HANDS—Akademie der Künste der Welt

Die Wörter, die wir nutzen, um zu beschreiben wie wir die Welt verstehen, haben stets etwas Taktiles: Wir begreifen etwas, fassen Dinge auf, nehmen wahr.  Vor dem Hintergrund dieser Überlegung erscheint es wie eine sehr natürliche Entscheidung, dass die Akademie der Künste der Welt (ADKDW) in Köln mit „HANDS“ eine Ausstellung zusammengestellt hat, in der die Besucher*innen die neun Kunstwerke internationaler Künstler*innen berühren und durch den Kontakt mit den Händen erfahren können. Die Kurator*innen von „HANDSAla Younis und Madhusree Dutta haben in der derzeitigen anhaltenden pandemischen Lage eine Entfremdung zwischen uns und der unmittelbaren Umwelt festgestellt. Der physische Austausch mit den Kunstwerken soll daher als ein erster therapeutischer Schritt dienen, solche sich aufgestauten Kontaktbarrieren wieder abzubauen und spielerisch die physische Wahrnehmung der Dinge wiederzubeleben.

Die neun gezeigten Positionen funktionieren alle über Berührung, bringen aber auch jeweils eigene künstlerische und gesellschaftliche Ansichtsweisen und Referenzen mit. Ihr Ertasten und Bespielen ist unterhaltsam, doch sie fordern die Besucher*innen auch zu kritischer Auseinandersetzung heraus. „HANDS“ ist also nicht einfach nur ein Spielplatz für Erwachsene. So bildet Yazan Rousans Werk „Scooby Doo“ aus fünf in eine Platte eingelassenen unterschiedlich großen und dicken Stahlzylindern ein Musikinstrument, mit dem sich durch Auflegen der Hände und einem Messingstab Klang erzeugen lässt. Doch die Röhren bilden auch die Topografie einer Stadt nach. Das Befühlen der rauen Oberfläche des Stahls, welcher Staubspuren auf den Fingern hinterlässt, simuliert auch irgendwie die Erfahrung der rauen und groben urbanen Materie, welche das Gerüst der Stadt ausmachen. Yazan Rousan lässt die Betrachter*innen so nicht einfach nur Musik machen, er eröffnet durch das taktile Element genauso eine neue Perspektive auf unsere Welt.

An niedliches Kinderspielzeug könnte man zunächst die ebenfalls wie die vorige Position „handlich“  auf einem  Tisch platzierte Serie von Holzskulpturen „Roundtable of Fictives“ der Moskauer Künstlerin Taus Makhacheva auffassen. Gedacht als Theaterbühne für die Hände, reizen die zwischen Abstraktion und Konkretisierung oszillierenden Objekte, darunter ein beweglicher Pilzwald, ein Elefant, eine in einem Becher versteckten Kugel und anderer Nahrungsmittel und Alltagsgegenstände mimende Gegenstände zur Berührung und Erforschung. Die Arbeit ist eine spielerisches Modell, welches dazu anregt, in der Berührung durch die emotionalen und psychologischen Potentiale der Objekte Bewältigungsmechanismen für individuelle Krisen und Angstzustände zu erproben. Der „Rountable of Fictives“ wird so zu einer Parabel der heilenden Kraft einer intimen wie behutsamen Kontaktaufnahme zu den Dingen.

Einen großen Gegensatz zwischen der konkreten haptischen Erfahrung und dem optischen Bild, was aus den jeweiligen ertastbaren Einzelteilen entsteht, ist die aus Bodeninstallation „Near Face of the Moon“ von Evariste Richter aus Paris, die aus einer mit der Wahrnehmung schier unfassbaren Menge einzelner Würfel besteht. Die Würfel sind mit ihren unterschiedlichen Punkten so gelegt, dass sie gemeinsam eine Art Pixel-Bild der Oberfläche des Mondes ergeben, wie er sich bei Vollmond vor der Kamera zeigt. Evariste Richters Mond steht auch für einen Sehnsuchtsort in unserer Imagination, täglich beobachtbar, aber dennoch unerreichbar. Diese Distanz können die Besucher*innen nun durch das Erspüren der minimal beweglichen einzelnen Würfel überprüfen. Die vom Nahen sichtbaren unterschiedlichen Kombinationen aus Zahlenpunkten erscheinen dabei wie ein gewaltiger Code. In „Near Face of the Moon“ kommt man so in Berührung mit Dingen, die eigentlich außerhalb der Reichweite liegen.

