Karl Schmidt-Rottluff Stipendium —Kunsthalle Düsseldorf

Das Ausstellen von Preisträger*innen großer Stipendien hört sich wie ein Heimspiel für Kunsthäuser an. Was kann es Besseres geben, als eine schon durch eine Jury ausgezeichnete Gruppe von vielversprechenden Künstler*innen zu zeigen? Aber tatsächlich ist es gar nicht so einfach, aus so einer Empfehlung eine runde Ausstellung zu machen die dem Betrachter mehr mitgibt, als den Eindruck, eine Liste von Namen abzuschreiten. Es ist diese Ehrlichkeit des kuratorischen Teams gegenüber der seit zwanzig Jahren der Kunsthalle Düsseldorf von der Studienstiftung des Deutschen Volkes anvertrauten Aufgabe, Preisträger*innen des Karl Schmidt-Rottluff Stipendiums auszustellen, welche die Ausstellung für mich direkt sympathisch macht. Unter den Themen Lesbarkeit, Dokumentation und Formfindung haben die Kurator*innen für die ein weites mediales Spektrum von Malerei, Fotografie, Installation, Film, Skulptur und Medienkunst abdeckenden Positionen Gegenüberstellungen entworfen. Eindrücke von inhaltlicher Verwandtschaft und ein Gefühl ästhetischer Ausgewogenheit begleiten so den Besuch zusammen mit Begegnungen all der individuellen Besonderheiten der ausgestellten Preisträger*innen und ihrer Werke.

Als Ausstellung koordiniert durch die Studienstiftung in Berlin, wurde das Karl Schmidt-Rottluff Stipendium 1975 von seinem gleichnamigen Stifter, selbst Künstler, gegründet, um Absolvent*innen gerade in der kritischen Übergangsphase zwischen Akademieabschluss und Eigenständigkeit als freischaffende/r Künstler*in zu unterstützen. Die zehn in der Kunsthalle zu sehenden Künstler*innen hatten also das dreifache Glück, einmal frei von finanziellen Sorgen ihr Werk weiterentwickeln zu können, zum Zweiten die Bestätigung über den künstlerischen Wert ihrer Themen und Techniken zu erhalten und schließlich die Chance ermöglicht zu bekommen, in einer allein ihnen gewidmeten Ausstellung in einer für junge zeitgenössische Kunst bedeutenden Institution gezeigt zu werden. Was – und wen – gibt es also zu sehen?

Ich möchte beginnen mit den drei Künstler*innen, die zusammen im Themenabschnitt Dokumentation zu sehen sind, Henrike Naumann mit einer Rauminstallation, Arne Schmitt und seine fotografischen Arbeiten und die zwei Filme präsentierende Yalda Afsah. Die Kuratorinnen haben sich für das vereinende Stichwort ,,Dokumentation“ entschieden, da alle drei Künstler*innen mit vorgefundenem Material, Umgebungen oder Situationen, teils auch biografischer Natur, arbeiten und dafür Werke entwickeln, die dieses observatorische Sammeln in eine für den Betrachter nachvollziehbare Form bringen. Bei Henrike Naumann begegnen wir etwa einem ein gutes Drittel des Raumes ausfüllendem, von minzgrünen Wänden umrahmten Wohninterieur, markiert als solches durch Stühle, Tische, Lampen, Teppiche und Schrankvitrinen, wobei alle Gegenstände durch einen überkommenen, längst ausrangierten, an die 90er Jahre erinnernden Stil vereint sind. Die Hauptrolle in dieser Szenerie spielen aber mittelformatige moderne, leicht abstrakte Malereien, in denen sich im Bildraum gestaffelte Personengruppen tummeln.

