Leunora Salihu - Pieces + Rundgang —Skulpturenpark Waldfrieden

Erinnert sich noch jemand an das Konzept des Märchenwaldes? Ein bewaldeter Hang mit kleinen Hütten, in denen Figuren Märchenszenen nachstellen vor der Kulisse eines Sees, ein Ausflugslokal und Spielgeräte, die schon damals völlig überkommen waren. In diese Kindheitsmomente des Wunderns, Entdeckens und Staunens habe ich mich wieder hineinversetzt gefühlt, als ich letztens durch den menschenleeren Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal gestreift bin. Nicht ganz Museum und doch nicht ganz Park, teils Natur, teils Kunstfläche, ist der 2006 vom britischen Bildhauer Tony Cragg als dauerhafter Ausstellungsort für seine Skulpturen erworbene und 2008 als Kunstraum gegründete Park, der sich auf einem bewaldetet Grundstück erstreckt, das einst dem Wuppertaler Industriellen und Mäzen Kurt Herberts gehörte, einer dieser seltenen Orte, der außerhalb des Gewohnten liegt und wo man dieses seltsame, aber angenehme Gefühl des displacement verspürt.

 Ruth Eising, Pressereferentin im Skulpturenpark Waldfrieden, die mir heute den Park und die Ausstellung der zeitgenössischen Künstlerin und Tony Cragg Schülerin Leunora Salihu in einem der beeindruckenden, hohen und zu allen Seiten hin verglasten Pavillons auf dem Gelände zeigen wird, empfängt mich in der Villa von Kurt Herberts. Das 1948 nach anthroposophischen Prinzipien auf dem Fundament der eines im Krieg zerstörten Vorgängerbaus errichtete Haus erinnert an eine fließende Skulptur, die sich zu allen Seiten hin ausbreitet, Türöffnungen, Wände, riesige Fenster, alles ist rund. Nach mühevoller Renovierungsarbeit erstrahlt seit ein paar Jahren alles im neuen Glanz, in die Wände integrierte Sideboards aus Holz, helles Parkett und ein geschmackvoll ergänztes Mobiliar. Der Blick aus den bodentiefen Fenstern hoch in den Park und dort verstreuten Skulpturen ist atemberaubend. Überhaupt ist es ein besonderer Tag, es ist kühl und nass, aber das glänzende frische Grün der Baumkronen umso intensiver, die vom Regen dunkel getünchten Baumstämme morphen beinahe mit den schwärzlich-braunen Skulpturen von Tony Cragg. Märchenhaft eben.

Der Baugrundschutz hat das nach dem Tod von Herbert seit 1989 brach liegende Gelände, das bereits eine sorgfältig durch seinen Besitzer entwickelte Parkkonzeption mit Wegenetz und ausgewählten Baumsorten aufwies, vor der Bebauung bewahrt. Als Tony Cragg es erwarb, um hier seine Vision eines Skulpturenparks zu verwirklichen, war es verwildert. Die drei Glashallen für Wechselausstellungen durften nur an speziellen Orten errichtet werden, der Park hat seinen ursprünglichen Charakter eines Waldstückes bewahrt. Die Natur regiert weiterhin, Wege durchkreuzen sie nur vorsichtig, keines der sukzessive zwischen 2008 und 2017 errichteten neueren Gebäude versperrt den Blick. Vor allem die Skulpturen fügen sich wie natürlich in die Umgebung des Waldes ein, dies so zu erreichen, stellt eine Meisterleistung dar und zeugt von Tony Cragg’s voraussauender Visionskraft, einen solch gegensätzlichen und zugleich harmonischen Raum zu schaffen. Rund 50 meist recht groß dimensionierten Skulpturenwerken begegnet man im Park entlang sich spielerisch schlängelnder, den Hügel erklimmender Wege. Rund die Hälfte sind von Tony Cragg, die übrigen von einer vielfältigen Auswahl anderer Künstler*innen und Bildhauer*innen, die dem Park als Leihgaben überlassen sind und teils auch wechseln. Gerade bei meinem Besuch wurde eine neue, monumentale Skulptur von Sean Scully, eine Art Kubus aus aufeinander gesetzten riesigen Steinquadern, an das Wegenetz angeschlossen.