Angenehm gruselige Berührungsängste löst wiederum die auf einem alten Gitterbett installierte steife und verwitterte Jacke des in Bagdad und Amsterdam lebenden Künstlers Ali Eyal aus. Zahlreiche riesenhafte bunte Raupen aus Keramik bevölkern das mit Malereien bestickte Innenleben der Jacke, welches die Besucher*innen eingeladen ist, aufzudecken und zu erkunden. „Where Do the Walls of the Museum Go When They Are Forgotten“ ist das Relikt einer imaginären gescheiterten Ausstellung, deren Werke sich schon im Verfallsprozess befinden. Als Besucher*in kostet es fast ein wenig Überwindung, sich in diesem intimen Raum aus Bett und Jacke zu begeben, bis man mit Freude die ulkigen Raupen ertasten kann. Montiert auf einem hölzernem Stativ, offeriert ein transparenter Apparat, der nach einem Beispiel eines mechanischen Gerätes aus der Frühzeit des Kinos gebaut ist, die Möglichkeit zur Abhaltung einer kleinen Filmvorstellung. Bedienbar per Handkurbel, zeigt der Cinématographe „Hand to Eye“ von Antje Van Wichelen aus Brüssel hinter einem Guckloch aus Plexiglas Bilder einer sich bewegenden Filmspule. Bei dem Filmmaterial handelt es sich um historische Aufnahmen kolonialisierter Menschen, die von den Kolonialmächten zur Verdeutlichung der vermeidlichen Hierarchien zwischen den Menschen als Teil der eigenen Herrschaftsideologie angefertigt und eingesetzt wurden. In „Hand to Eye“ nimmt man so mit den eigenen Händen Teil an diesem menschenverachtendem und rassistischem Moment, welcher gleichzeitig ein Element größerer, noch gar nicht vollständig aufgearbeiteter historischer Zusammenhänge darstellt.

Kollektive Erfahrungen und das Umschreiben von Geschichte in der Gegenwart, in diesen Aspekten gibt es viele Schnittflächen zwischen dem koloniales Filmmaterial zeigendem Apparat von Antje Van Wichelen und dem aus einer kooperativen Aktion hervorgegangenem graphischen Werk „100 Hand Drawn Maps of My Country“ der indischen Künstlerin Shilpa Gupta. Von der Decke hängen breite, fast transparente Tapetenstreifen, auf denen sich ein digital gedrucktes, unendliches Gewirr sich überlagernder Umrisse ausbreitet. Trotzt des Chaos der Formen scheinen diese geschlossenen Umrisse einem System zu folgen, zeigen oft eine ähnliche Gestalt. Tatsächlich handelt es sich um Abdrucke hundert individueller Handzeichnungen, welche die Künstlerin in einem offenen Aufruf, Deutschland aus der Erinnerung zu zeichnen, von einzelnen Personen gesammelt hat. Shilpa Gupta hat schon in mehreren Ländern ähnliche Aktionen gestartet, mit denen sie erforscht, wie sich das Bild eines Nationalstaat in der Erinnerung einzelner Individuen niederschlägt und was eigentlich das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation ausmacht. Diese Idee, und das eigene Verhältnis zu Deutschland dazu, kann man durch die Berührung der Tapeten nachspüren.