Die wie beiläufig eingespielt wirkenden Malereien sind Werke Naumanns Großvaters Karl Heinz Jacob, der Maler in der DDR war. Die zufällig von ihr recherchierte Tatsache, dass diese Werke in einem Ausstellungskatalog von 1961 als sowjetische Propagandamalerei bezeichnet wurden, von Westdeutschland in ihrem künstlerischen Wert so amputiert, was langfristige Folgen für ihren Großvater hatte, hat die Künstlerin tief beschäftigt. In Installationen wie in der Kunsthalle verarbeitet Naumann dieses schwierige, an ihre eigene Biografie geknüpfte Erbe der DDR, indem sie anhand von Möbeln, die ihrer Wahrnehmung nach dem Mobiliar ähneln, das nach der Wende in die Wohnzimmer des Ostens einströmte und – für Naumann symbolhaft für den Untergang der DDR – , das Alte plötzlich verdrängte, an ihre persönliche familiäre Geschichte anknüpfende Räume schafft. Die Künstlerin wirft mit ihren Kunstwerk-bespickten Interieurs so unterschwellig größere gesellschaftliche Fragen auf, welche sich um den Komplex ,,Wiedervereinigung“ kreisen und die heute nicht bewältigt sind.

Arne Schmitts Fotografien und Filme folgen dem Blick eines Historikers, der penibel Architektur, Städtebau, Bauformen und Denkmäler in spezifischen Regionen untersucht und in großen Serien zusammenfasst, die er wie in der Kunsthalle in Auszügen präsentiert. Schmitts Betrachtungen von Bauten und Gestaltung des öffentlichen Raumes, gänzlich in schwarz-weiß fotografiert, bleiben aber kurz bevor sie ganz ins Dokumentarische übergehen, an einer ambigen Stelle stehen, wo das Rätselhafte, ein wenig ästhetisch Verschrobene übernimmt.  So zeigen die Bilder in Schmitts Serie über die Osteifel, in der er den Einflusses der langen Geschichte des Basaltabbaus auf dörfliche und kleinstädtische Räume in der Region untersucht, anhand von Fotografien vom Verbau des Gesteins in alte Häuser, gründerzeitliche Bauten und Brunnen in örtlichen Fußgängerzonen nicht nur das durch die Verwendung des Basalts entstehende architektonische Bild. Die Serie spiegelt auch auf einer zweiten Ebene Aufstieg und Fall der Region wieder, ein vielleicht noch als Nostalgie nachwirkendes Erbe, welches die Mentalität der Menschen als scheinbar ewige Erinnerung in Denkmäler und Bauten gefasst immer noch prägt, aber doch irgendwie die Tristesse der Orte noch deutlicher hervorstechen lässt.

Arne Schmitt hat in großen Paneelen Fotografien von zentralen Bauten der Architekturgeschichte und Essays zusammengebracht, die Teil einer kollektiven Erinnerungskultur sind. Auch das Gebäude der Kunsthalle und dessen architektonische Geschichte, die mit der langen Ablehnung des Baus wegen seiner als brutal empfundenen Betonarchitektur durchaus stürmisch ist, hat Schmitt in einer mit Texten angereicherten fotografischen Serie untersucht. Die so entstehenden architekturhistorischen Tafeln folgen in ihrer präzisen Ordnung der Logik der Dokumentation, strahlen aber durch ihre nüchterne Sachlichkeit auch einen eigentümlichen, etwas überkommenen Stil vor-digitaler Informationsvermittlung aus. Dieses Arbeiten mit Rückbezügen und Zitaten ist jedoch ein zentraler Teil der Methode des Künstlers, wie es auch ersichtlich wird in einer Videoarbeit, in deren Rahmen  Schmitt in die durch den Industriegiganten BASF geprägten Städte Mannheim und Ludwigshafen auf Grundlage eines Berichts Ernst Blochs von 1928 genau die damals beschriebenen atmosphärischen Spezifika der Städte durch seine Linse in den heutigen Umgebungen wieder an die Oberfläche holt.