Tatsächlich entwickelt man eine ganz neue Beziehung zu den immer wieder vor und aus der Kulisse des Waldes von verschiedenen Sichtwinkeln und Ebenen aus in den Blick geratenden Skulpturen. Denn hier scheint man in ihrem Reich zu sein, ganz in der Rolle des Besuchers, der eingeladen ist, sich auf etwas Neues einzulassen. Tony Cragg’s  ikonische, sich häufig säulenhaft mehrere Meter empor windenden, mal mehr konzentrisch vom Boden aus kreisförmig ausbreitende Skulpturen bestechen durch ihre dynamischen, morphologischen Formen, die wie aus einer Bewegung erstarrt erscheinen. Die runden verschachtelten, scheinbar in einem gegossenen Elemente erinnern manchmal Körperteile, Gesichter oder Gegenstände. Figuren und Linien, die sich selbst organisch weiterentwickeln und wie aus der Natur entnommen wirken. War dies auch Tony Cragg’s Vorstellung, als er das Gelände geplant hat? Auf jeden Fall kommen seine Werke hier auf eine fast intime Weise zur Geltung, wie es kaum im Stadtraum oder im musealen Raum erreichbar wäre.

Mit dem Betreten der Ausstellung von Leunora Salihu  in einem hoch über dem Gelände mit Blick auf die Stadt thronenden Pavillon wechselt sich wieder die Umgebung vom Außen- zum Innenraum, denn ihre feinteiligen Skulpturen aus MDF-Holz Platten und Tonobjekten, die einem modularem Bausystem folgen, wären auch gar nicht für Draußen gedacht. Die Künstlerin ist im Kosovo geboren und lebt seit vielen Jahren  in Deutschland, wo sie als Meisterschülerin von Tony Cragg an der Düsseldorfer Kunstakademie abschloss. Unmittelbar mit der Erkundung der Ausstellungsfläche mit den großzügig dort verteilten Objekten, versteht man, was Ruth Eising meint mit der Einschätzung, dass Leunora Salihus Position eine einzigartige Neuentwicklung auf dem Gebiet der Bildhauerei darstelle. Die Funktion, die Ton hier als Bauteil, Modul, tragendes und getragenes Element in einer systematisch architektonischen aber auch spielerischen, das Dekorative nie ganz ausklammernden Regelmäßigkeit einnimmt, ist wirklich neu. Die sich aus geometrischen Grundformen entwickelnden Körper aus Ton gehen eine Art Symbiose mit schmalen  und in Erdtönen gefärbten Gerüsten aus MDF-Platten ein. Diese rahmen die Tonobjekte ein, umgegeben und stützen sie, grenzen aber auch ein und sanktionieren deren Körper.

In der Kombination entstehen Skulpturen, die wie Apparate wirken: Regale mit gelagerten Einheiten, organähnliche Röhren aus ellipsenförmig zusammengesetzten rot gebrannten Tonschnüren, an Telefonschaltkästen erinnernde Quader mit dutzenden an Hörer erinnernde Trichter aus schwarz lackiertem Ton. Leunora Salihu beherrscht die im Ton angelegte ästhetische Sprache meisterhaft. Der Blick des Betrachters und übliche Sehgewohnheiten werden dabei entlarvt. So erscheinen die sich in der Form exakt wiederholenden einzelnen Tonobjekte völlig identisch, erst ein Blick von Nahem zeigt, dass der Beschaffenheit des Materials entsprechend natürlich keine Form exakt wie die andere sein kann, es kleine Unregelmäßigkeiten in den Konturen und eingearbeiteten Rillen gibt. Von einer anderen Wahrnehmungsperspektive aus fällt es schwer, nicht doch die üblichen mit Ton in Verbindung gebrachten Dinge wie Vasen oder Schüsseln, in den Objekten zu sehen, auch wenn sie hier einer ganz anderen Logik folgen, aufgeschnitten und zu einer sich in einer Achse spiegelnden Säule aufgereiht oder vertikal aus Wandplatten hervor ragend. Leunora Salihus Skulpturen schaffen damit etwas, das ganz zentral in der Kunst ist und gerade im Bereich der Bildhauerei als ein reizvolles Spiel erscheint. Sie entlarven unseren stetig, und meist unbewusst, nach Regelmäßigkeit und gewohnten Gestaltungsgesetzen suchenden Blick.