Auf unterschwellige Weise laden tatsächlich viele der Positionen in „HANDS“ durch Betasten, in den Händen Halten oder Bedienen zur politischen Partizipation ein. Dies ist um so mehr war für die drei Stationen, die im Raum direkt links vom Eingang zu sehen sind. Anhand riesiger und bunt bemalter, an Marionetten erinnernden Gliederpuppen aus Holz, den „Wooden Lords“, macht Dhali Al Mamoon ein Stück globaler Kolonialgeschichte erfahrbar. Die monströs erscheinenden Kriegerfiguren sind von Puppen inspiriert, die an Erinnerung an ein kollektives Trauma der kolonialisierten Bevölkerung entstanden sind. Es handelt sich um die zwangsweisen Einziehungen vieler Männer in Kolonialheere, in denen sie schlecht ausgestattet und angeleitet, in grotesken Uniformen oft ebenso groteske Aufgaben erfüllen mussten. Wie ihre historischen Vorbilder vollführen auch die „Wooden Lords“ unnatürliche und übertriebene Bewegungen, wenn man an ihnen zieht.

Direkt neben den geschichtliche Ereignisse aufgreifenden Holzpuppen gibt es eine ebenso auf historische Zusammenhänge hinweisende Druckwerkstatt. Wer will, kann mit roter Farbe eine Plakatgroße Metalldruckplatte bestreichen und sich so sein persönliches Flugblatt anfertigen. Bereits angefertigte Exemplar liegen zum Mitnehmen in einem Trockenregal bereit. Der auf Chinesisch und Englisch verfasste, mit Illustrationen versehene Text, der an den Stil einer Zeitungseite aus dem 19. Jahrhundert angelehnt ist, ist sehr fein und nicht leicht lesbar. „Etc., Etc., Catalogue No. 5: Unintelligent Work“ ist eine Programmschrift des in Hong Kong und Wuhan ansässigen Kollektivs Propaganda Department und beschäftigt sich mit der zeitgenössischen chinesischen Interpretation von Karl Marx. Dessen einjährige Mitarbeit bei der Neuen Rheinischen Zeitung in Köln bildet die Verbindung zu der hier gewählten, das Deutungsmonopol der chinesischen kommunistischen Partei offen legenden und so subversiv politischen Aktion, an der die Besucher*innen partizipieren können.

Als nicht interaktiv konzipierte Position bildet das in einem eigenen Raum gezeigte Video „Hands: dismemberance“ der jordanischen Künstlerin und Kuratorin Ala Younis eine Art Prolog zu der Ausstellung. Durch die künstlerische Auseinandersetzung mit verblassten Erinnerungen einer frühzeitig abgebrochenen feministischen Solidaritätskampagne in Bagdad im Jahr 1992 spielen auch hier Berührungen eine Rolle, und zwar in Form eines fast körperlich scherzhaften Prozesses des Entrinnen und in die Leere Greifens.  Das Video bietet angelehnt an Gebärden aus dem Bagdader Liberty Movement (1961) eine farbenfrohe aber ebenso zerstückelte Collage aus angeeignetem Bildmaterial, darunter glitzernde Kronleuchter, architektonische Elemente, Landschaften und Körperfragmente von Abbildungen menschlicher Skulpturen. Ala Younis forscht in ihrer multimedialen, sich auf die Entstehung der modernen arabischen Welt konzentrierenden Arbeit Stimmen und Erfahrungen nach, welche von der offiziellen Geschichtsschreibung verborgen werden.