Auch die beiden Videoarbeit von Yalda Afsah, die auf Aufnahmen von im Süden Frankreichs lokal verbreiteten und als Teil von Volksfesten durchgeführten bizarren, hochgefährlichen Stierkampfspielen basieren, folgen dem Anschein nach der Logik der Dokumentation, schaffen im Kern aber etwas völlig Unabhängiges. Denn trotz der ultimativen Konzentration auf das Thema Stierkampf sammelt Afsah kein dokumentarisches Material, sondern Eindrücke, subtile Bilder, die die knisternde, hitzige aber genauso nervöse Atmosphäre der Stierhetzen in einer mit Discoschaum gefüllten Arena und in einem seichten Fluss wiedergeben, ein Ritual männlicher Jugendlicher, wie es schnell deutlich wird. Das bewusste Sich-Aussetzen gegenüber einer unkontrollierbaren Gefahr, das einem Kinderspiel gleichende Herumspringen der Jugendlichen, von denen bei allen mutigen Gesten doch jeder in keiner Sekunde die Aufmerksamkeit auf den vollkommen verwirrten, verzweifelt seinen Feind suchenden Stier verlieren darf, dieser Zustand zwischen Euphorie und Angst ist genau das, was die Künstlerin in ihren Bildern zeigen will. So sieht man nie das Ganze, sondern nur einzelne Ausschnitte, das sich im Wasserbecken kreisende Tier, einzelne Männer, die aus der Schaumwand springen, die sich verformenden Spitzen des Schaums, einzelne Gruppen im Fluss, anhand derer Gesichter sich nicht erkennen lässt, wem oder was sie mit ihren Blicken folgen. Die Auflösung der Handlung, die Begegnung Mensch-Stier, erfolgt nie. Die erst im Nachhinein zu den Bildern entworfene, hinzugeschnittene Vertonung verstärkt die Entrücktheit der Bilder, die an den ewigen Kampf zwischen Mensch und Stier erinnernd, sowohl eine eindringliche Sozialstudie als auch eine eigene Mythologie entwickeln.

Formfindungen lautet der nächste große thematische Bereich, unter dessen Überbegriff  die Kuratorinnen die Werke von Sarah Lehnerer, Fabian Treiber und Susann Maria Hempel auf der Empore des Ausstellungsraumes in Dialog gebracht haben. Die Werke Lehnerers fangen den Blick mit einer Reihe von sich im Motiv wiederholenden Druckarbeiten, Tinte auf Gips, in denen in einer gleichklingenden Farbpalette von Eigelb und Hellblau um eine imaginäre Mittlere Achse Körperformen gespiegelt werden, so dass mal der Umriss, mal die Fläche ein erkennbares Bild ergibt. So ein Bild wiederholt sich gleichzeitig zweimal im Großformat auf riesigen Bahnen aus dickem Seidenpapier.Um diese Zusammenstellung zu verstehen, ist wichtig zu wissen, dass Lehnerers Fokus nicht auf dem Werk, sondern auf dem Prozess des Schaffens liegt, und es sind dieses prozessuale Etappen, welche sich flexibel zwischen den Antitoden des Digitalen und Analogen hin- und herbewegen, welche die Künstlern in ihrer Kunst sichtbar machen möchte. Das Formenalphabet an der Wand ist auf Grundlage von collagierten Scherenschnitten entstanden, die die Künstlerin mit Bildern des eigenen Profils oder Körperteilen angefertigt hat. Digitalisiert und eingespeist in das Bildarchiv der Künstlerin werden die Bilder in eine neue Seins- und Zweckform überführt: in überdimensionaler Vergrößerung werden diese Bilder dann so rechnerisch bearbeitet, dass sie durch ein analoges Frottage-Druckverfahren wieder auf Seide oder Gipsplatten übertragen werden können. Lehnerers Werke sind so weder durch einen bestimmten thematischen Inhalt noch durch eine spezifische ästhetische Form bestimmt. Es ist das Prinzip der Reproduktion, wie die Künstlerin es selbst erklärt, um das sich ihr Werk in immer neu aufgegriffenen Ausschnitten sich selbst verarbeitend entwickelt.