Der Gang von der Ausstellungshalle den Hügel hinunter durch den Park lässt noch mal die Vielfalt der Anlage hervor scheinen. Hut- oder Trichterförmige, scheinbar schwebend sich drehende dunkle und helle Bronzeskulpturen von Eva Hild. Ein auf dem Kopf stehendes, gegenüber den monochromen anderen Werken im Park ungewohnt farbiges einsichtbares Phantasiehaus von Thomas Virnich, das ein bisschen an das ,,Wandelnde Schloss“ aus dem Anime von Miyazaki erinnert. Weiter unten im Park werden diese Werke ergänzt durch einen ,,Trashstone“ von Wilhelm Mundt, der weiß glänzend die Form gigantischer Insektenlarven nachzuahmen scheinen, aber aus gesammelten Müll besteht, und ,,Big Psycho“, eine breitbeinig sich bückende Gestalt mit großem Hintern aus glänzender Bronze von Erwin Wurm, deren Oberkörper in einer schlauchartigen Hose verschwindet, wenn es sich nicht um ein gänzlich nicht-menschliches und kopfloses Wesen handelt. In den beiden unteren Ausstellungspavillons – einer davon befindet sich auf der Fläche des ehemaligen Schwimmbads der Villa – sind angelehnt and das Beuys Jahr 2021 zur Zeit ausgewählte Werke von Joseph Beuys sehen.

Der Skulpturenpark Waldfrieden ist ein zauberhafter, aber auch sehr vielschichtiger Ort. Seine heutige Mission, Kunst mit Natur und dem Menschen zu verbinden, wurde schon durch seinen Besitzer Kurt Herberts angelegt, der sich mit einem an Bewegungsströme und organische Formen angelehnten Neubau mitten in einer reichen Parklandschaft ein Refugium schuf. Eine Intention, die bis heute erhalten sein scheint. In der Berücksichtigung der Natur als Raum und dem behutsamen Umgang mit ihr, wie mit den luftigen Glaspavillons, die Innen und Außen, die Parklandschaft und Vegetation, in ein reziprokes Verhältnis bringen, dominiert nie ein Aspekt den anderen. Es ist, als hätte der Park und seine Skulpturen eine eigene Seele, die von der Leitung durch die Auswahl der Kunst gepflegt muss. Wie es mir Ruth Eising erklärt, darf diese Kunst vielfältig sein und unterliegt keinen grundsätzlichen stilistischen Voraussetzungen, außer, dass sie auf ihre Weise mit dem Aussenraum korrespondiert. Ein gewaltiges Potential, gerade für Newcomer im Bereich der Skulptur wie Leunora Salihu, schlummert daher meinem Eindruck nach in diesem Park. Und vielleicht auch gar nicht abwegig, ein Märchenwald für uns so schwer zu beeindruckende Erwachsene.

Leunora Salihu. Welle (2020)  |  © Leunora Salihu. Foto: Michael Richter

Leunora Salihu. Turm (2020)  |  © Leunora Salihu. Foto: Michael Richter

Leunora Salihu. Resonanz (2020). Leihgeber Sammlung Philara  |  © Leunora Salihu. Foto: Michael Richter

Leunora Salihu. Ohne Titel (2019)  |  © Leunora Salihu. Foto: Michael Richter

Skulpturenpark Waldfrieden. Tony Cragg  |  © Charles Duprat

Tony Cragg. Distant Cousin (2006)  |  © VG Bildkunst Bonn 2019. Foto: Michael Richter

Villa Waldfrieden mit Henry Moore. Sitzende (1957)  |