Schirin Kretschman - Toter Winkel—Galerie Gisela Clement

Künstlerische Interventionen sind für den Betrachter eine spannende Erfahrung. Der Künstler greift mit der werkstofflichen Umsetzung seiner Idee in die Situation eines Raumes ein und verändert so die Gesetze des Ortes. Wie mit nur einer subtilen, hauchfeinen Veränderung die Wahrnehmung eines Raumes für den Betrachter komplett transformiert werden kann, demonstriert meisterhaft die im Spannungsfeld von Malerei und prozessualen Werksformen arbeitende Künstlerin Schirin Kretschmann in ihrer Einzelausstellung ,,Toter Winkel“ in der Galerie Gisela Clement in Bonn.

In den hohen Galerieräumen im Obergeschoss hat Kretschmann in minuziöser Arbeit weißen Pigmentstaub auf den Parkettboden gesiebt. Entstanden ist so eine geometrische Bodenarbeit ausgerichtet am Grundriss der Räume, leicht gekippt in den Raum gezeichnet. Durch diese Verschiebung der Fläche wird dem Betrachter ein schmaler Bereich gewährt, über den er den Raum betreten und die strahlend weiße Fläche betrachten kann. Gleichermaßen entstehen so auch dramatische Linien, die die Geometrie der Räume zerschneiden. Das durchdringende Weiß der Bodenfläche hat eine intensive Wirkung: gleichzeitig das gesamte Licht der hohen Räume schluckend wie auch reflektierend, zieht die Arbeit den Betrachter in ihren Bann. Der Raum als solcher löst sich auf, auf einmal gibt es die Trennung von Boden, Decke und Wänden nicht mehr, wir sehen nur noch Flächen. Kretschmann macht das Gewaltige dieser Räume physisch erfahrbar.

Das Aneignen von Raumverhältnissen zählt zu den Grundprinzipien der Künstlerin. ,,Baff“ war Kretschmann, als sie die riesigen Räume im Obergeschoss das erste Mal gesehen hat, der Parkettboden erschien ihr schwer, Wände und andere Raumelemente wie Leisten und Fenster nahm sie als starke Rahmungen war. Kretschmann hatte das Gefühl, sie müsse die Räume einmal komplett leeren, um diese Kolossalität, das, was sie als Raum zeichnen, erfahrbar zu machen. Die gesiebte Bodenarbeit ist daher nicht getrennt von dem Ort der Realisierung zu verstehen. Die Erfahrung von Raum und der porösen weißer Fläche als Ganzes und die dadurch entstehende Wirkung bildet dem Gedanken der Künstlerin nach das Kunstwerk. Das Bewusstsein der Fragilität der Arbeit, die Möglichkeit der Beschädigung und das Verharren außerhalb, ,,das Gefühl an der Kante zu stehen“, wie Kretschmann es formuliert, soll dem Betrachter das Gefühl vermitteln, im hier und jetzt zu sein. Die Arbeit ist eine Reduktion auf das Wesentliche.

Die Auswahl des Material Gips hat Kretschmann nicht aus ästhetischen Gesichtspunkten getroffen, es liegt auch keinerlei metaphysische Interpretation in dem Pulver, das vor allem als Baustoff verwendet wird. Der Künstlerin geht es mehr um Pragmatik: ,,das Loose“, sei ihr zentral als Werkstoff, Materialien, die sich verflüchtigen oder auflösen können wie Eisblöcke oder Schuhcrème zählen zu ihren Repertoire. Sie sieht den Ausstellungsraum bereits als Ready-made, die Materialien, die sie zu seiner Transformation anbringt, sollen verletzlich sein und offen und somit keine geschlossene Schicht bildend. Der Gipsstaub existiert nicht für sich, er übernimmt verschiedene Funktionen im Raum, zeichnet das Skulpturale der Fussleisten heraus. Der Aspekt der ,,Bodenständigkeit“, der physischen Funktionalität des Stoffes, hat für Kretschmann in der Materialauswahl eine wichtige Bedeutung.