Die eindringlichste Auseinandersetzung zwischen Objekt und einem Selbst bietet für mich schließlich eine mit einer Zeitskala versehene feine Platte aus Glas. Dieses Lineal zeigt bei genauerem Hinsehen aber nicht die übliche Zahlenfolge von 1 bis 10 oder 20, sondern trägt in seiner Mitte als Nullpunkt das Jahr 2020. Von diesem Nullpunkt aus steigen die Jahre nach links ab, nach Rechts bis zum Jahr 2023 auf. „Ruler COVID-19 Calendar“ des türkischen Künstlers Cevdet Erek will auf die Bedeutung hinweisen, welche die Zeit und Systeme der Sichtbarkeit- oder eher Planbarmachung anhand eines lineares Zeitmodell in unserem Alltag spielen. Auch wenn wir kein solches Glaslineal als Gegenstand besitzen oder brauchen, um zurecht zu kommen, scheinen wir doch alle eine solche innerliche, neue Zeitskala in uns zu tragen, an die subtile Gefühle von großen Umbrüchen, verlorener Unbeschwertheit und Ungewissheit gebunden sind. Es ist Cevdet Ereks Linear, welches mir dieses Befinden das erste Mal eindrucksvoll vor Augen führt.

Mehr als eine Ausstellung ist „HANDS “ vor allem das Modell einer neuen Art des Kunstschaffens, die zu dieser distanzierten Zeit wirklich guttut. „HANDS“ bricht so durch den Anstoß zur Interaktion mit einem der zentralen Prinzipien der Kunst: bloß nicht anfassen! – auch wenn die meisten Kunstwerke weiterhin unantastbar bleiben werden. Und dennoch eröffnet die Akademie der Künste der Welt hier einen sehr bedenkenswerten neuen Weg. Warum nicht mehr Kunstwerke produzieren, die man anfassen kann? Oder fürchtet die Kunstwelt tatsächlich immer noch die Verwischung der Grenze zwischen Kunst und Kunsthandwerk? Durch die Thematisierung dieser sehr wichtigen und zentralen Fragen stößt „HANDS“ die Besucher*innen dazu an, die Welt um uns, im ganz buchstäblichen Sinne, mehr wahr zu NEHMEN.

Epilog

HANDS“ ist in Erinnerung an das Werk der deutschen Künstlerin Charlotte Posenenske (1930-1985) entstanden, einer der bedeutendsten und frühesten Vertreterinnen der Minimal Art und Konzeptkunst. Zu Charlotte Posenenske Anliegen zählte es, Kunst zu demokratisieren und Teil der breiten Gesellschaft zu machen. Mit der Serienproduktion von Werken, die ausdrücklich zur Umgestaltung durch die Käufer*innen vorhergesehen waren, destabilisierte sie das System des Kunstkapitalismus. Zu ihren heute bekanntesten Werken zählen große Installationen aus Stahlblech und Wellpappe, die zur Rekonfiguration und Umformung durch Passanten an öffentlichen Plätzen und Nicht-Orten aufgestellt werden sollten. Charlotte Posenenske ist damit einer der Pionierinnen des „Hands On“ Ansatzes in der zeitgenössischen Kunst, in dessen Sinne sich auch die Ausstellung „HANDS“ sieht.

In dem Gedanken, Kunst zugänglich für Alles zu machen, haben die Künstler*innen Multiples zu ihren Werken angefertigt. Diese Sonderausgaben entsprechen den Werken manchmal in kleinerer Ausgabe geben aber auch Bruchteile oder das Konzept der Ausstellungswerke wieder. Die Multiples sind zu einem Einheitspreis von 70€ (zzgl. Mehrwertsteuer und Versandkosten) erwerbbar.

 

 

Roundtable of Fictives. Taus Makhacheva  |  Foto: ADKDW/ Mareike Tocha

Wooden Lord. Dhali Al Mahmoon  |  Foto: ADKDW/ Mareike Tocha

HANDS. Installationsansicht  |  Foto: ADKDW/ Mareike Tocha

Where do the Walls of the Museum Go When They Are Forgotten?. Ali Eyal  |  Foto: ADKDW/ Mareike Tocha

Near Face of the Moon. Evariste Richer  |  Foto: ADKDW/ Mareike Tocha

HANDS. Installationsansicht  |  Foto: ADKDW/ Mareike Tocha