Eine andere Art von Formfindung bewegt auch Fabian Treiber in seinen Malereien. In einem prächtigen Farbenmix erstrahlen auf den gemäldgleichen Bildern Interieurs von Räumen, ausgestattet mit allerlei Mobiliar und Gegenständen. Auf den ersten Blick. Denn bei genauerem Hinschauen bemerkt man, dass die Objekte seltsam konturlos erscheinen, ein Vorhang ist nicht wirklich ein Vorhang, die Dinge bilden sich eher aus einer Aneinander- und Übereinanderlagerung verschiedener Flächen und Ebenen, die oft gar nicht wie gemalt, sondern vielmehr wie ein feiner Film oder eine dünne Folie aufgetragen wirken. Es ist dieser perplexe Eindruck von einer irgendwie ungegenständlichen Gegenständlichkeit, wo Treiber den Betrachter mit seinen Werken abholen möchte. Seine minuziös ausgearbeitete Technik der Malerei – die mehrfache Beschichtung der Leinwand mit Lasuren, das Einarbeiten graphischer Elemente mit der Airbrush-Pistole und schließlich der stellenweise Auftrag von Acrylpaste – soll im Bildergebnis zu der Frage anleiten, wann eine gemalte Form zum Gegenstand wird. Unter Rückgriff auf Papierschablonen malt Treiber also bewusst keine Formen, sondern zitiert in seinen Bildern Wahrnehmungsfragmente, die in unserem Gedächtnis als ,,Objekt“ abgespeichert sind. Und spricht so nebenbei eine der zentralsten Fragen der Malerei an.

Susann Maria Hempels multimediales Werk lässt sich im Wesentlichen auf das Zeichnen zurückführen: nicht nur im Sinne von Malen, sondern auch filmischen oder auditiven Aufzeichnen.Werksgegenstand ist ein ihr als Bewohnerinn eines Ortes in der Ostdeutschen Provinz nahes Feld: die Künstlerin sucht die Begegnung mit den Abgehängten, einer durch Strukturwandel oder Ausgrenzung betroffenen sozialen Gruppe, die sich vor allem durch ein bestimmtes Gefühl definiert und es ist dieser Seelenzustand, den die Künstlerin versucht auf eindringliche, essentielle Art einzufangen, eine Technik, die weit über das Dokumentarische hinausgeht. Für die Präsentation eines Hörstückes hat die Künstlerin einen nur durch einen schmalen Zugang betretbaren, immersiven Pavillon entwickelt, in dem sich der Besucher ganz von seiner Umgebung abkapseln kann. In der Audioarbeit hört man die von Hempel gesammelten und in eine eigene, von ihr konzipierten Sprechform ,,übersetzten“ Stimmen der ,,Ausgeschlossenen“. In einer hastig gesprochenen, einfachen und dialektgefärbten Sprache, die nicht alles sagt und trotzdem nichts verdeckt, erfährt man vom sozialen und seelischen Abstieg, einem kaum auszuhaltendem Alltag, Alkoholsucht, Einsamkeit, aber auch der Erleichterung, sich einmal mitteilen zu können. Hempels Arbeiten stellen nicht dar, sie geben viel mehr einen elendigen Zustand wieder, sind durchtränkt von dem, was an Ort und Stelle nicht mehr nachvollziehbar ist, aber für die Betroffenen einen realen, unstillbaren Verlust oder Schmerz darstellt.

In der großen Halle wird mit dem Thema Artikulation oder Sprachfindung mit zwei weiteren Installationen ein drittes thematisches Kapitel aufgemacht. Raphael Sbrzesnys Arrangement von in ihrer genauen Funktion unklaren, rüstungsähnlichen und stählernen, anscheinend als Kostüm gedachten Gegenständen, in denen sich eine phantasievolle Kombination historischer Dinge auszudrücken scheint, breitet sich einer Wunderkammer gleich vor blauen Podesten im gesamten Raum aus. An diese Rüstungen sind Musikinstrumente montiert, so dass sich die an die musikalische Formation des Spielmannszuges angelehnten Käfige getragen tatsächlich bespielen lassen. Das ganze erscheint kurios, doch tatsächlich verflechten sich in Sbrzesnys Werk komplexe historische und musik-theoretische Referenzen. Denn die Kostüme sind entstanden aus einem Theorem, nachdem der menschliche Körper seit Einsetzen der Moderne einem nicht zu bewältigendem Druck und Spannung ausgesetzt ist. Die Rüstungen Sbrzesnys sollen den gebrechlichen Körper darin unterstützen, sein durch ihn selbst entwickeltes System aushalten zu können, die ermüdende Spannung soll sich entladen in Instrumenten. Begleitete mit einer eigenen Partitur ist es eine barocke Technologie, die sich in dem gesamten Modell zeigt, in dem es Königs- und Damenfiguren gibt, die eine Idee der Verherrlichung des Körpers aufgreifen, wie sie noch im Karneval erhalten geblieben ist.