Der Gedanke, ob und wo es heute noch nicht einsehbare Bereiche gibt, eine Erfahrung, die die Arbeit durch ihre beschränkte Zugänglichkeit direkt vermittelt, hat Kretschmann zu dem Titel ,,Toter Winkel“ inspiriert. Gleichzeitig entspringt der Titel der Auseinandersetzung der Künstlerin mit der Kartografie: die weißen Flächen, mit den man damals Orte auf der Karte gekennzeichnet hat, die nicht kartierbar waren, haben die Künstlerin fasziniert. Solche Orte, die existieren, aber unerreichbar waren – ein Phänomen der Wissenschaft, das es heute im Zeitalter von GPS nicht mehr gibt – hatten damals die maximale Anziehungskraft und lösten starke Imagination aus. Dieser Gedanke lebt weiter in dem ,,blank space“, den die Bodenarbeit bildet: einerseits bringt sie die Erfahrung des Seins im hier und jetzt, andererseits sieht Kretschmann in ihr ein Vakuum für die Imagination eines undefinierten, völlig offenen ,,Neues“.

Die Arbeit im Obergeschoss hat noch einen ,,Prolog“ im Treppenhaus, wo die Künstlerin ebenfalls in die vorgegebene Situation ,,eingegriffen“ hat. Von einer vorgehenden Ausstellung des Künstlers Martin Pfeiffle waren noch zahlreiche Stellen in einer Wand sichtbar, in der Nägel für die Stützung mehrerer an der Wand installierter Objekte geschlagen waren. Diese Stellen hat sich Kretschmann angeeignet und davon ausgehend weiter in den Wänden nach Stellen geforscht, an denen einmal Kunstwerke aufgehängt waren oder wo dies versucht wurde. Die gefundenen Stellen versieht Kretschmann erneut mit Nägeln, eine Arbeit, die sie auch während der Eröffnung fortgesetzt hat. Der Betrachter wird so sensibilisiert für die veränderte Wahrnehmung einer eigentlich klar einordbaren – Nägel in der Wand – aber doch ungewöhnlichen Situation, wie er sie auch im Obergeschoss vorfindet. Noch zwei weitere Werke bilden zusammen mit der Gipsarbeit und der Nägel-Situation die Ausstellung. Einmal hat die Künstlerin an der Wandfläche zwischen den Räumen im Obergeschoss eine Wandarbeit realisiert, bei der spontan über ein feines Netz aus Plastik Gips an die Wand angebracht wird. Der Gips trocknet, das Netz wird abgerissen, und ein zufälliges Relief entsteht. Dieses situationsbezogene Werk wiederholt die Künstlerin als Edition in den Räumen des jeweiligen Erwerbers. Im Treppenhaus hängt im Vorlauf der Installation mit den Nägeln eine schwärzlich changierende Papierarbeit in der in mehreren Schichten Löcher und Risse erkennbar sind. Kretschmann hat auf Papierbögen mit Graphit den Boden ihres Ateliers durchgezeichnet, durch die raue Struktur des Bodens mit Farb- und Leimresten sind die Verletzungen entstanden. In mehreren dieser Bögen übereinander gelegt nimmt die Arbeit Bezug auf die Struktur des schwarzen Granitbodens des Treppenhauses.

In ,,Toter Winkel“ arbeitet Kretschmann wie in vielen anderen ihrer ortsspezifischen Interventionen mit dem Gegebenen. Dies mag simple erscheinen. Doch es geht, wie es besonders in der Galerie Gisela Clement sichtbar wird, nicht um das in Szene setzten von Objekten oder Materialien in den sie beherbergenden Orten. Es ist eine alternative Lesart von Raum und Räumlichkeit, die Kretschmann vorschlägt, ein Angebot an den Betrachter, anders zu sehen und sich ausgehend von völlig bekannten (Orts)Verhältnissen etwas bisher noch nicht Gedachtes zu erschließen. Nur durch unsere Gewohnheit sind manche Winkel ,,tot“ – dies zeigt uns die Künstlerin.

 

Installationsansicht  |  © Gisela Clement