahaufnahmen einer sich für die Rolle vorbereitenden ehemaligen Darstellerin zusammen mit einer jüngeren, neuen Generation von Schauspielerinnen. In ähnlich buntem Dekor wie das yeoseong gukgeuk inszeniert jung die queere Performerin Kim Dawon im schwarzen Anzug als Dandy gedresst, der zu Playback affektiert singend über die Bühne stolziert (,,I am the King“, 2018). Durch die ständigen Überkreuzungen historischen Materials wie Interviews, Zeitungsartikeln, alten Fotos und Aufnahmen von Vorstellungen mit solchen Re-Inszenierungen traditioneller Theaterrollen und Auftritten queerer Performer*innen unterläuft jung bewusst eine lineare Auffassung des Archivs, wie sie dem hegemonialen Narrativ entspricht. Befreit von der zeitlichen Achse erscheint in ,,DEFERRAL THEATRE“ das yeoseong gukgeuk nicht mehr als Bestandteil einer ,,historischen“ Vergangenheit, sondern als spezifischer Punkt, an dem im Bühnenakt binäre Geschlechterrollen anhand zur Aneignung disponiblen ,,männlichem“ und ,,weiblichem“ Verhaltens offen verhandelt wurden. Mit der Aktivierung dieses Moments macht jung das Theater und sein Erbe verfügbar für das Selbstverständnis der heutigen LGBTQ+ Gemeinschaft, für die angesichts der andauernder Ausgrenzung in Südkorea solche Möglichkeiten der Verankerung eine stärkere Relevanz einnehmen, wie man es auf den ersten Blick meinen mag.

Die Arbeit ,,Anomalous Fantasy_Korea Version“, (2016), in der Aufnahmen eines Bühnenauftritts der homosexuellen Chorgruppe G-Voice die Vorbereitungen der yeoseong gukgeuk Nachwuchs-Darstellerin  Nam Eunjin überblenden, bis beide Akteure in einer Bühnen-Performance ineinanderfließen, zeugen wie viele andere von jung als Direktorin entworfene Auftritte und Schauspiel-Konzepte, in denen verschiedene Generationen von Darstellerinnen zeitgenössischer und traditioneller Theaterkünste aufeinandertreffen, von der Persistenz des yeosoeng gukgeuk als Moment der freien Aneignung von Geschlechterrollen gegenüber einer jungen Generation von Koreaner*innen. Am weitesten entfernt von der Ästhetik und Bühnengeschehen des des Theaters befindet sich dabei die auf drei umgebende Wände projizierte Videoinstallation  ,,A Performing by Flash, Afterimage, Velocity and Noise“, (2019), in der in grellen, fragmentierten Bildern, zerschnitten durch stereoskopisches Licht und so insgesamt die Atmosphäre eines Tecno -Clubs nachahmend, ein mit gold bemalter Drag King AZANGMAN zusammen mit in anderen Settings erscheinenden queeren Performer*innen, sichtlich schmerzlich mit sich selbst und ihrer Isolation kämpfend. Jenseits der krassen Unterschiede der künstlerischen Ausdrucksmittel verbindet das Motiv des Kampf um gesellschaftliche Anerkennung die Generationen.

,,Wir sind gekommen, um zu bleiben“. Obgleich nur noch wenige Darstellerinnen des Theaters der Nachkriegszeit für sich selbst sprechen können, ist es diese Losung, die das zusammengeschnittene historische Material über das yeoseong gukgeuk und seine Geschlechter-Überquerungen, in den Videoarbeiten in vielfachen Schlingen wiederholt, durchdringt. Gleichwegs ist dieses historische Erbe nicht ohne Widersprüche. So ging das Theater aus einer Gruppe in der Besatzungszeit der Japaner zur Unterhaltung trainierter junger Frauen hervor, welche durch eine neue Funktion versuchten, der sozialen Ächtung zu entfliehen. In ,,(Off) Stage/Masterclass“,  (2013), berichtet eine ehemalige Darstellerin gewitzt, aber auch nicht ohne Bitterkeit von den Erfahrungen ihrer Ausbildung und den tiefen Spuren, die das ständige Überqueren der Geschlechtergrenzen in ihrem eigenen Leben hinterließ, in das sie die ,,männliche“ Rolle mitnahm und wie viele Andere Liebesbeziehungen mit ihren Kolleginnen einging. jung erreicht in ,,DEFERRAL THEATRE“, diese schmerzhaften Erlebnisse der damals sanktionierten jungen Frauen in ein in alle Richtungen offenes, frei von Überzuckerungen Konzept der Queerness zu integrieren. Von der Begegnungen mit der vergangenen Welt aus und mit Blick auf die Selbstbehauptung extrahiert die Künstlerin aus all dem Rauschen des yeoseong gukgeuk eine das heute bejahende, ermutigende Botschaft, welche, auch unausgesprochen, der älteren Generation am Herzen liegt.

,,DEFERRAL THEATRE“ ist eine die Grenzen und Brüche der subversive Identitätsquellen gerne ausradierenden autoritären Geschichtsschreibung überquerende, menschlich tief verbindende Arbeit, die nicht nur in Hinsicht auf eine spezielle Community, sondern für die ganze Gesellschaft ein bunteres, offeneres und respektvolleres Korea entwirft, in dem Spiel, Tanz und Tausch jenseits fester Normen nicht nur erlaubt, sondern auch in all seinen Formen willkommen und gefordert sind. Zugabe!

 

 

 

 

siren eun young jung, Deferral Theatre, Installationsansicht Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf  |  Foto: Katja Illner

siren eun young jung, Deferral Theatre, Installationsansicht Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf  |  Foto: Katja Illner

siren eun young jung, A Performing by Flash, Afterimage, Velocity, and Noise, Installationsansicht Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf  |  Foto: Katja Illner

siren eun young jung  |  Foto: Katja Illner