Gegenüber von Sbrzesnys Rüstungs-Kappelle breitet sich auf einer gesamten Wand eine von Charlotte Dualé entwickelte Formation aus unzähligen, an Kordeln erinnernden länglichen Tonfragmenten aus, die zu Gruppen arrangiert ein zeichenhaftes Muster ergeben. Die einzelnen vielfarbigen Schnüre bilden Formen, die an Buchstaben oder Wörter erinnern und diese Formen entwickeln sich zu Zeilen, welche einzelne Sätze zu formulieren scheinen. Dieser starke Eindruck, einem Zeichensystem gegenüberzustehen und die sich unmittelbar entwickelnde Freude daran, die ,,Sprache“ zu deuten und die Tonfragmente zu lesen, stellt kein nebenbei entstehendes Spiel dar, sondern die von Dualé beabsichtigte Wirkungsweise der Arbeit. In Form einer im Medium Skulptur realisierten kalligraphischen Übung will die Künstlerin neue Möglichkeiten von Sprache erproben, die nicht den gängigen Regeln gehorchen und sich den Prinzipien der Funktionalität und Kommunikation entziehen. Die Arbeit reflektiert auch Dualés persönliche Erfahrungen, nach denen die Künstlerin bis jetzt keine für sie passende Form der Sprache gefunden hat, ein Eindruck, den die Künstlerin entlang feministischer Theorie hier in die Formung von Tonobjekten und deren Anbringung zu einem eigenen System der Artikulation einfließen lässt.

Entlang der Etagen vom Foyer bis zum Treppenhaus-Plateau der Ersten Etage begegnet man ein weiteres Mal installativen wie auch konzeptuellen Arbeiten, die auf ihre Weise alle Elemente der bisher drei großen Themenbereiche Dokumentation, Formfindung und Artikulation aufgreifen. In einer Nische im Eingangsbereich hat Serena Ferrario mit vor einer Leinwand platzierten Liegestühlen und Sonnenschirmen, umgeben von Budendekor und Collagen, eine Art nostalgisches Kino aufgebaut. Vor allem der Film, aber auch alles Andere ist in einer durchgehenden schwarz-weiß-grau Ästhetik gehalten und irgendetwas an diesem Ort ist unwirklich, als wäre er mehr imaginär als materiell vorhanden. Mit den den Raum überschwemmenden Zeichnungen von Gesichtern, Figuren und Gegenständen, als Pappform ausgeschnitten und mit anderen Objekten wie zu kleinen Altären arrangiert, wirkt die hier gezeigte Szenerie wie eine verzerrte Erinnerung, aus dem Gedächtnis herausgeschnitten, bevor sie sortiert wurde. Ferrario nutzt das Zeichnen als Medium, um sich selbst und ihre unmittelbare Umgebung zu erforschen und ihre eigene Identität darin zu verordnen. In der Kunsthalle zeigt sie einen Film, den sie aus Aufnahmen in Italien, vor allem vom Tourismus geprägten, mehr oder weniger bevölkerten Badeorten, und found footage Material zusammengeschnitten hat und der von ihrer Suche nach der Herkunft ihres italienischen Vaters erzählt. Die Arbeit zeigt in vielen Teilen eine verschwommene, fragmentierte, distanzierte Welt wie aus einer anderen Zeit, die Serena selbst nicht kennt aber unmittelbar prägt, sie kann, wie sie selbst sagt, die Geschichte ihres Vaters nur erfinden, aber niemals rekonstruieren. Die Künstlerin entwickelt mit ihrer Arbeit so eine eigene Form von Erinnerung, die trotzt der überbordenden, teils diffusen Flut von Bildern in Zeichnungs-Collage und Film tief-persönlich und wahr erscheint.

Der Filmemacher und Performance-Entwickler Felix Leffrank hat für die Kunsthalle ein bühnenartiges Setting entworfen, bestehend aus einer mit pinken Figuren bemalten Wand, einem blauem Sofa mit Fernseher sowie Pflanzenkübeln. Diese Sofabühne ist Ausgangspunkt der eigentlichen Arbeit Leffranks, einem sich um eine Spielshow drehenden Film, der dort auf dem Fernseher zu sehen ist und dessen finale Szene auf eben dieser Bühne gedreht wurde. Verschiedene Referenzebenen kreuzend, beschäftigt sich Leffranks Film mit der Rolle des Assistenten, insbesondere der des Ministranten, also eine extrem kindliche, fromme und gutgläubige Version der Assistenz. Zerrieben im Konflikt zwischen dem Gehorsam dem Chef gegenüber und dem eigenem Gewissen und Urteilsvermögen – ein beliebtes Kafka-Motiv, auf das der Künstler sich hier bezieht – müssen reale Akteure des Kunstbetriebs die Spielshow ,,Ghostbusters“ genehmigen, in der Assistent*innen auf Geistersuche gehen. Die Monologe und Dialoge über allgemeine Problemstellungen im Institutionenbereich, seien es Qualitätszweifel oder Plagiatsverdachte, beruhen auf Zitaten aus Leffranks Notizbuch, so dass hier eine biografische Ebene einfließt. Der starke Kontrast zwischen klarem dokumentarischen Stil einerseits und den geskripteten Sprechanteilen sowie den unsteten Rollen der sich selbst spielenden Darsteller*innen andererseits verlangt einen sich immer wieder neu justierenden, detektivischen Sinn vom Betrachter, der allmählich selbst zum Mitspieler wird. Die Pflanzen in den mit Szenen aus Leffranks Notitzbuch gezierten Tonkübeln sind in einer Dunkelkammer unter nur einem einzigen Lichtstrahl aufgezogen worden und weisen metaphorisch auf die Assistenten hin, die im Schatten des Vorgesetzten aufwachsen.

,,Resonanzräume , dieser Begriff fiel mir intuitiv als Titel dieses Artikels über die Ausstellung des Karl-Schmidt-Rottluff Stipendiums ein. Zunächst habe ich dabei an das Bild des Wiederhalls in Räumen gedacht, weil so viele Arbeiten installativ und raumgreifend konzipiert sind und sich von da aus in ihrer Umgebung ausbreiten. Resonanz auch, weil die Themen der Kuratorinnen in all den Arbeiten wiederklingen und ein sich ergänzendes und interagierendes Klangwerk bilden, auch mit durchaus unterschiedlichen Noten. Das Urteil der Jury und der Geist des Karl Schmidt-Rottluffs Stipendium findet ebenso in all den Arbeiten einen Wiederhall. Und nicht zuletzt klingen alle Persönlichkeiten, Entwicklungsschritte, Hoffnungen und Inspirationen der höchst individuellen Künstler*innen in den Werken der Ausstellung nach. Und ich bin sicher, dass sich von diesen Resonanzräumen in der Kunsthalle Düsseldorf aus ein Echo herausbilden wird, das die Preisträger*innen noch lange auf ihrem zukünftigen Weg begleiten wird. Es spricht einiges dafür.

 

 

Henrike Naumann Installation DDR Noir, 2018/2019  |  Installationsansicht Kunsthalle Düsseldorf Foto: Katja Illner

Yalda Afsah Tourneur, 2018 Filmstill, HD-Video, 14 Min.  |  

Sarah Lehnerer Untitled (self portrait, #3) Frottage, Tinte auf Seidenpapier 260 x 200 cm  |  Foto: Katja Illner

Charlotte Dualé Text, 2019 Glasierte Keramiken  |  Installationsansicht Kunsthalle Düsseldorf Foto: Katja Illner

Raphael Sbrzesny Installation Geflüster aus der Interpretenkammer, 2019 Stahlkorsette, Videos, Kostüme, Ripsmesseteppich, Drehbühne  |  Foto: Katja Illner

Serena Ferrario L'estate scorsa, 2019 Installation  |  Installationsansicht Kunsthalle Düsseldorf Foto: Katja Illner